Die Welt ist Dreck

von Elena Philipp

Berlin, 21. Mai 2010. Es ist gewählt. Doch dazu später, denn bevor die Preise des Stückemarkts beim Theatertreffen 2010 verliehen werden, wird auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele als letzter Stückemarkt-Beitrag zunächst noch Claudia Grehns "Ernte" gezeigt, szenisch eingerichtet von Lisa Nielebock.

Die Polin Anna (Almut Zilcher) und ihre kaum erwachsenen Söhne Pawel (Ole Lagerpusch) und Sascha (Max Simonischek) arbeiten als Erntehelfer in Deutschland, Anna seit zehn Jahren schon. Weil sie vom Alkoholiker Marek noch ein Kind erwartet, aber eine weitere Runde als Alleinerziehende fürchtet, ist sie bei Peter (Wolfgang Michael) eingezogen. Der gabelt Lydia (Barbara Heynen) auf, eine jugendliche Prostituierte, die laut Grehns Personenverzeichnis so "zufällig in die geschichte gerät" wie in Peters Leben. Pawel, der Magda (Miriam Smejkal) geheiratet hat, weil sie schwanger war, bandelt mit der Abiturientin Lena (Smejkal) an, die als einzige Deutsche mit den Polen Äpfel erntet.

Sinnsucher, Umbruchsmenschen
Alle Figuren wollen etwas anderes als das, was sie haben: Einen anderen Job, eine andere Frau, ein anderes Leben. Aber eine genaue Vorstellung, wie dieses Leben aussehen oder sich anfühlen soll, haben sie nicht. Lena glaubt nicht an ihre Berufschancen, die sie irgendwo zwischen Call Center und der Illusion der Selbstständigkeit verortet. Pawel möchte studieren und Politiker werden, aber weder hat er das Geld dafür noch eine Idee, wofür er sich einsetzen würde. Sascha ist es egal, dass er sein Leben wie sein Auto schrottet; er redet sich ein: "knast bildet". Peter geht Zigaretten holen, wenn ihn die häusliche Enge jagt, und Anna verstrickt sich auf der Suche nach Freiheit und Sicherheit immer tiefer in die Abhängigkeit von ihren Männern.

Es sind Sinnsucher, Umbruchsmenschen, mit denen eine neue Zeit experimentiert. Sie wissen, dass sie nicht mit den nötigen Fähigkeiten ausgestattet sind, die diffusen Herausforderungen zu bewältigen. "wir werden vollgepumpt mit altmodischen werten die man so nicht mehr leben kann ... überreste aus einer weltvorstellung aus dem letzten jahrhundert", bilanziert Lena ihre Schulausbildung. Nicht alle Figuren Grehns sind so radikal wie Lydia, die über die Abschaffung des Menschen nachdenkt: Ob Krebs vielleicht der nächste Schritt der Evolution ist? "his dark and secret love / does thy life destroy", hat Grehn ihrem Stück ein Zitat von William Blake vorangestellt. Sehnsucht geht einher mit Zerstörung, und die Welt ist Dreck: "der schmutz nistet sich in den augäpfeln ein wo man ihn nicht mehr abwischen kann".

Versagen in einer brüchig gewordenen Welt
Auch wenn Claudia Grehn ihre Figuren recht realistisch anlegt, sperren sie sich gegen eine psychologische Lesart. Sie sind Begehrensmaschinen, angetrieben von Grehns Sprache. Anna und Lydia entwickeln in einer Szene fast eine Mutter-Tochter-Beziehung, aber Anna weicht Lydias Fragen, die sie an ihr Versagen erinnern, durch eine sprachliche Verschiebung aus: "hängst du die ganze zeit in dieser langeweile hier rum", fragt die junge Prostituierte. "vorhänge wollte ich neue kaufen so welche mit blumen drauf". Die Worte, an denen alles hängt...

Claudia Grehn, die seit 2005 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin studiert, gestaltet ihren Text mit allerlei Kunstgriffen. Zwischen die Dialoge schiebt sie lange Prosapassagen, die eine Vorgeschichte liefern oder Handlung schildern. Mitunter mischt sich eine Erzählerstimme ein, um die Motivation einer Figur zu erläutern; die Schauspieler können kommentierend aus ihrer Rolle heraustreten. Lyrische Sätze sind in den Text eingewoben - "sie schreit wie hundert ausgebeulte seelen" -, oftmals klingelt eine Platitüde und wird eingelassen: "das leben lenkt ab von dem eigentlichen". Die Protagonisten kleben an den Klischees, die ihre brüchige Welt kitten, und "Ernte" bleibt nahe daran.

In neun Zeilen in die Hysterie
In ihrer szenischen Einrichtung findet Lisa Nielebock, Hausregisseurin am Schauspielhaus Bochum, für den Text keine Form. Sie inszeniert konsequent an seinen Stärken vorbei, etwa wenn sie Almut Zilcher einen klar auf einen Höhepunkt zulaufenden Monolog in einem unentschiedenen, spannungslosen Singsang sprechen lässt; nichts lässt darauf schließen, dass Claudia Grehn durch geschickte Auslassung der Repliken Anna sich in nur neun Zeilen in die Hysterie schrauben lässt, weil sie nach der Geburt ihrer Tochter von zwei Männern völlig überfordert ist.

Bei Nielebock hängt jeder Satz mit bedeutungsschwerem Nachhall in der Luft, Wolfgang Michael und Heiner Stadelmann (Hermann, bei Grehn ein Steuerberater i.R.) klingen wie Märchenerzähler. Auch die Tempowechsel erarbeitet Nielebock nicht aus dem Text. Sie rhythmisiert notdürftig, indem sie die Abschnitte unter den Szenentiteln "Experiment", die das Scheitern einer Arbeitskommune schildern, von vier Darstellern im Wechsel hektisch in Mikrofone aufsagen lässt. Erde und Äpfel auf der Bühne - naheliegend.

Im Gegensatz zu manch anderen Förderinsitutionen wurden Sieger gefunden
Dem Erfolg tut das keinen Abbruch. Die Autorin fährt eine reiche Ernte ein und gewinnt den mit 5.000 Euro dotierten Förderpreis des Stückemarkts für neue Dramatik. Ihr Stück wird im Dezember 2010 am Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt. MGT-Chefdramaturgin Andrea Koschwitz lobt "Ernte" als spröde, ernsthafte Herausforderung, die "in den verzweifelten 'Experimenten' des Widerstands" von Peter, Lena oder Lydia "unsere eigenen Schwächen und unser alltägliches Versagen" trifft. Die Jury sieht den Schlusssatz von Claudia Grehn offenbar eingelöst: "Es braucht einen Ort, von dem aus das Fragen möglich bleibt, einen Ort gegen die Selbstverständlichkeit."

Radikal in Frage gestellt hatte das Theater und seine Möglichkeiten Wolfram Lotz, der erwartungsgemäß und verdientermaßen den 7.000 Euro schweren Werkauftrag erhält. Er wird für das Deutsche Nationaltheater Weimar ein neues Stück schreiben. In seiner Laudatio hofft der Weimarer Intendanten Stephan Märki auf Großes: "Die Jury schätzt Wolfram Lotz' scharfsichtigen Blick auf den Theaterbetrieb, die Komplexität mit der er das Thema des Politischen reflektiert und sich szenisch sogar für die große Bühne empfiehlt."

Das Theatertreffen ist dann auch sehr stolz auf sich und verkündet in seiner flugs verbreiteten Pressemitteilung mit Blick auf Heidelberg: "Im Gegensatz zu manch anderen Förderinitiativen kann sich der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens nicht über einen Mangel an herausragenden neuen Theaterautoren beklagen."


Stückemarkt V

Ernte
von Claudia Grehn
Mit Texten von Lena Müller
Szenische Einrichtung: Lisa Nielebock, Dramaturgie: Anna Haas, Ausstattung: Manuela Pirozzi.
Mit: Barbara Heynen, Ole Lagerpusch, Wolfgang Michael, Max Simonischek, Miriam Smejkal, Heiner Stadelmann und Almut Zilcher.

www.berliner-festspiele.de


Mehr lesen? Teil eins des Stückemarktes präsentierte die Dramatiker Julian van Daal und Peca Stefan, Teil zwei Ekat Cordes und Wolfram Lotz.

 

 

Kommentare  
Ernte, Stückemarkt Berlin: ein Umbruchs-Mensch
Diese Figur will etwas anderes als das, was sie hat:
Andere Menschen, ein anderes Leben, und eine andere Welt.
Diese Figur hat aber eine genaue Vorstellung davon, wie dieses Leben aussehen soll...
Diese merkwürdigen Frauen (denen er begegnet ist und immer wieder begegnet) auf der Suche nach Freiheit und (zugleich) Sicherheit
(eine Unmöglichkeit bei ihrer persönlichen inneren und existentiellen Unsicherheit)
verstrickt immer tiefer in die Abhängigkeit von Männern.
Diese Figur ist sicherlich ein Sinn-Sucher und ein Umbruchs-Mensch,
der mit der Neuen Zeit experimentiert, mit dem eine Neue Zeit
experimentiert.
Er ist bis oben hin vollgestopft mit zeit-fremden, rückständigen
Werten, die er SO nicht mehr leben kann (obgleich er sie doch auch leben möchte) - Überreste aus einer Wert- und Welt-Vorstellung aus dem letzten Jahrhundert (19.)
Und dieser Mensch denkt "my dark and secret love, does my life destroy" ...
Seine große Angst (seine Jugend ist vorbei):
Der allgemeine Schmutz nistet sich in den goldenen Augäpfeln der Seele ein, wo man ihn nur mehr schwerlich weg-wischen kann.
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