High noon auf der Dorfstraße

von Georg Kasch

Berlin, 28. Mai 2010. Was wäre eigentlich gewesen, wenn in Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" die Güllener Claire Zachanassian rechtzeitig um die Ecke gebracht hätten? Gut, bei ihrer Kohle hätte man den Mut erst mal haben müssen, und Eddie Seuss, der in "Die Überflüssigen" auf ähnlich unbequeme Weise ins verschlafene Kaff Lükke eindringt, besitzt davon als Werbe-Fuzzi nur überschaubare Mengen. Er stört - aber anders als Güllen hat Lükke auf Wiederbelebungsmaßnahmen von außen nicht gewartet. Also sabotieren die verbliebenen Einwohner Eddies Versuche, aus dem Kaff am Jadebusen einen Touristen-Pilgerort zu machen.

Wer sind in der Uraufführung von Philipp Löhles neuem Stück die titelgebenden Überflüssigen? Die Lükker im gesellschaftlichen Abseits? Eddie und seine Familie? Die Touristen? Löhle, gefragter Nachwuchsdramatiker und Hausautor am Berliner Maxim Gorki Theater, stellt sich dort in seinem Teil der Projektreihe "Über Leben im Umbruch" der Herausforderung, den Stillstand zu dramatisieren. Wie schon Thomas Freyer und Fritz Kater vor ihm und wie Juliane Kann, deren Stück "Fieber" in einer Woche uraufgeführt wird, setzte sich Löhle beim Schreiben mit den Ergebnissen jener Soziologen auseinander, die im brandenburgischen Wittenberge die Probleme schrumpfender Städte erforschten.

Heimat in zwei Versionen

Dabei scheitert Löhle beim Kampf um den Stoff an der Oberfläche. Klischees hüben wie drüben: Hier der coole Marketingexperte, aus dem ruckzuck ein Mann mit zwanghafter Heimat-Vision wird, dort die bräsigen wie faschistoiden Lükker, die in ihrer Abwehr gegen das Fremde und Andere zur Selbstjustiz greifen. Kapitalistischer Idealismus prallt auf utopiefreie Lethargie (für deren Erhalt die Lükker dann wieder erstaunlich aktiv werden), Selbstgerechtigkeit auf Selbstgerechtigkeit. Und natürlich reden alle immerzu aneinander vorbei.

Dass die Verweigerung des Neuen, der Wettbewerbs-Realität, des ungeschützten Raums auch eine Utopie sein könnte, wie schon Löhles früher Held Gospodin demonstrierte, erzählen zwei Exkurse: vom Bubble Boy David Joseph Vetter, der wegen einer seltenen Immunschwäche in einer Plastikblase aufwuchs. Und von Oxana Malaya, die ihre frühe Kindheit unter Hunden verbrachte. Wären beide nicht glücklicher gewesen, hätte man sie in diesem Zustand gelassen, fragt Löhle. Auf der Handlungsebene aber stehen sich nur zwei gleichermaßen unsympathische Parteien gegenüber und halten sich in einer Art ausuferndem Neo-Western-Duell in Schach. Wer da am Ende gewinnt, bleibt einem herzlich egal.

Ziegelsteine, Vorschlaghammer und Dachbodengefühl

Für die Uraufführung hat das Team um Regisseur Dominic Friedel (Jahrgang 1980) Löhles mäßig durchdachten Entwurf auf erträgliche eindreiviertel Stunden zusammen gestrichen und die gröbsten Plattheiten abgemildert. Im Gorki Studio strukturiert Friedel die undramatische Szenenabfolge durch Blacks und lässt die fünf Schauspieler vor Natascha von Steigers Tristesse-Panorama aus Dorfstraßen-Fototapete und recycelten älteren Bühnenbild-Elementen ihren Text absolvieren.

Dabei entstehen punktuell kraftvolle Bilder: Mit dem Vorschlaghammer bricht sich Eddie splitternd und dröhnend durch eine Ziegelwand, während die Leute davor ihre Bank einfach um ein paar Meter versetzen. So schnell lässt man sich in Lükke nicht aus der Ruhe bringen. Und dass die Karriere ein Liebestöter sein kann, zeigt Friedel, wenn Eddie und seine Werbe-Kollegin beim Kussversuch in den tragbaren Litfasssäulen zueinander nicht kommen können.

Private pragmatische Lösungen

Während Robert Kuchenbuchs Eddie, Gunnar Teubers selbsternannter Dorfsheriff Chris und Horst Kotterbas Fitz (Pastor und Beerdigungsunternehmer in einem) selten über die papierene Plastizität ihrer Vorlagen hinausgehen, wirkt bei Sabine Waibel ausgerechnet die Kapitalismus-Institution Bank (und ihre Entsprechung, Eddies ehrgeizige Kollegin) erstaunlich sympathisch. Im adretten Kostümchen hantiert sie nervös mit zwei Brillen, versucht, dem bankrotten Eddie seine fixe Idee auszureden und formuliert ihre eigene Utopie: "Filiale, Familie, Ferienwohnung". Auch keine gesellschaftliche Lösung. Aber eine pragmatische.

 

Die Überflüssigen (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Dominic Friedel, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Karoline Bierner, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Ninja Stangenberg, Sabine Waibel, Horst Kotterba, Robert Kuchenbuch, Gunnar Teuber.

www.gorki.de


Mehr zu Inszenierungen, die bisher im Rahmen des Spielzeit-Projekts "Über Leben im Umbruch" am Berliner Maxim Gorki Theater entstanden sind: Anfang Mai hat Armin Petras We are blood uraufgeführt. Und Nora Schlocker inszenierte im Januar 2010 Im Rücken die Stadt von Thomas Freyer.

 

Kritikenrundschau

Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (31.5.2010) ist Lükke - der Ort, in dem Löhle sein Stück ansiedelt - "ein Wirklichkeit gewordenes depressives Fantasma: eine lieb gewordene Heimat des Scheiterns, des Nichtgemeintseins und präventiven Vermeidens aller Erwartungen". Löhle verstehe es, das "Einsickern der Trägheit der Materie ins Denken sichtbar zu machen; versteht es, mit hauchdünnen Strichen das Groteske in jeder Person zu finden." Widersprüche würden sich "feinhumorig durch Löhles Figuren und ihre Realitätsversponnenheit" schlängeln. "Doch auf der Bühne, die ein treffend zusammengeklebtes Panorama städtebaulichen Verfalls vorstellt, ordnet Regisseur Dominic Friedel alles in allzu klare Fronten zurück. (...) statt des dämonischen Witzes, der ihren menschenfreundlichen Widerstand immer auch in -unfreundliche Zerstörung umschlagen sieht, packt Friedel sie vor allem in Resignation."

Philipp Löhle lasse hier wieder einmal einen Träumer an der Realität scheitern, so Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (30.5.2010). Als "Western nach wahren Begebenheiten" bezeichne Löhle das Stück und "lässt es beginnen mit der klassischen 'Spiel mir das Lied vom Tod'-Szene: einsamer Bahnhof, ein Fremder, der aus dem einzigen Zug am Tag steigt." Doch Dominic Friedel nehme das Angebot nicht an, "er versucht, alles in der Schwebe und damit im Ungefähren zu halten". Fazit: "Das Stück, vor allem das kleine Päckchen sozialen TNTs darin, wird in Watte verpackt. Das ist, nicht nur für Sprengstoffexperten, ein wenig zu wenig."

"Löhle geht Schelmen-Spaß und einer Lust am Absurden nicht aus dem Weg und breitet doch einen Hauch Trauer über das zurückgestutzte Dasein in dem verfallenen Ort", so Christoph Funke im Tagesspiegel (30.5.2010). Im Gorki Studio gelingt Dominic Friedel das unwirkliche Warten im allgegenwärtigen Verfall in deutliche Bilder umzusetzen. "Alle Wände atmen Vergangenheit, Abbruch, Moder und Staub. Das Vorläufige bestimmt das Zueinanderkommen der ehemaligen Schulkameraden, die Eddie vergeblich aufzumischen versucht." Die Schauspieler "machen aus den nur angerissenen Charakteren ihrer Figuren Menschen, die sich einprägen."

Auch Frank Dietschreit kann in der Märkischen Allgemeinen (31.5.2010) Löhles Text etwas abgewinnen: "Philipp Löhle hat seine ostdeutschen Erfahrungen und Erlebnisse in ein ebenso eigenständiges wie großartiges Drama gefasst, das traumsicher zwischen hintergründiger Farce und aberwitziger Komödie schwankt." Zur Inszenierung äußert er sich nicht.

"In Philipp Löhles hübscher Farce 'Die Überflüssigen' stoßen Welten und Weltsichten auf engstem Raum sehr amüsant zusammen und ergänzen die Frage, wer eigentlich überhaupt noch auf dem Gebiet der einstigen DDR leben kann und will, um neue, gemein-witzige Facetten", befindet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.6.2010). Schönste Ironie macht sie im Text aus und kann als Zuschauerin beiden Seiten etwas abgewinnen, den Dörflern wie dem Eindringling. Weniger einverstanden zeigt sie sich mit der Inszenierung: "Traurige russische Weisen aus dem Radio und zwischen den Szenen unaufhörliche Regengeräusche geben viel mehr an depressiver Atmosphäre vor, als Löhle für seine ausgemacht absurden Szenen braucht."

Mit dem Stücktitel knüpfe Löhle an die "Debatte um sozialen Ausschluss an", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (9.6.2010). "Soziologen sprechen von Exklusion versus Inklusion." Sympathischerweise verzichte der Autor auf den "theaterüblichen Sozialkitsch" und zeichne "seine mürrischen Provinzler weder als derangierte Opfer der Verhältnisse noch als glückliche Arbeitslose, sondern gibt ihnen eine etwas dumpfe Würde". Auch wenn diese Figuren "nicht frei von Klischees sind und die Dialoge gelegentlich etwas holpern", ist Löhles "melancholische Komödie" für Laudenbach "sympathisch unprätentiös". Dominic Friedel habe das Ganze "unverschnökelt und ohne übertriebenes Kunstwollen inszeniert".

 

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