Auf der großen, leeren Weltenbühne

von Dina Netz

Bonn, 28. Mai 2010. Eifersucht. Krieg. Utopieverlust. Rache. Generationenkonflikt. Treue. Zivilisation. Mut. Ideale. Liebe. Das ist nur eine kleine Auswahl der Themen von Tankred Dorsts Drama "Merlin oder Das wüste Land", uraufgeführt 1981. "Merlin", das sei "eine Synthese aus allem, was ich bisher gemacht habe", wird Tankred Dorst im Programmheft zitiert. Das Suhrkamp Taschenbuch mit dem Stücktext hat 304 Seiten. Es hat schon Inszenierungen gegeben, die zwei Abende dauerten, die meisten brauchen einen sehr langen Abend – da sind die knapp vier Stunden, auf die David Mouchtar-Samorai das Stück nun in Bonn bringt, geradezu rekordverdächtig verdichtet.

Tankred Dorst erzählt in "Merlin" die Artussage auf seine Weise: Der Zauberer Merlin, zwiegespaltener Sohn des Teufels, stiftet Artus an, die Tafelrunde und damit die Utopie von einer gerechten Weltordnung zu begründen; der reine Tor Parzival stößt dazu; zwischen Königin Ginevra und Ritter Lancelot entspinnt sich eine Liebesgeschichte; Artus' Sohn Mordred sinnt auf Rache an seinem Vater, der ihn wegen einer bösen Prophezeiung ertränken wollte; die Ritter ziehen aus auf Gral-Suche; am Schluss blickt Artus über die Toten und "das wüste Land". Und mit all dem stellt Dorst die auf Brecht anspielende Frage: "Wofür lebt der Mensch?"

Werden auch Ideen alt?
David Mouchtar-Samorai hat dieses Menschheitsdrama für die Aufführung in Bonn stark eingekürzt, und zumindest der erste Teil ist noch recht kurzweilig: Jeder Szenenwechsel wird mit einem Liedchen markiert, das die Ritter (der Kokosnuss, möchte man ergänzen) gern auch mit Federboa und Wagenradhüten geschmückt darbieten. Ein über der Bühne eingeblendeter Kernsatz (oder ein Schlüsselwort) bringt die Szenen jeweils auf den Punkt wie "Sie sagte die Wahrheit" oder schlicht "Schlafzimmer".

Dabei sind die Szenen so knapp und wechseln so flott, dass man sich in einer Vorabend-Soap glaubt: Die Männergespräche der Frauen könnten aus der "Brigitte" stammen. Die Ritterunde wirkt wie ein Stammtisch testosterongesteuerter Machos. Über das Ende aller Kriege beraten sie zwischen zwei Saunagängen, lässig ein Handtuch um die Hüften geschwungen. Den großen Sätzen und Utopien vertrauen sie nicht mehr.

"Nie wieder werde ich so glücklich sein", sagt Lancelot (Thomas Ziesch), als er Königin Ginevra (Verena Güntner) vernascht hat. Er sagt es wie eine düstere Prophezeiung, aber auch so trocken und kühl, als glaube er dem Glück nicht. "Werden Ideen auch alt?" fragt Artus (Guido Gallmann) schwach. Und kennt die Antwort längst.

Die Ritter sind am Ende der Utopien und Hoffnungen - und mit ihnen auch das kathartische Theater, will David Mouchtar-Samorai in diesem Moment vielleicht sagen. Denn diese komisch-knallige Merlin-Soap lässt im ersten Teil ziemlich kalt. Nach der Pause dagegen wird weniger gewitzelt und getanzt (eine sehr komische Papst-Parodie von Wolfgang Rüter ausgenommen), die Inszenierung ist mehr bei Dorst und damit schwerer, aber auch berührender.

Es rollen keine Köpfe, nur Ideale
Merlin ist hin- und hergerissen zwischen Gut und Böse. Artus leidet daran, dass er "Gerechtigkeit, eine neue Ordnung" wollte und sein Lebenswerk von der raffgierigen Jugend zerstört sieht. Die Affäre von Lancelot und Ginevra wird entdeckt; er rettet sie vom Scheiterhaufen, wird verstoßen; Artus zieht in den Krieg gegen Frankreich; Mordred ruiniert in seiner Abwesenheit den Hof; Artus bringt den Sohn bei seiner Rückkehr um.

Die finale Schlacht wird, wie alle Kampfszenen, nur von einem Schauspieler erzählt, während alle anderen am Boden sitzen und ins Publikum schauen. In Bonn rollen keine Köpfe, nur Ideale. Eine für die Schauspielerleistung typische Szene übrigens, denn David Mouchtar-Samorai hat sie zu einer beeindruckenden Arbeit in einem Team von Gleichberechtigten angestiftet. Nur Bernd Braun als gepeinigter Merlin ragt mit seinem halbteuflischen Irrsinn heraus – aber er ist ja als Einziger auch kein Ritter.

Darf eine Rezension das Schluss- und damit gewichtigste Wort dem Bühnenbild widmen? In diesem Fall muss sie es geradezu, denn Heinz Hausers Bühne erst macht diese "Merlin"-Inszenierung richtig schlüssig. Er hat mit minimalen Mitteln gearbeitet, auf dem Bühnenboden liegen herabgefallene bunte Herbstblätter, in den Boden sind fünf angespitzte Metallstangen gerammt. Die kann man nach Bedarf im Kreis einstecken (Tafelrunde), diagonal über die Bühne verteilen (Gitter) oder unter den Arm klemmen (Speer). Ein paar Laken symbolisieren das Schlafzimmer, in Merlins Traumsequenz ploppen plötzlich Blumen aus dem Boden.

Sonst sind die Schauspieler ziemlich allein auf der großen leeren Weltenbühne.

 

Merlin oder Das wüste Land
von Tankred Dorst, Mitarbeit Ursula Ehler
Regie: David Mouchtar-Samorai, Bühne: Heinz Hauser, Musik: Ernst Bechert, Kostüme: Urte Eicker, Licht: Thomas Roscher, Dramaturgie: Stephanie Gräve.
Mit: Bernd Braun, Guido Gallmann, Verena Güntner, Arne Lenk, Konstantin Lindhorst, Nico Link, Maria Munkert, Anas Ouriaghli, Raphael Rubino, Wolfgang Rüter, Thomas Ziesch.

www.theater-bonn.de

 

Der Regisseur David Mouchtar-Samorai, 1942 in Bagdad geboren, in Israel aufgewachsen und seit über 30 Jahren in Europa als Theater- und Opernregisseur arbeitend, inzenierte u.a. 2009 am Landestheater Linz Goethes Faust, und zwar der Tragödie erster Teil.

 

Kritikenrundschau

"Märchen mit Musicalanklängen und Effektzauber. Ein philosophischer Essay über Schopenhauer, Nietzsche und andere. Oder doch ein psychologisches Kammerspiel? So richtig kann sich der Regisseur nicht entscheiden", findet Gunild Lohmann im Bonner Generalanzeiger (31.5.2010). Da werde in einem Augenblick groß geliebt und gelitten, und einen Moment später tagt die halbnackte Tafelrunde im Dampfbad. Wo eben noch Excalibur aus dem Stein gezogen werde, ploppen plötzlich allerliebste Waldblumen aus dem Bühnenboden. Und wenn die Figuren ohne Vorwarnung in die Farce hinübergleiten, hätten sie kurz zuvor noch mit rührender Schlichtheit den Fortgang der mythischen Handlung erzählt. "Die Inszenierung kann sich Sprunghaftigkeit leisten. Aber nur deshalb, weil alle Mitglieder des groß besetzten Ensembles die disparaten Szenen mit ihrer Darstellungskunst zusammenbinden." Präzise Gesten, durchdachte Mimik und eine bis ins Kostümdetail treffliche Figurenzeichnung würden einen Abend tragen, der ansonsten trotz aller Striche immer noch zu lang wäre.

 

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