Die Stille im Riss der Zeit

von Ralph Gambihler

Dresden, 28. Mai 2010. Sachsen ist nicht unbedingt der Mittelpunkt der Theaterwelt, manchmal kommt es einem aber vor, als sei in Sachsen die weite, in sich zersplitterte Welt der Regieauffassungen en miniature verdichtet. Der Blick auf zwei "Kirschgärten" aus der laufenden Spielzeit zeigt deutlich die Gegensätze. Wo Sebastian Hartmann in Leipzig die Tschechow-Figuren in den Ruhestand schickt, den Text reihum sprechen lässt und damit die Handlung ins Echohafte auflöst, nähert sich der Dresdner Hausregisseur Tilmann Köhler Tschechows Gutsbesitzerfamilie mit dem freundlichen Ernst und der Neugier desjenigen, der diesen Menschen erst einmal begegnen möchte. Sein "Kirschgarten" ist, pathetisch gesprochen, eine verhaltene Tschechow-Hommage. Wie geht das aus?

Ein Standbild. Stille. Blicke. Als habe der Fotograf aus einem längst vergangenen Jahrhundert zur alljährlichen Ablichtung gerufen, versammelt sich die Familie samt Bediensteten wie auf Kommando vorne auf der Bühne, gruppiert sich um die Dame des Hauses, die als einzige auf einem Stuhl Platz nimmt, um schließlich einige sehr gedehnte Augenblicke in Reglosigkeit zu verharren. Die Körper atmen. Sie sind da. Und doch verströmen sie den Anschein des Vergangenen. Mit diesem Gruppenbild, das sich im weiteren Verlauf des Abends zweimal wiederholen wird, beginnt die Inszenierung. Still. Erwartungsfroh. Ans Gestern rührend.

Elegisch-sehnsuchtsvolle Duette ...
Der Raum von Köhlers Lieblingsbühnenbildner Karoly Risz ist von gediegenem Minimalismus: an den Wänden alles verschluckendes Schwarz, dazwischen nur zwölf Holzstühle und ein kleiner Beistellschrank, letztes Mobiliar, umgeben von allerhand Leere. Ganz vorne gibt es eine vorgelagerte, an einen Tanzboden erinnernde Spielfläche, die drehbar ist und in deren Parkettpaneelen sich gegen Ende mit dumpfen Schlägen das Beil des Kirschbaumfällers senkt. Das einzige Zeichen von aristokratischem Pomp ist ein Prachtlüster. Der aber hängt nicht einfach von der Decke herab, sondern ist mit einem Seil bedrohlich weit nach rechts verzogen, so dass er jeden Moment wie eine Abrissbirne über die Bühne sausen könnte. Ein schönes Bild für Überkommenheit.

Der impulsive Bildermacher Köhler inszeniert den Text diesmal überraschend bildarm. Wie eine Partitur eigentlich, mätzchenfrei und konzentriert, eher schreitend als stürmend, ohne Brechung oder aktualisierende Aufladung, freilich mit Ausbrüchen und zwischendurch atmosphärisch angewärmt durch die elegisch-sehnsuchtsvollen Duette, die eine Gitarristin und ein Klarinettist zauberisch in die Luft legen.

.... bisweilen steigt Tschechow-Weihrauch auf
Die Inszenierung braucht allerdings, bis sie Frische und Kontur gewinnt. Vor der Pause, wenn Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, die liebenswerteste Bankrotteurin der klassischen Moderne, mit ihrer Tochter Anja aus Paris zurückkehrt, um ihrem Pariser Leben fern zu sein und am Stammsitz vielleicht doch noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist, steigt bisweilen Tschechow-Weihrauch aus den Szenen. Die Begrüßungsarien, Gajews Rede an den Schrank, der Müßiggang - das alles ist ein bisschen texttreuherzig und klein geraten.

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v. l. nach r.: Christine Hoppe, Ines Marie Westernströer, Wolfgang Michalek, Ina Piontek im "Kirschgarten" © Matthias Horn

Groß ist aber die Stille dazwischen. In der Stille liegen starke Momente dieses vom Premierenpublikum warm aufgenommenen Abends. Köhler erzählt das ewige Stück vom Riss in der Zeit, vom Nichtwegwollen und vom Weichenmüssen. Er überlässt das Feld dabei den Darstellern, die müssen es alleine machen, als Ensemble. Und sie gewinnen Intensität und Spielkraft, je mehr die Hauptfiguren in ihrer Haltlosigkeit und Verlorenheit rotieren.

Bis der Lüster durch den Raum schwingt
Die Dame in diesem Gruppenbild braucht, wie sich spätestens beim Ball erweist, dringend ein emotionales Exil. Christine Hoppe zeigt das sehr schön als fragile, herzenswarme, düster umwölkte Ranjewskaja, die viel zu oft und viel zu lang in Männeraugen schaut, Männerwangen streichelt, Männerarme um sich garnt. Sie ist sehr zärtlich und vertraut mit ihrem Bruder Gajew (ein etwas schlangenhafter Schwätzer und Nichtstuer: Wolfgang Michalek), der auch als Ersatz-Ehemann durchgehen könnte.

Sie küsst leidenschaftlich den ewigen Studenten Trofimow (ein lieber Heißsporn: Philipp Lux), der sie sowieso ständig anschaut. Und auch Lopachin (ein ob seines Erfolges eher nachdenklicher als auftrumpfender Selfmademan: Matthias Reichwald) ist ihr manche Tuchfühlung wert. Die Sehnsucht in der Verlorenheit ist die Straße, auf der diese Figuren wandeln – bis zum finalen Abschied vom Gutshof, bei dem der Lüster dann doch noch durch den Raum schwingt, sehr langsam und gravitätisch, mehr wie ein Riesenpendel als eine Abrissbirne.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsch von Ulrike Zemme, bearbeitet von Elisabeth Plessen
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Christine Hoppe, Ines Marie Westernströer, Ina Piontek, Wolfgang Michalek, Matthias Reichwald, Philipp Lux, Thomas Eisen, Cathleen Baumann, Fabian Gerhardt, Antje Trautmann, Ulrich Anschütz, Matthias Luckey.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr zu Tilmann Köhler im nachtkritik-Archiv, dessen Bestände das Glossar strukturiert.

 

Kritikenrundschau

Tilmann Köhler habe "einen unaufgeregten und sehenswerten 'Kirschgarten'" inszeniert, schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (31.5.2010): "Seine dezenten Bilder lassen Raum zum Mitleiden und Mitlachen, zum Nachdenken und Zuhören, keine Textverzerrungen oder Videosequenzen peppen das Stück auf." Obwohl sich "die Geschichte sehr wohl als eine Parabel auf das vor sich hin krepierende Wirtschafts-Europa lesen" lasse, verzichte Köhler "fast gänzlich auf Aktualisierung." Stattdessen schaffe er es "grandios, dem Verstreichen der Zeit Raum zu geben. Auf dem hölzernen Quadrat, das mal Kinderzimmer, dann Tanzboden, später den Kirschgarten selbst darstellt, verdichtet sich die Zeit zu fast traumartigen Sequenzen".

"Sehr stückgerecht, ganz auf die Schauspieler konzentriert und zu Recht mit viel Beifall bedacht", habe Köhler den "Kirschgarten" inszeniert, meint Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (31.5.2010). Die Schauspieler bedienten "keine Klischees, sondern setzen sich mit Hingabe der vorgegebenen Situation aus, hören in sich hinein und interpretieren den Text in einer sehr individuellen, heutigen Diktion." Wie in einem Jazzkonzert komme "jeder zu seinem Solo, selbst wenn es dramaturgisch nicht zwingend erscheint. Aber aufklärerische Potenz hat es". Und "ohne vordergründige Aktualisierung werden wir durch eine Zeitschleife gezogen, und die Ebenen kommentieren sich gegenseitig."

"Mit Respekt und Bescheidenheit hat Köhler sich Tschechow genähert", findet Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (1.06.2010). Sie lobt Köhlers poetische Bilder und sein Beim-Wort-nehmen des Textes. Preis gebühre auch den Schauspielern: "Selbstvergessen und verloren sind sie alle. Schön ist da die Tatkraft, mit der Köhlers Ensemble Theater macht. Quasi per Hand, wenn die Schauspieler die Holzdrehbühne anschieben, und ganz theaterbodenständig, wenn sie den Hof grunzen und das Morgengrauen erzwitschern lassen. Bei Köhler dürfen Live-Musiker nicht fehlen, die mit Gitarre und Klarinette die melancholische Saite zum Klingen bringen, die später symbolisch reißt."

 

 

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