Lolita lebt hier nicht mehr

von Christian Rakow

Bochum, 29. Mai 2010. Es gab ja schon Intendanten, die sich mit Ibsens "Nora" ihren Weg freigeschossen haben. Thomas Ostermeier zum Beispiel, dessen Ägide an der Berliner Schaubühne 2002 mit Anne Tismer in der Titelrolle und einem pistolenkrachenden Finale überhaupt erst richtig Fahrt aufnahm. Für Elmar Goerden markiert das frühmoderne Emanzipationsdrama den Abschied aus seiner fünfjährigen Leitung des Bochumer Schauspielhauses. Eher gedämpft und texttreu lässt seine Nora zum Abschied die Bühnentür knallen. Ob auch hier ein Weg ins Freie angebahnt wurde, muss die Zukunft zeigen.

Einstweilen nimmt sich diese Inszenierung wie ein Resümee aus. "Dass dies alles bald verschwunden sein wird...", räsoniert Benno Ifland in der Rolle des kranken Hausfreundes Dr. Rank kopfschüttelnd und wandert mit seinem Blick sinnfällig an den Saalwänden entlang. "Nichts bleibt, nur ein leerer Platz, den jeder Erstbeste wieder ausfüllen kann." Wenn das kein Gruß an den anrückenden Intendanten Anselm Weber ist.

Theatrale Power-Point-Präsentation
In einer weißen Penthousebühne (von Silvia Merlo und Ulf Stengl) kostet Jungschauspielerin Marina Frenk (Jahrgang 1986) energetisch die Verpuppung ihrer Nora aus. Unter einer schwarzen Asiatinnen-Perücke, in violettem Dress wirft sie sich launisch in die Couch, umgarnt lolitagleich die verschiedenen Männer oder kanzelt den Erpresser Krogstad schnippisch ab. Immer wieder verliert sich dabei ihre Stimme im riesigen Rund, was spätestens beim Aufeinandertreffen mit dem ebenso hektisch wie nachlässig artikulierenden Krogstad von Ronny Miersch zum echten Akustikproblem des Abends anwächst. "Nächstens müssen wir Hörgeräte mitnehmen", kommentierten zwei Damen in der zwölften (sic!) Reihe.

Es ist weniger ein kontinuierlich durchpsychologisierter Ibsen-Abend, denn so etwas wie eine theatrale Power-Point-Präsentation. Einzelne Schauspielfolien rauschen rein und weichen alsbald der nächst besten. Krogstadt profiliert sich durch Muskelkrafteinlagen am Esstisch oder einen Kopfstand auf dem Sofa. Wenn Nora erregt ist, hämmert sie auf ihr Klavier ein. Wo die Gespräche leise Intimität nahe legen, wirft man sich dem Gegenüber an den Hals. Damit wir das Verhältnis zwischen Nora und ihrem bevormundenden Mann Helmer besser verstehen, kehren die beiden in greller Klamotte vom Kostümball wieder: Nora mit Afro-Nacktheit im Baströckchen à la Josephine Baker, Helmer als Kolonialoffizier.

Am Ende ein imposantes Bild
Das alles ist szenische Instantkunst, verdaulich, aber wenig nachhaltig. Sie illustriert Momente und kümmert sich um größere Bögen eher weniger. So klickt sich Marco Massafra, der mit seinem sanguinischen Naturell Helmer von vornherein als olle Lachnummer betont, durch das Finale: Erst kommt der Drohbrief Krogstads und Helmer bricht sogleich aufs Aggressivste den Stab über Nora (beflügelt von einer bisweilen recht ordinären Textfassung, in der "Halt du mal dein Maul" noch zu den milderen Wendungen zählt). Dann wird die Drohung zurückgezogen und Helmer ist mir nichts, dir nichts wieder lammfromm, eher Buchhalter denn leitender Bankangestellter. Das muss wohl digitales Schauspiel sein: Übergänge und Mittellagen sind einfach weggeschnitten.

Nichtsdestotrotz. "We don't look back in anger", steht wie in unsichtbaren Lettern über diesem Abend. Und also hält er nach gut zwei Stunden Spieldauer noch ein imposantes Bild bereit: Zum virtuell letzten Vorhang erhebt sich beinah dar ganze, vollbesetzte Saal des Schauspielhauses, um Elmar Goerden und seinem Team au revoir zu applaudieren.

 

Nora
von Henrik Ibsen
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel, Fassung Elmar Goerden
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner.
Mit: Marco Massafra, Marina Frenk, Benno Ifland, Jele Brückner, Ronny Miersch.

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Elmar Goerden und seiner Bochumer Intendanz im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Elmar Goerden übersetzt das Ehedrama in die (Umgangs-)Sprache des Jetzt", schreibt Britta Heidemann im WAZ-Portal Der Westen (31.5.2010). Der Herr Bankdirektor Torvald Helmer ist ein karierter Spießer, seine Nora ein Girlie mit Pagenkopf-Perücke, das Kaufrauschwaren heran schleppe, und ein Stofftier namens Lolo lasse Assoziationsalarm schrillen, "als Lulu, als Lolita hat Nora sich selbst gefunden?" Dennoch erzähle Goerden akribisch die bekannte Geschichte: wie Nora von Anwalt Krogstad erpresst wird, von dem sie einst Geld lieh, wie alles auffliegt.

In den Ruhrnachrichten (31.5.2010) schreibt Bettina Jäger, Goerden verwandle das Drama einer Ehe in eine Vivisektion der bürgerlichen Mittelschicht. Noras Tüte platze fast vor Einkäufen, an der schicken Sonnenbrille baumelt noch das Preisschild. "Das oberflächliche Schnuckelchen ist allerdings an einen Erbsenzähler geraten. Marco Massafra spielt Ehemann Torvald Helmer als unangenehmen Yuppie. Seine Koseworte für Nora sind reiner Reflex, Geld heißt hier der wichtigste Begriff." Einmal halte das Paar in dem auf Stelzen gesetzten Wohnzimmer inne und schaue furchtsam in den Abgrund. "Marina Frenk (spricht etwas leise) und Marco Massafra zeichnen gekonnt, aber manchmal etwas zu gekünstelt eine durch und durch poröse Beziehung." Die Inszenierung habe aber überraschenderweise noch ein anderes Zentrum: Jele Brückner als Jugendfreundin Kristine Linde, "eine Frau, die nichts mehr besitzt außer dem Mut, mit dem Erpresser Nils Krogstad einen Neuanfang zu wagen. Wie sie sich ihm anbietet und immer wieder mit dem Fuß aufstampft, um Haltung zu bewahren, das ist bewegende Darstellungskunst."

"Ein Mangel an Leben war das große Defizit fast aller Inszenierungen Elmar Goerdens am Bochumer Schauspielhaus", schreibt Stefan Keim in der Welt (1.06.2010). Das gelte auch für "Nora", der jegliche Innenspannung fehle: "Wieder ist es ein leiser und leidenschaftsloser Abend, der die Möglichkeiten des Stückes nur andeutet."

"Am Schauspielhaus Bochum gelingt Elmar Goerden das Kunststück, mit seiner letzten seine wohl beste Inszenierung vorzulegen," schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5. Juni 2010). Erst jetzt, da ihn die Intendanz nicht mehr belastet, findet der Regisseur aus Sicht des Kritikers "jene Dichte und Gelöstheit, die er so oft vermissen ließ". Auf diesem Weg bringe er eine Aufführung von Ibsens "Nora" zustande, "als ginge es nicht nur um die Befreiung der Titelheldin, sondern auch um seine eigene". Auch die vierundzwanzig Jahre junge Marina Frenk in der Titelrolle wird für Rossmann zur Entdeckung: "Eine Kindsfrau mit schwarzem Pagenkopf und im violetten Minikleid; ein bunter Kolibri, der sich wohl fühlt im goldenen Käfig."

In der Süddeutschen Zeitung (7.06.2010) lässt Egbert Tholl noch einmal die kurze Intendanz Elmar Goerdens Revue passieren, um sie dann mit Ibsens Drama zu verknüpfen. Goerden kehre "mit dieser Inszenierung zu einer ihm eigenen Kunst zurück, wegen der er einst Oberspielleiter am Bayerischen Staatsschauspiel und in Folge davon Intendant in Bochum wurde: die subtile Verunsicherung des Bürgertums rein mit den Mitteln des aufzuführenden Textes." Tholl preist die Darsteller der Nora und des Helmer, Marina Frenk und Marco Massafra, und erkennt: "Das Resümee fällt nüchtern aus, die Ehe zerfällt lapidar wie so viele Beziehungen: Wenn es keinen Zauber und kein Wunder gibt, muss man auch nicht zusammenbleiben.”


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