Sing ich von Deutschland in der Nacht

von André Mumot

Göttingen, 29. Mai 2010. "Die Deutschen nämlich", ätzt Werner Bräunig, "sind ein sangesfreudiges Volk, und gar hoch achten sie die kernige Poesie ihrer neueren Volkslieder." Eines davon, aus der "Dichterliebe", gibt Philip Hagmann an diesem Abend von sich. Nackt ist er dabei und bedeckt krampfhaft seine Scham. Eben haben ihn noch die Nazi-Matronen herumgeschubst, eben ist er noch erniedrigt und verhöhnt worden. Und nun spuckt er bitter Heines Worte aus, und man weiß: Nicht an irgendeine Liebste sind sie gerichtet, sondern an Deutschland selbst: "Ich sah dich ja im Traum/ und sah die Nacht in deines Herzens Raum." Und dann wieder und wieder, schneller und schneller, der konvulsivische, kaum glaubhafte Refrain: "Ich grolle nicht. Ich grolle nicht."

Gemeint ist das Deutschland der unmittelbaren Nachkriegsjahre, das so voll ist mit Ruinen und Traumata und durch das rastlos die Verdränger und die Wiederaufbauer ziehen. Werner Bräunig hat all das in den 60er Jahren von der DDR aus zum Thema seines Romans "Rummelplatz" gemacht. 700 Seiten, die der SED nicht geheuer waren und nicht gedruckt werden durften, die man aber kürzlich als große Entdeckung aus der Versenkung geholt hat.

Aufgebaute Ruinen, verdrängte Traumata

Nach Armin Petras wagt sich nun auch Christina Friedrich an eine Adaption. Oder doch nicht ganz: Nur als thematische Anregung braucht die Regisseurin den Roman und hat für ihre Göttinger Inszenierung sowohl Narration als auch jeden Dialog über Bord geworfen. Stattdessen entwickelt sie einen knapp zweistündigen Reigen aus Tanz und Gesang, aus Sinn- und Blick- und Berührungsbildern, und legt aus dem Off nur einige wenige Bräunig-Texte als atmosphärische Stichworte übers Geschehen.

In der Alltagskleidung unserer Tage kommen die Schauspieler (samt überaus diszipliniertem Jagdhund) auf die Bühne, wo bereits ein ausgestopftes Rehkitz, einige Holzscheite und ein angedeuteter Bergbauschacht auf sie warten. Weil sich große Teile der Vorlage in der Wismut zutragen, wo seinerzeit Uranerz gefördert wurde, legt das Ensemble rote Halstücher um, setzt Russenmützen auf und schuftet. Oder kippt flaschenweise Bier, versucht, ausgelassen zu sein, springt und lacht und tanzt über den Rummel, weint und ermüdet, arbeitet weiter, baut auf. All das penibel choreografiert und begleitet vom "Deutschen Requiem" oder der "Wachet auf"-Kantate von Bach.

Sturm und Groll einer Generation

Später schunkeln auf einer Leinwand die Wehrmachtssoldaten, während sich Daniel Sellier ein schwarzes Abendkleid überstreift und "Davon geht die Welt nicht unter" schmettert. Das Deutschlandlied schallt der Internationalen entgegen, und wo eben noch die Hitlergrüße ausgetauscht wurden, stürzt sich im nächsten Moment eine aufgekratzte Jugend in den Boogie-Woogie. Und dann das Blutvergießen vom 17. Juni 1953: Alles stürmt, jemand stürzt. Danach ein neues Lied aus dem Wunderhorn der oppositionellen Ideologien.

Solche Vignetten von deutscher Seele und deutscher Kultur sind wahrlich nicht neu, ihre suggestive Verknüpfung aber schlägt faszinierende Assoziationsfunken. Wie bei Bräunig erscheinen die "Spätgeborenen des großdeutschen Schlussverkaufs" in Christina Friedrichs musikalischem Panorama als sich verzweifelt Häutende, die orientierungslos nach neuen Verkleidungen haschen und nach neuen Hymnen. Diese Deutschen wollen wieder jemand sein: Herrenmensch oder Arbeiter, Kapitalist oder Kommunist - irgendwas. Oder wie es im "Rummelplatz" heißt: "Da saßen sie nun und suchten den entgötterten Himmel ab, suchten die Abenteuer und den enormen Wind, und suchten in Wahrheit ein Vaterland."

Und ein chorisches Freude schöner Götterfunken

Ja, die Suchenden: Es ist das mit gewaltigem Körpereinsatz auftrumpfende Ensemble, das aus dem deutschen Identitätsverlust der Stunde Null ein beeindruckend vitales und differenziertes Menschentheater macht - und am Ende sehr konsequent die Zuschauer dazu auffordert, beim "Freude schöner Götterfunken" mit einzustimmen - in eine letzte Utopie.

Das Publikum aber schweigt, bevor es applaudiert. Das Mitsingen kann ja später stattfinden. Denn wie es der Zufall will, wird Deutschland wenige Stunden später im fernen Oslo einen internationalen Liederwettbewerb gewinnen. Es kann sich also mal wieder über sich selber wundern und vielleicht auch etwas verschämt denken: Jetzt sind wir wieder wer. Was immer das dann auch bedeuten mag.


Rummelplatz
nach dem Roman von Werner Bräunig, Bühnenfassung von Christina Friedrich
Regie: Christina Friedrich, Ausstattung: Susanne Uhl, Dramaturgie: Miriam Reimers
Mit: Benjamin Berger, Johanna Diekmeyer, Jacqueline Füllgrabe, Johannes Granzer, Philip Hagmann, Hans Kaul, Karl Miller, Alois Reinhardt, Daniel Sellier, Ronny Thalmeyer, Andrea Strube, Marie-Isabel Walke, Hans Kaul, Frau Holle (Der Hund).

www.dt-goettingen.de

 

Im Januar 2009 hat Armin Petras am Berliner Maxim Gorki Theater seine Theateradaption von Werner Bräunigs Roman auf die Bühne gebracht.

 

Kritikenrundschau

Christina Friedrich nehme "den Roman als Vorlage, erarbeitet aber mit Hilfe anderer aus dem Off gesprochener Texte und mit Filmausschnitten ein Zeitbild", schreibt Christiane Böhm im Göttinger Tagblatt (31.5.2010). "Nicht die einzelnen Charaktere und ihre Biografien stehen im Vordergrund, auf eine Handlung wird ebenso verzichtet, wie auf fest zugewiesene Rollen. Versatzstücke lässt die Regisseurin das Ensemble bieten, ohne viel gesprochenen Text, dafür aber mit Tanz, Kampf und viel Körpereinsatz." Aber, fragt die Rezensentin, "ergibt das ein aussagefähiges Ganzes? Dass es nicht bloß ein Reigen aneinander gereihter Szenen aus unserer jüngeren Vergangenheit geworden ist, ist zum einen dem Ensemble mit seiner starken geschlossenen Leistung zu verdanken. Innere Leere ihrer Figuren, deren Verzweiflung, aber auch die Sucht sich abzulenken, dem Erlebten zu entkommen, machen sie glaubhaft. Zum anderen funktioniert ein Kunstgriff der Regisseurin. Friedrich hat keine Pause vorgesehen. Ein weiser Entschluss. Denn erst über die Dauer gelingt das Bild."

Von einigen Premierenbesuchern, die vorzeitig den Saal verließen, berichtet Bettina Fraschke in der Hannoverschen Allgemeinen (online am 30.05.2010), aber auch von Menschen, die in Beethovens "Freude, schöner Götterfunken" einstimmten. Sie selbst wohnte einem intensiven Theatererlebnis bei, hervorgerufen "von einem spürbar hochmotivierten Ensemble": "Abwechslungsreich rollt der Abend ab, das Assoziationsgeflecht ist dicht gewebt (manchmal vielleicht etwas zu sehr auserzählt) und lässt darin zugleich den Zuschauern eigene Anknüpfpunkte."

 

Kommentare  
Rummelplatz in Göttingen: aufwühlend, Extremleistung
"Rummelplatz" am Deutschen Theater Göttingen - ich war am Ende irritiert und verunsichert über alles Erlebte bei dieser kompakten, kraftvollen und hin- und herpeitschenden Collage zu deutscher Geschichte!
Viele der Szenen erschlossen sich erst im Nachhinein und bedurften längeres Nachsinnen, um inhaltliche Zuordnung zu finden. Fast alles wirkt wie ein Puzzle, ist fragmentisch eingeworfen und (gewollt) nicht zu Ende geführt. Was bleibt: ist die Aufforderung zur inneren Vergegenständlichung, zur eigenen Sichtweise und Deutung. Harte Brocken, viel Wirrwar und eine Flut von Bildern, was da auf den Zuschauer einbricht - was sortiert werden muß und verstanden werden soll.
Alles in Allem: keine leichte Kost, viel Zündstoff für hoffentlich faire Diskussionen, für An- und Ablehnung! Aber auch eine mutige und gewagte Inszenierung für Göttingen.

Was aber vor allem bleibt, ist: ein absolut engagiertes, spielwütiges und starkes Ensemble (ich betone Ensemble!) erlebt zu haben! Jeder der Darsteller ist ein Kraftfeld in dieser Inszenierung. Es ist extrem, was von allen Schauspielern geleistet wird mit einer Hingabe und absoluten Energie und in allen Situationen. Mitunter hatte ich den Eindruck, sie wollen retten - was noch zu retten ist! Denn dieser fragwürdige und gewöhnugsbedürftige Theaterabend lebt nur durch die Darsteller, ihrem bedingungslosen - an die Schmerzgrenzen führenden und ihrem teilweise nackten (schutzlosen) Körpereinsatz.
Nur das Spiel der Schauspieler baute von Anfang an eine Beobachtungs-Spannung auf, nicht unmittelbar zum Sujet des Abends, und diese wollte man erleben bis zum erwartetem Ende. Darstellerisch ist dieser Abend eine in sich geschlossene Ensembleleistung, die ich vom Göttinger Theater kenne, aber diesmal noch als extrem gesteigert empfand.

Kunst und Theater sind und müssen streitbar sein und bleiben! Sie sind Tankstelle der Kreativität!
Es war ein erschlagender, aufwühlender und verklärender Theaterabend, der eigentlich ein "Rummelplatz" der Regie war!
Rummelplatz in Göttingen: großartige Musik
Rummelplatz
Deutschland – Land der Utopien. Vielleicht wäre dieser Titel ebenso passend gewesen für die Inszenierung der Romanvorlage von Werner Bräunings „Rummelplatz“. Christina Friedrich hat im Deutschen Theater in Göttingen ein Werk geschaffen, was seines gleichen sucht. Vielschichtig, mitreißend, zutiefst emotional und nachdenklich. Der Zuschauer wird wie in einem Sog hinein gezogen in eine deutsche Geschichte – in die deutsche Geschichte. Nicht chronologisch, aber immer klar erkennbar stellen sich Fragmente der deutschen Utopien auf der Bühne dar. Utopien der Deutschen von 1919 bis zum 17. Juni 1953.
Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum konnte dieses Volk so oft verführt werden. Warum musste dieses Volk so oft leiden und Leid verbreiten? Warum haben so viele unter und in diesem Volk so leiden müssen? Deutschland und seine politischen Utopien. Utopien die Menschen zu Kollektiven werden ließen und lassen. Utopien in denen der Einzelne nichts ist und die „Volksgemeinschaft“ alles.
Christina Friedrich schafft es, diese Bilder für den Zuschauer wahrlich erlebbar zu machen und dies fast durch vollkommenen Verzicht auf Dialog – allein durch Tanz, Musik, Videoeinspiellungen und reinste Körperlichkeit.
Die Musik ist großartig gewählt. Zum Einen die gesungenen Passagen des Ensembles – Lieder, die die Gedanken der Zeit, der Utopien, widerspiegeln und in einer fast perversen Heiterkeit und zugleich Ernsthaftigkeit dargeboten werden – wir hören das „Horts-Wessel-Lied“, „Der Steiger kommt“, Zara Leander „Davon geht die Welt nicht unter“, die „Internationale“, „Deutschland, Deutschland über alles“, aber auch, in der düstersten Szene des Stückes Schumann mit einer Heine-Vertonung „Ich grolle nicht“.
Und zum Anderen dann eine Art musikalische „Meta“-Ebene: Brahms, Bach, Beethoven. Man ist dankbar über diese Musik, da sie klar zeigt – da ist noch ein anderes Deutschland; vielleicht auch nur eine andere Utopie von Deutschland: das Land der Dichter und Denker. Dennoch, man ist als Zuschauer dankbar für diese Utopie, die doch so gar nicht zu den Bildern passen will, die sich auf der Bühne manifestieren.
Am Ende dann lässt Friedrich ihre Schauspieler aus den Rollen heraustreten und Bräunings Roman zur Hand nehmen. Jeder zitiert zusammenhangslos – fast scheint es zufällig. Die Spannung wird aufgelöst. Und dann: Publikum und Schauspieler singen gemeinsam! Beethoven „Freude schöner Götterfunken…“ Eine neue deutsche, ach nein, europäische Utopie nimmt ihren Anfang und ein großer Theaterabend sein Ende.
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