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Thomas Aurin ©: Ingo Tomi als Tambourmajor

Schwedenschach

von Matthias Schmidt

Weimar, 5. Juni 2010. Auf dem Hof zwischen e-Werk und Stellwerk wird gegrillt und gequatscht. Vornehmlich auf Englisch, mit zahlreichen regionalen Einfärbungen. Die halbe Welt scheint hier zu sein. Überall zwischen den VW-Bullys und zu Reisemobilen umgebauten Kleintransportern sitzen und stehen Gruppen von Jugendlichen. Ein Hippie-Lager, ein studentisches Sit-in - die werden doch nicht alle wegen "Woyzeck"...?

Auf der einen Seite des riesigen Hofes dreht ein Spanferkel am Spieß seine letzten Runden, auf der anderen spielen ein Dutzend Leute ein geselliges Spiel, bei dem sie mit kleinen Holzzylindern auf gegenüberstehende, ebenfalls kleine Holzquader werfen. In der Mitte steht ein Klötzchen mit hölzerner Krone. Kubb, sagen sie, Schwedenschach, ist schwer im Kommen. Also nicht der "Woyzeck".

Spektakel mit Birkenästen

In den "Woyzeck" geht ein anderes Völkchen. Nicht ganz so überregional, aber genauso bunt und vielfältig. In den Zuschauerraum des 1996 stillgelegten Elektrizitätswerks hinein führt ein Rundgang durch die Halle und die Kulissen, der mitten auf der Spielfläche endet. Das Einnehmen der Plätze ist zunächst nicht erlaubt. Stattdessen drängeln sich nun die Schauspieler durch die stehend schwitzende Menge: der bereits schweißtriefende Füsilier Woyzeck mit Birkenästen in der Hand auf der Suche nach seinem Kumpel Andres, ebenfalls mit Birkenwedeln (ein Manöver?).

Ein Branntwein saufender und singender Tambourmajor, eine Kinderwagen schiebende Marie. Elke Wieditz, die den Doktor spielen wird, schaut einem im Vorbeigehen so böse in die Augen, wie es im alten Kraftwerk Vockerode beim "Marquis de Sade" die dominahaften Zofen taten. Der Abend läuft. Die Musik ist toll, ein Crossover aus Streichern und Industrial Beats - wie zuletzt in "Geschichten aus dem Wiener Wald" stammt sie von Paul Lemp. Man fühlt sich gut aufgehoben in der Industrieruine. "Woyzeck" als Spektakel, warum nicht?

Ein paar Szenen werden gespielt, mal auf, mal zwischen den schlichten, weißen Bühnenbauten. Man kann nicht alles sehen, nicht alles verstehen. Sei's drum - mittendrin statt nur dabei! Am "Woyzeck" teilnehmen statt nach einer Interpretation zu suchen, das lässt sich gut an. Dann spricht Woyzeck die Marie an: "Heute abend auf die Mess‘! Ich hab‘ wieder gespart." Und dann geht die Mess‘ los: Ein Marktschreier (Xenia Noetzelmann) kündigt großes Programm an und öffnet die Zuschauerreihen.

Fluffiger Kerl, stumpfe Sätze

Danach haben die Überraschungen ein Ende, leider. Man setzt sich, und auf der Bühne wird der "Woyzeck" gegeben. Einer, der Fragen aufwirft, aber nie wirklich aufwühlt. Warum der Doktor von einer Frau gespielt wird, was dem militärischen Gestus der Woyzeck-Welt absichtlich widerspricht und deshalb nicht gut funktioniert. Warum der Tambourmajor, der Woyzecks Mädchen Marie verführen will, nie wie ein schnittiger Tambourmajor wirkt, sondern meist wie der Leiter eines Spielmannszuges, der nach Feierabend gerne einen über den Durst trinkt.

Warum Woyzeck ein so fluffiger Kerl ist, der einem von Anfang an leidtut und dem man den Wutausbruch am Ende, den Mord an seiner Marie, zu keiner Zeit zutraut. Warum Andres ziemlich orientierungslos durch die Szenerie irren muss und sehr viel Wasser trinkt, worum man ihn angesichts der Hitze freilich beneidete. Warum Marie, der Hauptmann und der Tambourmajor immer mal wieder im Publikum Platz nehmen. Warum Büchners Sätze, die sonst so gerne scharf wie Messer von der Bühne fliegen, hier keine besondere Wirkung zeigen. Und so weiter.

Ein gebrochener Mann, von Anfang an

Woyzeck bleibt Woyzeck, auch hier in Weimar. Eines der besten deutschen Stücke mit Sätzen, vor denen man immer wieder auf die Knie gehen möchte! Die sind so stark, die sitzen immer. Zudem ist der Abend auch schauspielerisch kein schlechter: Stefanie Rösner als Marie - exakt auf dem Grat zwischen Naivität und Cleverness, wunderbar! Christian Ehrich gibt einen Woyzeck, der in vielem dem entspricht, was Büchner ihn sagen lässt. Nur ein bisschen mehr Soldat - das ist er nämlich bei Büchner: gehorsames Kanonenfutter mit schlichtem Gemüt - hätte er ruhig sein dürfen. Wer beispielsweise gesehen hat, wie in Leipzig Jimmy Hartwig als Woyzeck Haltung annahm, kann den Namensvetter in Weimar nur als zu weich empfinden. Selbst in der Eingangsszene, in der er den Hauptmann (Markus Fennert) rasiert und sich als zackiger Untergebener zeigen müsste, wirkt dieser Woyzeck schon wie ein gebrochener Mann.

Nach den ersten spannenden 15 Minuten, als im Raum und nicht von der Bühne gespielt wurde, wirkte vieles wie kunstgewerbliche Korrekturen an einem soliden Werkstück. Ein paar angeklebte Nasen, ein paar Weglassungen, ein bisschen Bühnenakrobatik, immer mal wieder das schöne musikalische Leitmotiv. Ein ganz normaler, einer von vielen "Woyzecks".

Draußen auf dem Hof spielte man 90 Minuten später immer noch Schwedenschach. Genau wie vorher, als wäre nichts passiert

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Steffi Wurster, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Komposition: Paul Lemp, Dramaturgie: Maike Gunsilius. Mit: Christian Ehrich, Stephanie Rösner, Markus Fennert, Elke Wieditz, Ingo Tomi, Martin Andreas Greif, Xenia Noetzelmann.

www.nationaltheater-weimar.de

 

Mehr zu Nora Schlocker und ihren Inszenierungen im Glossar.

 

Kritikenrundschau

Hartmut Krug berichtet auf Deutschlandradio Kultur am 5. Juni 2010 aus Weimar: Zunächst begebe man sich in eine Installation, man bewege sich zwischen den Schauspielern, was den Zuschauer öffne für die Erzählung und die Figuren. Später jedoch nehme man Plätze ein und dann beginne ein recht normaler Theaterabend. Nicht eine soziale Wirklichkeit oder gar unsere soziale Wirklichkeit schildere Schlocker, sondern sie erschaffe einen inszenierten Denkraum, in dem darüber nachgedacht werde: Was bin ich? Wie kann ich mein Leben selbst gestalten? Der Schauspieler des Woyzeck sein in dieser Installation doch meistens eine schwitzende Leerstelle, wie überhaupt die Schauspieler ihre Aufgabe, eine Haltung darzustellen, erfüllten, aber keine Figuren spielten, die man entdecken wolle oder bei denen es spannend sei hinzuschauen.

Mit dem mobilen Beginn von Nora Schlockers "Woyzeck"-Inszenierung kann sich Angelika Bohn in der Ostthüringer Zeitung (7.6.2010) gar nicht anfreunden: Sie sieht "Marie und Woyzeck als Kumpane, die das Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorziehen. Menschen ohne Aussichten. Doch mit ihrer ermüdenden Publikumsbelehrung am Anfang vernebelt Schlocker die Sicht auf diese spannenden Figuren." Als Teil des "inzwischen weitgehend genervten Publikums" fühlte sie sich in der "minimalistischen Puppenstube" von Woyzecks Stadt nicht besonders wohl. Auch nachher wurde es für sie nicht so viel besser: "Aus der Mitte des Geschehens ist kein Überblick möglich, war vorher zu erfahren. Von nun an ist jeder Schritt überdeutlich, mit dem Woyzeck sich dem eigenen Untergang nähert."


"Die ersten zwanzig Minuten sind wirklich gut, die letzten zwanzig eine Stunde zu lang", schreibt Henryk Goldberg in der Thüringischen Allgemeinen (7.6.2010). Nora Schlocker inszeniere "kein Stück, sie inszeniert eine Versuchsanordnung, in der die Darsteller mehrheitlich selbst zum Objekt der Inszenierung werden und sich als darstellendes Subjekt verlieren." Nach dem drängelnden Beginn auf der Bühne sei die Inszenierung "nur noch ein technischer Vorgang, ein Zerdehnen und Zerquälen, ein Vorführen, ein Demonstrieren.

"Im Leben sei es wie im Theater: "Haltung allein genügt nicht", befindet Wolfgang Hirsch in der Thüringischen Landeszeitung (7.6.2010). Wenn Woyzeck am Ende Marie absticht, sei dies "die erste Körperlichkeit zwischen beiden nach langen, ärgerlichen eineinhalb Stunden. Traurig empfinden wir, wie verlangt, tiefes Mitleid mit dem geschundenen Prekariat. Dafür hat Schlocker schließlich Büchners Drama von den Füßen auf den Kopf gestellt."

 

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