Kafkas Luftzug an der Ferse

von Stefan Bläske

Wien, 6. Juni 2010. Sie zappeln und sie strampeln. Sind wackelig auf den Körpern, ihre Gliedmaßen gehorchen ihnen nicht. Das Laufen ist labil, die Knie knicken ein, Extremitäten werden weggeschleudert, Köpfe zur Seite geworfen. Die Wirbelsäulen sind zum Hohlkreuz durchgedrückt, die Muskeln aufs Äußerste gespannt. Konvulsionen, Spasmen, Explosionen. Es soll in "Out of Context" um Zustände der Hysterie und der Ekstase gehen, um den Kontrollverlust. Out of Control.

Im Tanztheater von Alain Platel und "les ballets C de la B" wird uns dieser Kontrollverlust zwar engagiert und energetisch, aber natürlich ganz kontrolliert dargeboten. Die Entrückung ist entzückend choreographiert, mit Charme, Humor und schönen Menschen gefällig in Szene gesetzt: neun Tänzer in modischer, bunter Unterwäsche im schlichten schwarzen Raum. Sie sind schön anzuschauen selbst dann noch, wenn die Körper hilflos zucken, wenn Zungen rausgestreckt und Rachen aufgerissen werden, grimassenhaft die Gesichtszüge entgleisen.

Inspiriert von "Antichrist"

Animalisch und animierend ist diese Inszenierung, voll Schönheit, Kraft und Menschenwärme. Das löst am Ende Jubel aus, herausströmende Zuschauer fassen sich ans Herz oder verkünden, sie müssten nun unbedingt gleich tanzen gehen. Wie kommt's? Der Programmzettel gibt Antwort, ihmzufolge habe Alain Platel mit seiner im Januar 2010 im Kaaitheater Brüssel uraufgeführten Choreographie die "Leichtigkeit und Schönheit des Absonderlichen" entdeckt. Aber ist das wirklich eine Entdeckung oder eher ein Schönfärben, und wäre das nicht problematisch, wenn man "Absonderlichkeit", Titel und Themen der Inszenierung ernst nimmt? Schließlich soll es um das Unkontrollierte und Unbewusste gehen, Alain Platel nennt Lars von Triers "Antichrist" als Inspirationsquelle und erzählt, dass er seinen Tänzern "Filme mit sogenannten Hysterikern vom Beginn des vorigen Jahrhunderts" gezeigt habe.

Von diesem düsteren Kapitel der Psychatriegeschichte, vom "Gebärmutter-Tier" und dem Weggesperrtwerden (Out of Society!) so vieler Frauen lässt der Heilpädagoge Alain Platel in seiner Inszenierung nicht viel spüren. Stattdessen möchte er, der Psychologie und Pädagogik studiert hat, die Hysterie als Hypersensibilität gegenüber den Großgefühlen des Lebens zeigen - als etwas, das jeder von uns in sich trägt.

Out of Control? Out of Society?

Entsprechend werden Tänzer und ihre Ausbrüche selbst in der schlimmsten Zappelphilippika nicht einfach als das Fremde, das Andere ausgestellt. Sie sind nicht out of context, sondern mittendrin. So kommen die Tänzer zu Beginn aus dem Zuschauerraum und setzen sich am Ende auch wieder dorthin, sie sind Teil von uns. Sie mögen einsam sein, sind aber nicht alleine. Auf der Bühne sind ihre Bewegungen oft synchron choreographiert, gerade auch im Kontrollverlust kommen sie sich näher.

Es geht also nicht allein um Konversionsstörungen, sondern auch um gemeinschaftliche Formen von Ekstase: vom Diskotanz bis hin zum Sex. In einer zentralen Szene, zu rhythmisch schnellem Heart-Beat-Bass und allseitigen Tanz- und Tatschbewegungen stöhnt eine Tänzerin ins Mikrophon "That's the way I like it", ein Tänzer bellt "Who let the dogs out", ein anderer "Get up, Sex machine". Die kraftvolle Tanzszene lässt sich als Persiflage von Popkultur begreifen oder auch als Auseinandersetzung mit menschlicher Körperkommunikation. Jeder Zuschauer mag anderes entdecken, denn Platel lässt - für seine Verhältnisse - vieles offen, bleibt oft abstrakt, deutet mehr an als er ausführt.

Hufgetrappel, Löwengebrüll, Sommernachtsschwüle

Dass die leichtbekleideten Tänzer mit ihren roten Handtüchern manchmal wirken wie eine spaßige Gymnastikgruppe am Strand, mag wohl auch daran liegen, dass Platel seine Bild- und Körperwelten tendentiell gerne hübsch und heil und harmlos gestaltet. Das Abgründige, Unheimliche und Interessante an der Inszenierung entsteht weniger durch das Zappeln und Zucken oder die tierhaften Bewegungen der Tänzer - außer vielleicht durch Romeu Runa, der auf wahrhaft unheimliche Weise aus der Reihe tanzt und fällt - als vielmehr durch den Sound. Neben Musikeinspielungen etwa von Glenn Goulds schnellen Goldberg-Variationen (Platel hält Gould für hypersensibel, also hysterisch) sind das vor allem Tiergeräusche: röhrende Hirsche, brüllende Raubtiere, krächzende Möwen und viele nicht erkennbare Töne einer wilden Welt.

Weil Platel weniger mutig und konsequent ist als Meg Stuart in ihrem ebenfalls bei den Festwochen gezeigten "Do animals cry", verrutschen die tierischen Toneinspielungen zwar manchmal ins harmlos Verspielte, wirken dann wie aus Walt Disneys Welt der Tiere. Immer wieder aber entfaltet die Kombination aus Ton und Tanz, Geräusch und Gezappel tatsächlich eine bedrückende Wirkung. Dann kitzelt "Out of Context" als Luftzug an der Ferse wie in Kafkas "Bericht für eine Akademie", lässt uns jenen Sturm spüren, der uns nachbläst, und manchmal mitten ins Gesicht. Aus Vergangenheit oder Affentum, aus Hysterie oder Ekstase, aus Sehnsucht oder schlicht aus dem Wunsch, mitzutanzen. In jenen Momenten ist Platels Inszenierung dann nicht nur schön, sondern auch unheimlich, stark und berührend.

 

Out of Context - for Pina
Konzeption und Regie: Alain Platel
Tanz und Kreation: Matthieu Desseigne Ravel, Kaori Ito, Emile Josse, Mélanie Lomoff, Ross Mc Cormack, Romeu Runa, Elie Tass, Rosalba Torres Guerrero, Hyo Seung Ye.
Eine Produktion von les ballets C de la B in Koproduktion mit Théâtre de la Ville, Paris, Le Grand Théâtre de Luxembourg, TorinoDanza, Sadler's Wells, London, Stadsschouwburg Groningen, Tanzkongress 2009/Kulturstiftung des Bundes, Kaaitheater, Brüssel, Wiener Festwochen.

www.festwochen.at

 

Mehr zu Alain Platel: Wir besprachen Pitié! Erbarme Dich und zwar im Rahmen der Ruhrtriennale in Bochum im September 2008.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=05N_N5coYFI}

 

Kritikenrundschau

"Das ist der Tanz der Gegenwart", bemerkte Wiebke Hüster bereits zur Uraufführung am Brüsseler Kaaitheater im Deutschlandfunk (14.1.2010). "Platel hat seine Szenen der aus der Stück-Welt Gefallenen der verstorbenen Pina Bausch gewidmet. 'Out of Context' könnte nicht klarer zeigen, dass den virtuosen Tänzern von heute und ihrer unglaublichen Ausdrucksfähigkeit und technischen Perfektion nichts als die Stücke fehlen. Das ist das Beklemmende, das Verstörende dieses Abends."

"Weit mehr als eine Verlegenheitsarbeit" sah Silvia Kargl in ihrer Rezension im Wiener Kurier (7.6.2010): "In einer harmonischen Scheinwelt greift Platel mit viel Sinn für Theatralik schließlich dekorative wie sinnlose Bewegungen zu Discosound auf und gestaltet einen chaotisch-amüsanten Mikrokosmos, in dem sich Individualisten austoben." Dabei überwiege am Ende "der Glaube an die Humanität durch menschliche Zuneigung".

"Platel bleibt oft abstrakt – und berührt mit diesem Konzept", resümiert Verena Franke in der Wiener Zeitung (8.6.2010): "Aus mitleidsverzerrter Mimik wird im Mittelteil der Performance schnell Lächeln und manchmal lautstarkes Lachen: Platel persifliert das Herumbalzen in Discolaune und bedient vielerlei Klischees. Zu Popsongs lacht man über Bodybuilder-Posen und ironische Annäherungsversuche. Angedeutete Bewegungsrituale der heutigen Jugendkultur, getanzt von einer reiferen Performerin mit übertrieben konzentriertem Gesicht, erinnern an die Selbstdarstellung in Videoclips. Doch dann kippt die Stimmung. Der Mensch wird zum Tier, geht auf den Händen, kopuliert emotionslos. Dazu Urwaldgeräusche."

 

 


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