Wie bei Neureichs privat

von Harald Raab

Heidelberg, 25. Juni 2010. Er ist ein Nach-Regisseur, dieser Simon Solberg. Er inszeniert seine Stücke nach Goethe, nach Schiller und nun wieder einmal nach Shakespeare: Hamlet als Freilichtproduktion im Hof des Heidelberger Schlosses. Wie noch immer geriet auch dieser Solberg-Hamlet zu einem Theater-Ereignis/-Ärgernis, bejubelt von den Jungen, weil ihre Seh- und Erlebnisgewohnheiten bedient werden, bestenfalls mit Achselzucken bedacht von den Älteren: Was soll's.

"Es wird so viele Hamlets geben, wie es Schauspieler, Regisseure, Zuschauer und Kritiker gibt", stellt einer der großen Shakespeare-Kenner unserer Tage, Harold Bloom, fest. Der Heidelberger Hamlet Solbergs gehört zu denen der exzentrischen, der schrägen Sorte. Dieser Regisseur will nicht nur viel, er will gleich alles: geil unterhalten und dazu die Welt aus einem Punkt heraus, wenn schon nicht kurieren, so doch mindest ein Stück verständlicher machen. Leicht konsumierbar soll der olle Klassiker natürlich auch sein, mit einem kräftigen Schuss Agitprop: gierige Multis, geldgeile Investment-Banker, korrumpierte Politiker und das dumme Volk, das nicht aufsteht und kaputt macht, was es selbst kaputt macht.

Tummelplatz der Schurken und Absahner

Aber ist der mit Preisen ermunterte Jung-Regisseur mit seiner Radikalität auch einer, der uns Shakespeare für heute erschließen kann, dessen "Erfindung des Menschlichen" (Bloom), die das Werk des elisabethanischen Theatergenies Weltgeltung und bleibende Aktualität verleiht?
Man kann Shakespeare verändern, wenn man Shakespeare verändern kann – um eine der listigen Begründungen Brechts für Solbergs großen Heidelberger Mix heranzuziehen. Das große Fass im Heidelberger Schloss reicht nicht aus, um all das aufzunehmen, was der Regisseur fern jedes Reinheitsgebots in sein Stück mischt.

Der radikal gekürzte Hamlet-Text ist mit Versen und Statements aus anderen Shakespeare-Dramen versetzt. Selbst Schiller wird hinein collagiert – und aktuelle Politaufgeregtheiten sowieso. Die Welt als Tummelplatz der Schurken und Absahner, der Kapitalistenschweine, die über den Ausgebeuteten und Entrechteten thronen. Völker höret die Signale. Doch von Hamlet geht kein neues Kommunistisches Manifest aus. Da erkämpft keine Internationale mehr das Menschenrecht. Auch nicht in Heidelberg.

Wohlstandsverwahrloster Popheld

Bei aller politischen Indienststellung, bei allem Theater-Remmidemmi samt Pop-Spektakel – Hamlet ist ein Psycho-Drama. Der Prinz scheitert an sich selbst, nicht weil er zu viel denkt, wie es Nietzsche ausdrückt, sondern weil er zu tief denkt und damit handlungsunfähig wird. Hamlet ist tragischer Held und Schurke zugleich, immerhin hat er sieben Menschenleben auf dem Gewissen. Er kommt zur Wahrheit durch Schuld. Er ist ein skrupelloser Egomane, zur Liebe, zum Leben unfähig, jedoch auf seinen Nachruhm bedacht: ein durch und durch moderner Mensch also, in Sonderheit ein Intellektueller.

Hamlet als Pop-Helden für ein auf Fun abonniertes Nachwuchspublikum zurecht zu trimmen, ist per se kein Tabubruch. Klassiker vom Sockel zu holen, ist aber allein auch noch kein Verdienst. Erst einmal ist Action im Heidelberger Schloss angesagt, wo, historisch verbürgt, die Truppe des Globe Theatres auch schon einmal gastiert hat. Voll Stoff wird da gekalauert, mit einem Wasserschlauch gespritzt, Sprühsahne verteilt und das Tafelsilber ins Publikum geschleudert. Ein Traktor zieht zwei Campingwagen auf die Bühne und Hamlet leiht sich von einem Zuschauer ein Handy, um seine Theatertruppe herbei zu beordern. Hier geht's zu wie bei Neureichs privat.

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Paul Grill als Hamlet © Markus Kaesler

In der königlichen Patchwork-Family tobt Hamlet als Wohlstandsverwahrloster herum, mit einem dicken Mama-Komplex behaftet, weil die sich nach dem frühen Tod seines Erzeugers diesen Machtmenschen Claudius ins Bett geholt hat. In einem Plaste-Häuschen gleich nebenan agiert Ophelia ihre Girly-Träume aus und pflegt ihre Phantasiegewächse. Man begegnet sich rotzig-cool.

Vor den Trümmern der Erkenntnis

Wenn Theater wie Fußball sein soll, wie es Dario Fo fordert, dann ging die erste Halbzeit in Heidelberg voll aufs Torkonto der Comedy-Zurichtung mit Running Gags satt. Simon Solberg gehen dabei die Einfälle so schnell nicht aus. Nur geringe Chancen für Shakespeare, wo alles zu Tode geblödelt und mit fetziger Musik aufgeschäumt wird. In der zweiten Halbzeit jedoch schießt Shakespeare die Tore.

Paul Grills Hamlet bleibt zwar ein Getriebener, jedoch hat er nun in seinen großen Monologen die Gelegenheit, der grauenhaften Wahrheit Ausdruck zu verleihen. Er ist bar jeder Illusion, die Verhältnisse ändern zu können. Er ist sich seiner Unfähigkeit zum Handeln bewusst. So bleibt ihm nur der Ausweg ins Verrücktsein, dieses probate Mittel, sich den gesellschaftlichen Spielregeln mit ihrer Verlogenheit zu entziehen. Videoeinblendungen liefern starke Bilder einer Physiognomie der Verzweiflung in totaler Isolation. Dieser Hamlet geht an seiner Ambivalenz, an seiner Tatenlosigkeit zugrunde. Und er weiß es auch. Hier sind Paul Grill und Simon Solberg ganz bei Shakespeare.

Zwar fordert die Rationalisierung auch ihren Tribut: Das Personal ist in dieser Produktion von zweiundzwanzig auf acht reduziert. Da holpert die Handlung an einigen Stellen. Dennoch tritt die Heidelberger Inszenierung den Beweis an, dass Simon Solberg den billigen Unterhaltungszauber eigentlich nicht bräuchte, um sein Publikum für einen großen Theaterstoff zu öffnen. Er schafft einen spannenden, keineswegs langweiligen Hamlet auch so. Comedy zum Schenkelklopfen können andere auch.

 

Hamlet
nach William Shakespeare
Regie und Bühne: Simon Solberg, Kostüme:Sara Kittelmann, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer.
Mit: Paul Grill, Klaus Cofalka-Adami, Antonia Mohr, Franziska Beyer, Matthias Rott, Serkan Kaya, Natanael Lienhard, Mats Beyer.

www.theaterheidelberg.de


Mehr über Simon Solberg im handlichen Glossareintrag.

 

Kritikenrundschau

Der von Paul Grill gespielte "zweifelnde Stürmer und Dränger" Hamlet, so Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (28.6.2010), sei bei Solberg "nur noch damit beschäftigt ist, die Welt zu retten", ein "ziemlich verzogenes Bürschchen, das bevorzugt den selbstverliebten Attac-Aktivisten spielt, durch die politisch brisanten Themen der Zeit hechtet". So fackele Grill "im Auftrag seines Regisseurs alle möglichen popkulturellen Reverenzen ab". Neben diesem "Borderline-Hamlet" verblassten alle andere Figuren, für die sich Solberg allerdings ohnehin nicht sonderlich interessiere. Da sei Ophelia bloß noch "ephemere Stichwortgeberin" und Hofschranze Polonius "derart überflüssig", dass Solberg Thron-Usurpator Claudius zum "Daddy jener Lady" mache. Die Inszenierung entwickele sich "immer mehr in Richtung eines selbstverliebten Hochleistungsarrangements", das mit der "Mausefalle" einen "zweifelhaften Höhepunkt" erreiche: Der Auftritt der Schauspieltruppe sei hier ein "weltgeschichtlicher Parforceritt mit einem Bibel-Best-off und Abstechern bis hin zum bösen Taliban". Nach der Pause inszeniere Solberg "feingliedriger", er konzentriere sich jetzt auf den Kampf zwischen Hamlet und seinem Stiefvater, wobei Grill in Klaus Cofalka-Adami endlich auch einen "adäquaten Mitspieler" finde.

"Es ist etwas faul im Staate Dänemark", das sei für "Hochgeschwindigkeitsinszenator" Solberg die "wichtigste Botschaft des nervösen Dänenprinzen", schreibt Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (28.6.2010). Hier werde vor allem ausgiebig "Kindergeburtstag gefeiert". Habe man jedoch einmal "akzeptiert, dass der Abend mit "Hamlet" in etwa so viel zu tun hat wie Ikea mit Dänemark, hält sich das Entsetzen in Grenzen". Denn man könne sich "durchaus berauschen an dieser Open-Air-Party, bei der Einfälle und Spieltrieb sprudeln wie der Alkohol beim Komasaufen". Im "stringenteren Teil" nach der Pause lege Solberg "den Kippschalter von U auf E, von vulgärer Unterhaltung auf heiligen Ernst". Wenn jedoch Hamlet bei "Sein oder nicht sein" "in Wehrmachtsuniform um einen Campinggrill hüpft, bewegt sich die Ernsthaftigkeit doch auch wieder in sehr engen Grenzen". "Was Solberg will, ist ein Utopistendrama. Visionen und Weltekel dekliniert er durch 'Hamlet'-Nachfolger. Verzweifelte Weltverbesserungsversuche in großer Nähe zum Wahnsinn sind sein 'Hamlet'-Thema." Das Drama werde hier "unter klugen, blöden, lustigen, albernen - auf jeden Fall aber zu vielen Einfällen" beerdigt.

Ein "wahres Bombardement sinnlicher Eindrücke" gibt Heribert Vogt von der Rhein-Neckar-Zeitung (28.6.2010) zu Protokoll. Solbergs "schriller Action-'Hamlet'" sorge dafür, dass "die heutigen globalen Verhältnisse als politische, ökologische, soziale oder moralische Trümmerfelder erscheinen". Das "schnelle, revueartig aufgerissene, streckenweise auch hastige und schemenhafte, dann sich fast wieder überschlagende Spiel", dieser "groteske, auch verstörende Sturzflug durch unsere Zeit", dieses "Gewitter der Sinnsplitter" habe viele Zuschauern ratlos gemacht, bei jungen Besuchern aber auch das Urteil "echt geil" provoziert. Der dänische Hofe bestehe hier aus Wohnwagen, in denen "moderne Nomaden" residierten, "recht unbehaust und immer auf der – vergeblichen – Suche nach dem Sinn". Grill besteche mit "ungeheurer Bühnenpräsenz" und "irrsinnigem Spieleinsatz". Cofalka-Adami gebe den Claudius als "Krisengewinnler", "schlichten Machtmenschen und Alt-Achtundsechziger". Im zweiten Teil komme es zu "eindrucksvollen Szenen" und "Bildern von hoher Intensität". "Sicherlich geben die Schauspieler alles, um (...) vor Augen zu führen, was im heutigen globalen Weltstaat Dänemark zwischen der Schlange des Turbokapitalismus und der Ökokatastrophe im Golf von Mexiko alles faul ist." Sicher würden hierbei auch "Fragen in den Köpfen des Publikums frei gesprengt: nach dem überaus fragwürdigen Umgang mit der Welt, in der wir leben." Es stelle sich aber doch die Frage, "ob ein derart experimentelles Theater das richtige Angebot für sommerliche Schlossfestspiele ist".


Kommentare  
Heidelberger Hamlet: lohnend, aber nicht berührend
Ein sehenswertes Stück. Für die, die es mit dem Text nicht so genau nehmen. Es gibt durchaus interessante Anfälle, z.B filmen der Szenen im Wohnmobil mit gleichzeitigem Projezieren auf der Leinwand. Das ganze tatsächlich etwas überladen. Was man aber auch als Parodie auf die mit Reizen überladener Wirklichkeit verstehen kann. Es wurde versucht, die Architektur des Schlosses einzubeziehen: Die Ophelia begeht den Selbstmord, springend von einem der Türme. Ihr Fall machte aber keinen starken Eindruck, denn es war einfach ein Eindruck zu viel. Auch das wiederholte Ausleihen vom Handy aus dem Publikum, brauchte man nicht wirklich: Das Einbeziehen des Publikums in das Bühnengeschehen ist ja wohl nicht mehr neu und in dem Stück absolut verzichtbare Handlung! Zahlreiches Einsetzen von der Musik ist gelungen, wenn auch manchmal mit etwas langweiliger Auswahl. Alles in Allem berührt das Stück nicht. Aber lohnenswert ist es trotzdem.
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