So hat Gott es nicht gemeint

von Ulrich Fischer

Avignon, 7. Juli 2010. Christoph Marthaler hat seine Fähigkeit, das Publikum zu polarisieren, in Avignon aufs Neue bewiesen. Zur Eröffnung des Festivals präsentierte er die Uraufführung seines neuen Stücks "Papperlapapp" - und es mischten sich nicht nur erbitterte Buhs in den Schlussbeifall, sondern schon nach gut der Hälfte der Aufführung stimmte ein Teil des Publikums mit den Füßen ab. Bis zum Schluss sollte das Bächlein der Unzufriedenen, die mehr oder minder diskret während der Vorstellung den Ehrenhof des Papstpalastes verließen, nicht abreißen.

"Papperlapapp" ist ein typischer Marthaler - das radikale Absurde beginnt schon, bevor die Aufführung beginnt, mit einer Mystifikation. Im Programmheft legt Marthaler nahe, die Inszenierung erzähle die Schöpfungsgeschichte neu. An einem der Schöpfungstage erklärten die Menschen GOTT, wie und warum ER die Welt erschaffen habe, auf so subtile und unverständliche Weise, dass ER "Papperlapapp" rief.

Waschmaschinen und Kirchenbänke

Auf der Bühne findet sich von der Schöpfungsgeschichte nichts. In der ersten, programmatischen Szene geht Graham F. Valentine als Reiseführer dem Ensemble voran. Er ist blind und behauptet, seine Kunden seien im Justizpalast von Brüssel - sie sind aber im Papstpalast von Avignon. Das ist das Leitmotiv: Menschen wollen Führung, aber niemand kann sie geben, sie geht in die Irre. Don't follow leaders!

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Papperlapapp © Christophe Raynaud De Lage

Anna Viebrock hat ihr Bühnenbild mit vielen Elementen aus Kirchen ausgestattet: ein Beichtstuhl, mehrere Sarkophage, Kirchenbänke - ergänzt um Waschmaschinen. Es geht um Reinheit - die der Seele wie die der Unterhose. In einer Szene läuft eine Waschmaschine, magisch beleuchtet. So macht man sich über die Vorstellung von seelischer Reinheit lustig - das Bild war wirklich gut, wenn auch vielleicht etwas zu lang.

Abklopfen der irdischen Existenz

Musik ist eines der wichtigsten künstlerischen Mittel Marthalers, Bach, Mozart und Satie sind nur einige der Komponisten, die gespielt und gesungen werden - eine harmonische, ein wenig melancholische Grundstimmung stellt sich ein. Sie wird schließlich sehr müde - da beginnt der Exodus. Als sich urplötzlich das Blatt wendet und ein Höllenkrach losbricht, gehen noch mehr genervte Zuschauer.

Marthaler und sein Ensemble variieren das Hauptthema, den Wunsch nach Leitung und die Unmöglichkeit, Orientierung geben zu können. Der Autor-Regisseur radikalisiert seine Thesen und macht sich insbesondere über die katholische Kirche mit einigen Blasphemien lustig - aber die Inszenierung reißt das Publikum nicht mit. Die Szenen sind (manchmal zu) lang, vieles ist rätselhaft. Das Publikum versteht offenbar nicht, dass Marthaler mit dieser Rätselhaftigkeit Theorien und Ideologien angreifen will - er ist ein radikaler Skeptiker. Auch der Humor kommt zu selten über die Rampe. Es gibt mehr Pointen als Gelächter.

Probleme, die auf den Nägeln brennen

"Papperlapapp" ist nicht der schlechteste, aber gewiss auch nicht der beste Marthaler. Das 15köpfige Ensemble spielte prima und hielt durch, auch als der Unmut mit Händen zu greifen war - viele haben geklatscht, aber ein wirklicher Durchbruch ist Marthaler nicht gelungen.

Wie anfechtbar seine absurde Farce ist, wurde deutlich, weil vor der Aufführung eine Sprecherin scharf die Kulturpolitik der französischen Regierung kritisierte und mehr Unterstützung der Künstler einforderte - Marthaler hat sich in diesem Stück zu wenig um soziale Themen gekümmert. Ihm geht es mehr um Erkenntnis-, Glaubens- und Kirchenkritik. Nicht wenigen Franzosen scheinen in Avignon zur Zeit andere Probleme auf den Nägeln zu brennen.


Papperlapapp (UA)
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock, Kostüme: Sarah Schittek, Dramaturgie: Malte Ubenauf, künstlerische Mitarbeit: Gerhard Alt, Mitarbeit Dramaturgie: Olivier Cadiot, musikalische Leitung: Rosemary Hardy.
Mit: Marc Bodnar, Raphaël Clamer, Bendix Dethleffsen, Evelyne Didi, Olivia Grigolli, Rosemary Hardy, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Bernhard Landau, Sasha Rau, Martin Schütz, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Graham Valentine, Jeroen Willems.

www.festival-avignon.com

 

Mehr zu Christoph Marthaler gibt es im entsprechenden Archiveintrag. Im Sommer 2009 war Wajdi Mouawad beim Festival d'Avignon Artiste associé und zeigte seinen Mehrteiler Le sang des promesses, der bis in die Morgenstunde dauerte.

 

Kritikenrundschau

Leider, berichtet Johannes Wetzel (Die Welt, 9.7.2010), diese Inszenierung ging "daneben". "War es eine Frage der Temperatur?", oder "War es das Publikum? Die Chemie von zweitausend Zuschauern und Touristen ist komplizierter als die von einigen hundert Marthaler-Liebhabern." Und sicher sei auch der Ort schuld: "Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock haben noch nie Freilichttheater gemacht." Bei Vorbereitungs-Essen mit den Direktoren war Marthaler, so Wetzel, "ungewöhnlich gesprächig gewesen: 'Eine gute Soße entsteht durch Eindicken', sagte er da. 'Durch Eindicken erreicht man Bilder, in denen gleichzeitig Monteverdi, ein Bier und eine Garage vorkommen.' In "Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie" war das gelungen." Und auch diesmal standen "auf der Bühne die Zutaten bereit, inspiriert von der Geschichte der Päpste und ihrer Vermarktung". Es fange auch gut an, "nach einer Stunde aber wird das Spektakel zum mühsamen Nummernzirkus sanfter Blasphemien". Und "selbst die Macht der Musik, der in Marthalers Stücken sonst niemand widersteht, ist gebrochen".

"Gegen halb elf Uhr abends", beginnt dieser Abend, "wenn die Stadt nicht mehr glüht und durch den Ehrenhof sogar ein angenehmes Lüftchen fächelt", schreibt Barbara Villiger Heilig (NZZ, 9.7.2010). "Die Mauern scheinen von innen heraus zu leuchten. Darüber spannt sich, noch königsblau, bald schwarzviolett, der von Sternen übersäte Himmel." Und das sei es auch schon, "grosso modo", was Marthaler und Anna Viebrock vorhaben: "Sie führen, in Umkehrung von Richard Wagner, dessen "Parsifal"-Motiv im Lauf des Abends einmal anklingt, vor, wie Raum zu Zeit werden kann: zu zwei Stunden, die an Ort treten, sich um sich selber drehend, und als endlos wiederholter Augenblick so kurz oder lang sind wie die Ewigkeit." Doch ist es überhaupt ein Stück?, fragt Villiger Heilig. "Mini-Anekdoten von surrealer Komik" hat sie beobachtet. Der Abend werde zu einem "völlig eigenständigen, mit nichts – außer vielleicht der tridentinischen Messe – zu vergleichenden Kunstwerk", zu einem Abend "voller Bilder, die man nicht wirklich einordnen kann, voller Assoziationen, die ins Leere führen. Aber, vor allem, auch voller Musik." Marthalers "Welttheater erreicht hier eine neue Dimension. Es zwingt das Publikum, Seh- und Hörgewohnheiten aufzugeben und sich komplett dem Hier und Jetzt zu überlassen".

Das Heilige werde bei Marthaler "ebenerdig in der substantiellen Gleichsetzung von Blut, Cola und Wein, Waschmaschine und Reliquienschrein", schreibt Joseph Hanimann in der Frankfurter Allgemeinen (9.7.2010). Hier verwandelten sich Touristen "zurück in eine Glaubensgemeinschaft" - "so weit Marthalers überzeugende Voraussetzung theatralischer Wesensverwandlung". Die "Konsequenz" jedoch, die er mit den üblichen Marthaler-Mitteln (Chorgesang, "verwelkte Kleinbürgerpracht", "kleine Stilbrüche und verrutschte Bedeutungen") in den Palasthof zaubere, gehe leider so schief, dass es Teile des Publikums vorzeitig hinaustreibe. Die große Palastfront sei selten "so schön ausgeleuchtet" gewesen, habe aber auch selten "mit solcher Wucht eine Bühne erschlagen". Marthalers "Papstbeschwörung" werde zur "Nummernrevue". "Wer zuvor das Heilige so erdnah definierte, kann nicht bei jedem Blick über die Ränder von Spott und Blasphemie hinaus Schwindelgefühle erwarten." Hier dauere "der Effekt immer nur so lange, bis die nächste Idee nötig wird". Die "subtile Unschlüssigkeit", in der die Frage des Lachens-oder-Weinens bei Marthaler sonst schwebe, "bekommt hier einen Drall zum Unkontrollierten".

Eberhard Spreng (Deutschlandfunk, 8.7.2010) hat "das erste dezidiert katholische Stück" Marthalers gesehen, ein Stück, in dem "Mensch und Raum (...) humorvoll in eine Schieflage" gebracht sind, "Ding und Wort, Zeichen und Bezeichnung auf so verschiedenen Ebenen" durcheinander gewirbelt sind. "Aber genau das ist auch das große Problem dieses Abends: Er sucht sein Thema in einer Vielzahl von Zugängen." Natürlich habe Marthaler das Ensemble "musikalisch fein auf den Raum abgestimmt, lässt seine Chöre wie immer in einem verhaltenen Piano singen und einen Konzertflügel hinter einem gotischen Durchbruch erklingen, so als könne es gegen jeden Schmutz, gegen jede Glaubensverhunzung, jedes "Papperlapapp", in dem die Sprache verstummt, eben doch die Welterlösung durch die Musik geben". Aber dann lasse er "ein unendlich langes atonales Crescendo zu einem einzigen ohrenbetäubenden Schreien und Grollen anwachsen, so als wollte er (...) den Papstpalast in Schutt und Asche legen. Der Kampf zwischen dem Raum und dem Regisseur ist nun für den Künstler verloren". Für die "etwas rätselhaften Metaphysik dieses Marthaler-Abends" bleibe nur "der Auszug aus einem Papstpalast, der sich dieses Mal als eine veritables Gefängnis entpuppt".