Das Leben ist grausam, nicht ich

von Sarah Heppekausen

Essen, 14. Juli 2010. Dieser Abend ist eine Zumutung. Nicht, weil nach der langen Hitze und einem kurzen, aber heftigen Unwetter dem Zuschauer eine ungewohnte Kälte die Beine hochkriecht, das bleibt nur eine unangenehme Randerscheinung. Die nachhaltige Kälte, und zwar eine, die einem den Boden unter den gekühlten Füßen wegzieht, schlägt von der Bühne aus dem Publikum entgegen. Menschliche Abscheulichkeiten, die nur schwer auszuhalten sind.

Entblößung, Folter, Psychoterror, Mord – in "Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein" konfrontiert Kornél Mundruczó den Zuschauer gnadenlos mit sichtbarer Gewalt. Im Mai zeigte der ungarische Autor und Regisseur seine neueste Arbeit beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, Deutschlandpremiere hatte es jetzt beim Festival Theater der Welt in Essen. Gespielt wird auf den Ladeflächen zweier Trucks. Die stehen nicht auf der Bühne eines Theaterbaus, sondern in einem Parkhaus. Grauer Beton, Regenpfützen und zugige Ecken passen als Kulisse. Tiefgaragen sind raue Orte, die man möglichst schnell passiert, an denen man nicht freiwillig verweilt. Orte, an denen krumme Geschäfte erledigt werden, filmreife Schauplätze für Verfolgungsjagden und Horrorstreifen.

Generationsübergreifende Abgründe

Mundruczós Szenario ist erschütternd real. Menschenhandel und Schlepperei sind sein Thema. Junge ungarische Mädchen hoffen auf eine bessere Zukunft im Westen, mit Bankkarte und persönlichen Rechten. An der Grenze allerdings werden sie verscherbelt an ein sadistisches Filmteam, das die Revolution provozieren will, "noch einen 11. September oder Schlimmeres". Drehbuchautor Károly plant, sich mit dem Video an seinem Vater, einem Mitglied des Europaparlaments, zu rächen. Der hat die eigene Tochter vergewaltigt und den Sohn verjagt. Menschliche Abgründe in allen Generationen.

Am Set wird gefesselt, verbrüht, geschlagen, gedemütigt und begraben bis zum Herzstillstand. Die nackten Frauenkörper sind billiges Menschenmaterial, Mittel zum Zweck einer fanatischen Ideologie. "Ich haben nach einem Sinnbild gesucht", erklärt Film-Regisseur Attila die Idee, eine der Frauen kopfüber ins Klo zu stecken, um ihr das "richtige Pissen" beizubringen. Anschließend wird ihr Rücken mit kochendem Wasser übergossen. "Das Leben ist grausam, nicht ich", rechtfertigt er sich und sein Tun.

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"Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein"
© Klaus Lefebvre

Was ist Wahrheit?

Mundruczó zeigt die Szenen auf der Leinwand, gefilmt mit einer wackeligen Handkamera, unerbittlich distanzfrei in der Nahaufnahme. Es fließt kein echtes Blut auf der Bühne, und doch schmerzt es, bei dieser brutalen Realityshow zuzuschauen. Nicht wenige Zuschauer gehen noch vor dem Ende der Vorstellung. Für den ungarischen Regisseur ist der Film das gültigste Medium. Das Kino "kann mit der Aufnahmetechnik Wahrheit zeigen. Es kann Wahrheit zeigen, weil man die echten Dinge des Lebens sieht", sagt er. Aber braucht Wahrheit wirklich die grenzenlose Radikalität der Darstellung, das schonungslose Sichtbarmachen von Gewalt? Für Mundruczó wohl schon.

Gefühlvolle Sehnsuchtsmomente gibt es an diesem Abend nur in der musikalischen Unterbrechung. Dann schnappen sich die Schauspieler das, was im Truck herumliegt und machen damit Musik, funktionieren Mülleimer, Bügeleisen und Nähmaschinen zu Instrumenten um und singen Hits wie "What the World Needs Now Is Love" oder "Oh Mamy Blue". Diese Musicaleinlagen sind ironische Brechungen, vor allem aber erholsame Feuerpausen zwischen den anstrengenden Szenen menschlicher Niedertracht. Ein anderes Gesicht der dargestellten Figuren offenbaren sie hingegen kaum.

Gewalt erzeugt Gegengewalt

Auch die Rahmenhandlung droht angesichts der dargestellten Brutalität in die Kitschfalle zu tappen. Mundruczó verarbeitet in "Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein" den gleichnamigen Sciencefiction-Roman der russischen Brüder Strugatsky. Deren Protagonist Anton beobachtet die Menschen und ihre barbarischen Instinkte. Auch Mundruczós Doktor im Schlepper-Truck kommt von einem fernen Planeten, er soll das Prinzip Menschenhandel und Prostitution bloß observieren, niemals aber eingreifen. Er wird es nicht schaffen. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Die ist in diesem Fall fast ebenso unerträglich anzusehen wie im realen Leben. Das hängt nach. Aber die Konsequenz der Darstellung unterdrückt jedes subtilere Moment der von Mundruczó geforderten Wahrheit.

 

Nehéz Istennek Lenni – Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein
von Kornél Mundruczó
Text/Regie: Kornél Mundruczó, Koautor: Yvette Bíró, Bühne und Kostüme: Márton Ágh, Musik: János Szemenyei, Dramaturgie: Éva Zabezsinskij.
Mit: Annamária Láng, Kata Wéber, Diána Magdolna Kiss, Orsi Tóth, Roland Rába, Gergely Bánki, László Katona, János Derzsi, Rudolf Frecska, Zsolt Nagy.

www.theaterderwelt.de

 

Mehr zu Kornél Mundruczó? Im Herbst 2009 eröffnete er mit der Uraufführung von Judasevangelium oder Verrat ist deine Passion die Saison in der Hamburger Thalia-Nebenspielstätte Gaußstraße, bei der Wiesbadener Bienale "Neue Stücke aus Europa" 2008 zeigte er sein Frankenstein-Projekt.

 

Kritikenrundschau

Erschreckend nah sei Kornél Mundruczãs "Es ist nicht leicht ein Gott zu sein", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (20.7.2010). Phantastische Schauspieler heben die Grenze zwischen Sein und Schein auf, Lastwagen dienen im Gruga-Parkhaus als Bühne. "Und wieder ein Schock: Um sich an seinem Politiker-Vater zu rächen, dreht der Sohn nach, was damals passierte, als der Vater die Tochter schwängerte und dann tötete. Die Dreharbeiten laufen aus dem Ruder, Huren werden misshandelt und sterben, fast alle kommen um, nur der Gott nicht, der gesandt wurde, sich auf der Erde umzusehen." Was man sieht, treibt viele Zuschauer in die Flucht. Doch dies helfe nichts, "die Welt ist so".