Blitzblanke Vitrinenscheiben

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 26. Juli 2010. Da hat Antigone ihren blinden Vater nach jahrzehntelangem Umherirren also nach Kolonos geführt, in den heiligen Hain vor Athen. Darf er sich dort überhaupt niederlassen, der geächtete Alte? In Theben war er ja verstoßen worden, nachdem er, ohne es zu wissen, seinen Vater ermordet, seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hatte. Selbst hat er sich damals geblendet aus Verzweiflung und Selbsthass. Was haben die Götter da bloß angerichtet!

Aber jetzt hat Ödipus ausgebüßt, jetzt haben die Himmlischen sein Ende angebahnt, jetzt wird nicht mehr gehadert. Die Stadt, in der er sterben wird, werde besonders stark sein, wurde ihm einst orakelt. Das macht den Greis zum gern gesehenen Gast, zum Human-Glücksschweinchen.

Ungemildert klassische Sprachkraft

"Ödipus auf Kolonos" des uralten Sophokles gehört nicht zu den Favoriten auf dem Theater. Da wird in jeweils riesigen Textmengen Unterschiedliches verhandelt: Ob Ödipus überhaupt Gastrecht bekommen darf zuerst. Dann sprechen der alte Kreon und der junge Polyneikes vor bei Ödipus. Sie wollen ihn auf ihre Seite ziehen und mit seiner Hilfe jeweils für sich die Thronrechte in Theben sichern. Aber sie haben schlechte Karten. Altersmilde und Vergebung sind keine Antiken-Tugenden. Theseus, dem Herrscher in Athen, gehört jetzt die Sympathie des Alten. In Athen möchte Ödipus sterben, und da kommt nach über zweieinhalb Stunden Zeus' Ungewitter und damit die himmlische Apotheose des Geschundenen. Daran schließt sich noch ein reportagehafter Bericht des Boten an und ein üppiges Lamento der Töchter Antigone und Ismene.

Einen langen Atem braucht's also, auf und vor der Bühne, für "Ödipus auf Kolonos". Von bestem, altklassischen Schauspielertheater ist zu berichten nach der Festspielpremiere auf der Pernerinsel in Hallein. Peter Stein ist ein Theatermann aus altem Schrot und Korn, und er ist humanistisch gebildet obendrein. So hat er seine eigene Übersetzung gemacht, und die kommt daher in ungemildert klassischer Sprachbildkraft. Da wird einem kein Nebengedanke geschenkt, kein weitschweifiger Ausritt in die weitverzweigten Mythenlandschaften und Göttergefilde: Peter Stein eben in seiner an Besessenheit grenzenden Detailverliebtheit.

Er redet, redet, redet

Aber er hat mit Klaus Maria Brandauer und mit dem Team des Berliner Ensembles die rechten Leute, die das Publikum hineinzwingen in die Endlos-Schleifen antiken Denkens. Da sitzt also Brandauer auf einem unbequemen gusseisernen Sessel, vor dem mit rostbrauner Mauer umgebenen graugrünen Olivenhain. Und er redet, redet, redet. Seitenweise. Auch die "Stichwortbringer" laden respekteinflößende Wortschwälle ab.

Faszinierend, dass man dabei kaum einmal abrückt von Wohnzimmer-Lautstärke. Die handwerkliche und sprechtechnische Meisterschaft äußert sich gerade darin, dass niemand ausklinkt. Ganz selten wird Brandauers Stimme schneidiger, spiegelt sie innere Erregung – und auch dann schwingt die Erschöpfung des Greises mit. Das ist eine Klasse für sich.

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"Ödipus auf Kolonos"     © Monika Rittershaus

Durchmodelliert bis zur letzten Haarsträhne

Jürgen Holtz lässt den im Rollstuhl daherkommenden Kreon verschmitzt quasseln ("Es ist ein Unterschied, viel reden oder zutreffend") und alle Überredungskunst aufbieten. Christian Nickel ist ein unaufgeregter, eleganter Theseus, Martin Seifert ein nicht minder souverän-ruhiger Bote. Interessant: Die einzige Rolle, die juvenilem Überschwang anböte, vergeigt der etwas hölzern wirkende Dejan Bućin als Polyneikes. Emanzipationsbewusste Menschen müssen sich die Haare raufen angesichts der pausbäckig dienenden Antigone (Katharina Susewind) und der mit Vorliebe devot buckelnden Ismene (Anna Graenzer).

Ein Dutzend Herren gibt den Chor. Ihn hat Peter Stein aufgesplittet, aus dem Unisono wächst durch Solo-Wortmeldungen ein imaginärer Dialog. Hochmusikalisch, im Wortrhythmus pointiert, im Timbre ausgewogen kommen die Elogen, die doch alles andere sind als Äußerung einer tumben Masse. Manche der Zwölf, die für das Athener Volk stehen, gehen am Stock, einen beutelt der Parkinson, jeder hat seine Auffälligkeiten – es sind also keineswegs uniforme Herren in Anzügen und breitkrempigen Hüten. An dieser Stelle ist ein Loblied auf die Kostümbildnerin Moidele Bickel angebracht, die mit unaufdringlicher Differenzierungskunst Schau-Stoff liefert. Ödipus selbst ist in seinem bemitleidenswert schäbigen Gewand ja auch als eine Kunstfigur bis zur letzten unartigen Haarsträhne gleichsam durchmodelliert. Joachim Barth rückt das in wundersam unaufdringliches Licht.

Archäologische Bruchstücke, sorgsam gereinigt

Warum aber ist man am Ende drei Stunden gesessen, in einer perfektionistischen Aufführung, bei der man nur deshalb gelegentlich auf die Uhr gesehen hat, um vorgewarnt zu sein: Nach zweieinviertel Stunden nämlich komme ein Riesenknall, heißt es auf ausgehängten Zetteln, und es wurden auch vorsorglich Ohrenstöpsel verteilt. Gar nicht schlimm, das war nur der tatsächlich laute Zeus'sche Befreiungsschlag – die Entrückung, Erhöhung, Versenkung des Ödipus im Olivendickicht. So genau weiß das ja nicht mal der Bote zu sagen.

Was also hat's wirklich gebracht? Werden Botschaften destilliert, heutige gar? Wir haben uns bereitwillig hineinziehen lassen ins antike Denken von Schuld und Sühne, im günstigsten Fall nachgedacht über die unterschiedlichen Erlösungsvorstellungen von antiken Göttern und unserer christlichen Welt. Gerne haben wir uns hineinzwingen lassen in eine konzentrierte Atmosphäre einer Antikenschau quasi im Originalton. – Und doch gibt's herzlich wenig mitzunehmen aus diesem Theater, das Sentenzen bereitlegt wie sorgsam gereinigte archäologische Bruchstücke im Museum. Wertkonservative freilich dürfen sich freuen über Peter Stein als Direktor dieses Antikenmuseums und sein Team. Da herrscht Übersicht und Ordnung, und die Vitrinenscheiben sind blitzblank geputzt.

 

Ödipus auf Kolonos
von Sophokles
Regie und Textübersetzung: Peter Stein, Bühne: Ferdinand Wögerbauer, Kostüme: Moidele Bickel, Licht: Joachim Barth, Dramaturgie: Hermann Beil, Viktoria Göke.
Mit: Klaus Maria Brandauer, Katharina Susewind, Anna Graenzer, Christian Nickel, Jürgen Holtz, Dejan Bućin, Roman Kaminski, Martin Seifert.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr Peter Stein? Im Juni 2010 triumphierte Stein bei den Wiener Festwochen mit seinem zwölfstündigen Dostojewski-Marathon I Demoni. Mit Klaus Maria Brandauer als Dorfrichter Adam inszenierte Stein 2008 am Berliner Ensemble Der zerbrochne Krug. Brandauer war 2007 in Berlin auch Steins Wallenstein.

 

Kritikenrundschau

"Ein wahres Festspiel. Seit langem wieder", freut sich erwartungsgemäß Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.7.2010). Beide preist er, Regisseur und Schauspieler: "Das Märchenhafte, Gotteskitschige treiben Stein und Brandauer dem Endspiel sofort aus." Um dann noch Seitenhiebe auf die Anderen zu verteilen: "So hat Peter Stein aus dem Schauspieler Brandauer, der zu Zeiten immer nur sich selbst spielte, in einer überragenden Trilogie des Wiederspielens einen Schauspieler gemacht, der, von Schiller über Kleist zu Sophokles, das Wagnis einging, das Terrain zwischen Kopf und Welt zu durchforschen wie einen fremden, ganz unbrandauerischen Kontinent. Ein Wagnis, das mindere Theatergeister gar nicht mehr eingehen. Eine symbiotische Intelligenzverbindung auch zwischen Regisseur und Schauspieler, wie sie heute nur noch als aus aller Zeitgeisterei gefallene Tollheit denkbar ist."

"Was für ein Krawumm!", wundert sich Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.7.2010) über den Schluss von Steins "text- und ordnungsgemäßem Reifeerzeugnis". Weil nach dem Knall die Scheinwerfer von hinten grell aufblenden, nehme man die Nachbereitung des Dramas durch den Boten und die Hinterbliebenen nur noch getrübt wahr. "Was freilich auch an der Dauer dieser doch sehr hehren Kunstanstrengung und der immer stickiger werdenden Luft in der Theaterhalle auf der Perner-Insel liegen könnte. Das Saallicht bleibt in dieser letzten Viertelstunde gnadenlos an. In einer Tragödie, und sei sie auch so undramatisch wie Sophokles' 'Ödipus auf Kolonos', muss schon auch gelitten werden." Einzig der "neuen, luziden, hörbar geschmeidigen Übersetzung" kann Dössel etwas abgewinnen.

"Statuarisches Sprechtheater" erlebte auch Margarete Affenzeller, wie sie im Wiener Standard (28.7.2010) schreibt. "Diese eigenbrötlerische, an jedweder Idee zeitgenössischen Theaters ignorant vorbeiziehende Haltung hat aber etwas: Gerade in ihrer Unzeitgemäßheit entfaltet sie eine bestimmte Wirkung." Jedenfalls für Momente: "Doch diese Wirkung hält nie lange an, der Charme archaischer Stimmungsmache hört da auf, wo die Verständigung mit einem grob zweieinhalbtausend Jahre alten Text sich selbst überlassen wird und sich die historische oder im besten Fall zeitlose Aufführungspraxis in hohle Formen verkehrt."

Durchweg hingerissen hingegen zeigt sich Ulrich Weinzierl in der Welt (28.7.2010). Die Inszenierung preist er als "die schönste Zumutung, die das deutschsprachige Theater derzeit zu bieten hat". Brandauer sei "ein großer, wunderbarer Schauspieler, einer der größten, die wir haben". Und der Chor? "Stein zaubert aus dem humpelnden Altmänner-Dutzend ein Gruppenbild der Individualitäten, schwankend zwischen Weisheit und Geschwätzigkeit, Mut und Kleinmut. Wir kennen solch opportunistisches Völkchen, brauchen nur in den Spiegel zu schauen."

Ganz anders Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (28.7.2010): "Letztendlich ist alles so inszeniert, als sei der alte Sophokles wieder auferstanden, schon dass er wirkliches Theater machen muss, ist für diesen großen Geist eine Kränkung. Naiv bis zur Hilflosigkeit gegenüber dem Text außer bei Chor und Brandauer." Der Rest: "vollkommen körperlos."

Im letzten Jahr nutzte Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede für eine Attacke auf die vermeintlichen Irrwege des sogenannten Regietheaters. Ein künstlerisches Statement in die gleiche Richtung ist die "Ödipus auf Kolonos"-Inszenierung von Peter Stein, schreibt Joachim Lange in der taz (30.7.2010). Stein verpasse seinem Ödipus die große altmeisterliche Attitüde. "Seine monologisierende Lebensweisheit bürdet Stein seinem Favoriten für die großen Rollen, Klaus Maria Brandauer, auf." Doch der sei, wider Erwarten, diesmal nicht das Problem, sondern tatsächlich die Rechtfertigung des pausenlosen Dreistunden-Abends. "Ohne Selbstdarstellereitelkeiten liefert er eine Glanzleistung, macht aus dem Stuhl, auf den ihn Peter Stein gebannt hat, einen Mimen-Thron, vor dem jeder Vorbehalt verblasst!"

Ganz anders Anne Peter in der Berliner Morgenpost (27.8.2010) anlässlich der Berlin-Premiere: Hemmungslos überspielt wirke vieles bei Brandauers Ödipus. "In liebevoll verlotterter Montur, mit dunkel geschminkten Augenhöhlen und wirrem Haar zerrt Brandauer sich die Rolle derart nah auf den Leib, dass dieser österreichelnde Ödipus fast wie eine älter gewordene Version seines verschlagenen Richter Adam aus Steins BE-Inszenierung des 'Zerbrochnen Krugs' daherkommt. Dort passte es, dass Brandauer sich in der Rolle genüsslich breitmachte, hier wirkt es vor allem eitel und schiebt die Figur aus der Gebrochenheit in Biertisch-Nähe."

An Schlingensief erinnert sich Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (27.8.2010) und an die anderen Sommer-Toten, um dann zu beklagen: "Steins Theater erstarrt in Statik." Schaper rätselt über gewollte und unfreiwillige Komik und resümiert: "Auch mit klassizistischem Arrangement kann man ein Stück zerstören, ins Seelenlose wenden. Es zeigt sich dann nur nicht gleich so offensichtlich. Jäher Tod, zähes Schwinden: Am Ende einer traurigen Woche bringt dieser abschwellende Bocksgesang keinen Trost."

Einen Fall von "Selbstbetrug" macht Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (27.8.2010) aus: "Es ist ein Theater, das als Literaturtheater auftritt, in Wahrheit indes schlimmstes Regietheater ist. Dass Brandauer, Stein, die Zuschauer, der Theaterbetrieb dennoch glauben, was sie sich einreden, muss nicht verwundern: Solche Selbstbetrugs-Tricks sind ja auch sonst sehr erfolgreich." Brandauer spiele "einen eitlen Grantler, der noch die letzte Faser seiner Figur mit sich selbst verzwirbelt. Immer mimt Brandauer einen stolzen Brandauer, der als stolzer Brandauer den Ödipus spielt." Ansonsten wird vermeldet, dass, anders als in Salzburg, keine Ohrenstöpsel verteilt wurden.

 

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