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"Tod in Theben" © Arno Declair
Die im Dunkeln sieht man nicht

von Joachim Lange

Salzburg, 11. August 2010. Der Stoff hat es in sich. Immer noch. Auch in Jon Fosses eingedampft nacherzählender Version. Immerhin ermordet Ödipus unwissentlich seinen Vater, heiratet seine Mutter und zeugt mit ihr Kinder, die demzufolge zugleich seine Geschwister sind. Obendrein erzwingt er selbst die Enthüllung dieses Verhängnisses in aller Öffentlichkeit, mit allen Folgen, die das zwangsläufig hat. Das Schicksal des Ödipus und seiner Nachkommen war und ist ein Schocker. Man kann es als Synonym für das Tragische schlechthin nehmen. Dieser Stoff ist, in welcher Version auch immer, per se schon mal großes Theater.

Und er passt fabelhaft zum Motto der diesjährigen Salzburger Festspiele: "Wo Gott und der Mensch zusammenstoßen, entsteht Tragödie". Zum Problem wird allerdings der direkte Vergleich, den das vor Ort provoziert. Als Eröffnungspremiere hatte nämlich Peter Stein "Ödipus auf Kolonos" auf der Perner Insel in Hallein inszeniert. In Jon Fosses Stück "Tod in Theben", das Angela Richter jetzt im Rahmen des Young Direktors Projekts als deutschsprachige Erstaufführung herausgebracht hat, bildet diese Tragödie des alten Sophokles den Mittelteil. Was wie eine freundlich ermunternde Pointe der Programmplanung aussieht und einem Kampf Davids gegen Goliath ähnelt (so die Regisseurin), wird allerdings, man muss es leider sagen, zu einem Bumerang für David.

Auf der Hörspielprobe

Bei Fosse ist die Geschichte vom Tod des Ödipus auf Kolonos, handlungschronologisch richtig, von König Ödipus und Antigone eingerahmt. Aus dem Norwegischen hat Hinrich Schmidt-Henkel das Ganze in ein unspektakuläres Deutsch übertragen. Einem Vergleich mit Peter Steins altmeisterlichen Sophokles-Exerzitien, die wegen (und nicht trotz) Klaus-Maria Brandauer zu einem großformatigen Schauspieler-Abend wurden, geht Angela Richter allerdings aus dem Weg, weil sie ihrem Ödipus fast völlig das Licht abdreht.

Doch diese Dramaturgen-Idee, den Zuschauern, gleich dem König Ödipus das Augenlicht zu nehmen, funktioniert nur so lange, bis man sie verstanden hat. Dann wird sie zur Geduldsprobe, die keine neue Dimension eröffnet, mit der man näher an den tragischen Helden herangeführt würde. Der bleibt bei Yuri Englert auch im Dunkeln nur der im leicht beleidigten Ton Deklamierende, der er schon war, als man ihn zwischen den Lichterketten von Katrin Brack noch sehen konnte. Wer Brandauers (großen, leisen, anrührenden) Leidenston noch im Ohr hatte, mochte sich den aushilfsweise in Erinnerung rufen. Wer nicht, der war mit einer Hörspiel-Sprechprobe konfrontiert, der schlichtweg (mit Ausnahme von Christoph Theußl als Polineikes und Chor) die sprachliche Qualität und damit jede imaginierende Kraft fehlte, um sich daraus durch einen eigenen Beitrag diesen Teil des Abends als Theater im Kopf selbst zu komplettieren.

Begrenzt autonomer Charme

Überhaupt die Bühne. Es ist eine längst erprobte Grundidee (etwa bei Richters Inszenierung von "Der Fall Esra" auf Kampnagel), den Raum in einer Lichtinstallation aufzulösen. Jetzt hängen über 700 bunte Glühbirnen an Strippen wie ein Labyrinth von der Decke. Zwischen denen treten die Akteure an die Rampe, steigen mal auf Kisten, stülpen sich ab und zu archaische Masken über und liefern (mikroportverstärkt) ihren Text ab. Doch auch das, ohne wirklich einen eigenen Sound dafür zu finden.

Das Angebot des Fosse-Textes, assoziative Räume hin in die Gegenwart zu öffnen für das Exemplarische des Falles Ödipus oder auch für seine gesellschaftliche Dimension, bleibt in den zweieinhalb pausenlosen Stunden ungenutzt. Stattdessen verheddern sich Angela Richter und Katrin Brack hoffnungslos in ihren Lichterketten. Diese ziemlich diffuse, endlos wirkende Dunkelheit aus Licht drängt sich eitel soweit vor, dass sie das Stück zur Textinstallation degradiert.

Das mag begrenzt einen autonomen Charme haben, unter- bzw. erschlägt aber das Theater. Die eigentliche deutschsprachige Erstaufführung der ersten Bearbeitung eines antiken Stoffes durch Jon Fosse steht damit im Grunde noch aus. Gelassen reagierte das Festspielpublikum bei der Salzburger Premiere. Ob auch das auf den weiteren Stationen in Hamburg (Kampnagel), Berlin (Hebbel am Ufer) und Leipzig (Centraltheater), wird sich zeigen.

 

Tod in Theben (DEA)
von Jon Fosse nach Sophokles
aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel (König Ödipus / Ödipus auf Kolonos / Antigone)
Regie: Angela Richter, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Steffi Bruhn, Musik: Dirk von Lowtzow/ Tocotronic, Video: Philipp Haupt, Licht: Carsten Sander, Dramaturgie: Jens Dietrich.
Mit: Yuri Englert, Sarah Franke, Dietrich Kuhlbrodt, Eva Löbau, Ingolf Müller-Beck, Jörg Ratjen, Oana Solomon, Christoph Theußl.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr zu Angela Richter? Im Januar 2010 dachte sie in Wien öffentlich über die Krise nach, im April 2009 inszenierte sie Der Fall Esra nach Maxim Billers verbotenem Roman auf Kampnagel in Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Die bereits beim "Fall Esra" bewährte Lichtinstallation von Katrin Brack - Aberhunderte, bunte Glühbirnen hängen an Schnüren zu Boden und geben dem Raum gewaltige, labyrinthische Tiefe - "ist das Atout im sonst nicht sonderlichen starken Inszenierungsblatt, so Ulrich Weinzierl in der Welt (13.8.2010). Am eindrucksvollsten gerate der kurze "Ödipus auf Kolonos"-Abschnitt: "Die Lichter sind beinah bis zum Verlöschen herab gedimmt, die Musik von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzows Klänge erzeugt eine sanft unheimliche Stimmung." Diese Hörspielreise in die Ewigkeit der Milchstraße und des Mythos böte die Chance für magische Momente. "Doch die Darsteller sprechen nicht auf erforderlichem Niveau, und in der Finsternis ereignet sich manche Wortkollision." Überhaupt liege das Hauptproblem der recht unfertig wirkenden Aufführung im Mangel an sprachlicher Präzision und Gestaltungskraft.

Die Reduktion auf das Wesentliche und das Spannen des dramaturgischen Bogens - im Zentrum steht nicht so sehr Ödipus, sondern sein Schwager/Onkel und Widersacher Kreon - setze Angela Richter mit radikaler Konsequenz um, schreibt Thomas Trenkler im standard (13.8.2010) über den Abend, der in der Unterzeile als "fulminant" bezeichnet wird. Yuri Englert sei als Ödipus vor allem fassungslos, Ingolf Müller-Beck als Kreon schon von Beginn an subtil zwielichtig. Eva Löbau imponiert als unerschrockene Antigone - und Christoph Theußl, hörbar ein Österreicher, ist als Einmannchor ein wunderbarer Kommentator. "Wären die Patzer der Schauspieler nicht gewesen: Die Premiere wäre ein voller Erfolg gewesen."

Katrin Bracks Licht-Installation ist eine willkürliche Setzung, muss aber bespielt werden, sagt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (13.8.2010). "So bringen die Schauspieler die Lichterketten mal zum Schwingen, mal verirren sie sich zwischen ihnen. Im zweiten Teil 'Ödipus auf Kolonos' erlischt das Licht ganz." Richter lasse dieses hier nur als Überleitung zur 'Antigone' angelegte Zwischenspiel als Hörspiel in kompletter Dunkelheit geben. "Fast hat man den Eindruck, als scheute die Regisseurin den Vergleich mit den Legenden Peter Stein und Klaus Maria Brandauer, die bei den Festspielen das Original auf die Bühne gebracht haben." Die Finsternis habe etwas von einer Schwärzung, einer Selbstzensur, einem freiwilligen Bilderverbot. Zu unbeholfen und pseudo-naiv seien die Versuche, "mit Hilfe von Masken, verfremdeten Stilzitaten und zeichenhaften Ausdrucksgebärden archaische Elemente in die Pop-Ästhetik einzuschleusen." Und auch hier schon vielsagend die Unterzeile der Kritik: "Kurzatmige Langeweile: Angela Richter misslingt Jon Fosses Thebanische Trilogie."

Kommentare  
Tod in Theben in Salzburg: Fehlbesetzung!
Typischer Fall von Fehlbesetzung! Wie konnte man - und vor allem die Regisseurin selber - glauben, dass Frau Richter mit einem Sprachkünstler wie Fosse zurecht kommen könnte? Mit der hier grundsätzlich als Abwertung verstandenen Inszenierungsart der Textinstalltion hat Richter bisher ganz schöne Abende zusammengestellt, man denke an Esra in Hamburg! Dabei hat ihr natürlich immer das kongeniale Netzwerk beiseite gestanden, dass sie und ihr Malergatte über Jahre gesponnen haben. Das ist von mir nicht einmal als Abwertung gemeint, denn wieviele Theaterleute schaffen es überhaupt, über ihren Tellerrand zu schauen? In Salzburg, so denkt man jetzt allerdings, hat es der Strippenzieherei ein wenig zu viel des Guten gegeben: Herr Richter powert mit Rihm die A-Produktion, Dionysos, der Festspiele auf die Titelseiten der Magazine, und so hat man sich gewünscht und gedacht, warum nicht auch gleich die (...) Ehefrau mit ins Blitzlicht stellen? Daniel Richters Salzburger Galerist sitzt übrigens in der Jury des "Young Director Projects", und so lief alles wie am Schnürchen. Noch Tocotronic-Frontman von Lotzow noch mit ins Boot geholt ... , nur hat man die Rechnung ohne Herrn Fosse gemacht! Gut, dass sich Theater an allzu platten PR-Strategien noch selber rächt. Pech für die Leiter von Kampnagel, HAU und Centraltheater, die mit diesem Reinfall noch ihre Häuser füllen müssen. Aber es wir bestimmt noch einige befreundete Journalisten geben, die den Karren wieder aus dem Dreck ziehen!
Tod in Theben in Salzburg: schlimmer als unter Karajan
Die Salzburger Festspiele sind tatsächlich am Ende. So etwas langweiliges und biederes (beim Young Directors Project zudem!) wie dieses Jahr habe ich noch nie gesehen. Erst wird Max Reinhardt mit einem Sponsoringveranstaltung, getarnt als Picknick mit Amateurtheater "gefeiert", Jossie Wieler zeigte zum xten Mal seinen Hang zur auspsychologisierten Öde, "Jedermann" schmierte und brüllte sich nuancenlos als chargierende Musikantenstadlvariante durch die Salzurger Altstadt, Stein remusealiserte Brandauer, dann zeigte das YDP, der Füllerwettbewerb, zig mal bereits gespielte, angestaubte Gastspiele. Dafür braucht es keine Festspiele, das macht sogar zB. das Landestheatertheater St.Pölten (mit Gastspielen von Rene Pollesch, Peter Brook, Joseph Bierbichler) mutiger. Der Peter Doig Epigone Daniel Richter (in Wien bereits "der malende Morak" genannt und von der NZZ gemeinerweise als neuer Makart tituliert) pinselt ein hanebüchenes Bühnenbild für "Lulu" zusammen, dessen Galerist sitzt in der Jury für Richters Ehefrau. Kann das alles wahr sein? Das hätte Thomas Bernhard nicht bizarrer erfinden können. Jetzt fehlt nur noch die Koproduktion von Matthias Hartmann, dem ehemaligen Chef von Oberender in Bochum und Zürich, und die inzestuöse Kunstvernichtung hat ihr Ziel erreicht. Das ist ja alles schlimmer wie unter Karajan. Ein Theater für die Seitenblicke Gesellschaft, anspruchslos und anbiedernd, ein Theater für die katholische, rechtskonservative Gesellschaft in Österreich, Theater als pure Tourismusveranstaltung. Für so etwas Künstler wie Reinhardt und Zweig posthum zu missbrauchen, ist ein Skandal. Dieses inhaltsleere, haltungslose Theater hat nichts mit Kunst zu tun, vielmehr erinnert es an Zeiten, als zB. Brecht- Schauspieler noch Spiel- und Berufsverbot in Salzburg hatten. Und die Zukunft verspricht noch reaktionärer zu werden. Damit hätten Jörg Haider und seine konservative Klientel ihr Ziel erreicht.
Tod in Theben in Salzburg: nicht der schicksalhafte Verlauf ist tragisch
Tragik?
Immerhin ermordet Ödipus unwissentlich seinen Vater, heiratet seine Mutter und zeugt mit ihr Kinder, die demzufolge zugleich seine Geschwister sind. Obendrein erzwingt er selbst die Enthüllung dieses Verhängnisses in aller Öffentlichkeit, mit allen Folgen, die das zwangsläufig hat. Das Schicksal des Ödipus und seiner Nachkommen war und ist ein Schocker. Man kann es als Synonym für das Tragische schlechthin nehmen.

Zugegeben, Laios, der Vater von Ödipus tritt in dem Stück von Sophokles gar nicht mehr auf, er ist längst tot, wenn das Stück beginnt, von ihm wird nur noch erzählt. Dennoch ist Laios die zentrale Figur der Geschichte. Zur Strafe dafür, daß er mit einem königlichen Knaben rumgemacht und diesen entführt hat, würde er - sollte er sich unterstehen, selbst einen Sohn zu zeugen - dereinst von diesem Sohn erschlagen werden. Damit fängt das Schlamassel an.

Laios, die treibende Kraft in der Geschichte wird in der Ödipus-Rezeption - sei es die philologische, die psychologische oder die theatralische - verdächtig weit in den Hintergrund geschoben. Wenn von ihm überhaupt die Rede ist, dann als bedauernswertes Mordopfer seines eigenen Sohnes. Eine rühmliche Ausnahme bildet die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller. Miller beklagt, alle Welt rede von Ödipus und seiner Schuld oder Nichtschuld oder schuldlosen Schuld, während kaum einer mehr als einen flüchtigen Gedanken an Laios, den - wie gesagt - eigentlichen Urheber der Tragödie, den Haupttäter verschwende.
Wer sich auf diese Sichtweise von Alice Miller einläßt und den Ödipus-Mythos von Laios ausgehend betrachtet, dem kippt auf einmal die vertraute Geschichte. Sie verwandelt sich ihm in eine andere und er wird danach nie mehr die alte Geschichte im Ödipus-Mythos finden können.

Das ist ja gar nicht die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater tötet, seine Mutter zur Frau nimmt und mit ihr Kinder zeugt. Der Ödipus-Mythos ist vielmehr die Geschichte eines Mannes, der einem Mordanschlag entgeht, Jahre später seinen Mörder tötet und die Komplicin des Mörders in den Selbstmord treibt.
Das in die deutsche Sprache eingegangene jiddische Wort Chuzpe läßt sich mit "Frechheit, Dreistigkeit" so einigermaßen übersetzen, wobei allerdings selbst das Wort Dreistigkeit noch viel zu schwach ist. Was Chuzpe wirklich ist, erklären Anekdotenerzähler gerne durch die Geschichte von dem jugendlichen Elternmörder, der in seinem Schlußwort vor Gericht um mildernde Umstände bittet, unter Hinweis auf seinen Status als Vollwaise. Den Kindermörder Laios als Mordopfer zu bedauern, wie es die abendländische Geistesgeschichte seit der Antike macht - das macht der Chuzpe des Elternmörders ernsthafte Konkurrenz.
Seine Rache vollzieht Ödipus zwar nicht bewußt, aber er vollzieht sie. Und: Er vollzieht sie. Das Opfer vernichtet am Ende beide Täter. Eine Geschichte mit ausgleichender Gerechtigkeit, so befriedigend schön, daß sie im wirklichen Leben nur selten passiert. Eine wunderbare, versöhnliche Geschichte.

Und in der Tat ist bei Sophokles nicht der schicksalhafte Verlauf der Geschichte tragisch, sondern die Reaktion der Beteiligten auf die Enthüllung der wahren Zusammenhänge. Nicht das Schicksal schlägt am Ende den König Ödipus, sondern er sich. Er selbst inszeniert das tragische Ende des Stücks, weil er eine Ideologie in sich trägt, die ihn seine eigene Geschichte als Tragödie sehen läßt.

- Der Ödipus-Geschichte zwischen Laios und Ödipus fehlt im Grunde der Ansatz zur Tragödie.
Tod in Theben in Salzburg: Leben am ersten Tag des Agons
Wie das wohl war für einen freien Bürger Athens ...?

Ich stehe am Morgen des ersten Tages des Agons auf. Da ich zur bürgerlichen Elite der Stadt gehöre, ist für mich in meinem Haus bereits ein Bad vorbereitet. Nach dem Bad werde ich eingeölt und gekleidet. Mein Gewand wird in die vorgeschriebenen Falten gelegt. Ein leichtes Frühstück steht bereit. Bevor ich das Haus verlasse, gebe ich Anweisungen für das Abendessen. Ich werde Freunde vom Theater mit in mein Haus bringen. Ich küsse meine Frau, die nicht mit zum Theater kommen wird, da das eine Veranstaltung des öffentlichen Lebens ist, die einzig den freien Männern der Stadt vorbehalten ist. Und ich küsse meine Kinder. Unterwegs zum Theater kaufe ich verdünnten Wein, Käse und Obst für die Pausen zwischen den Aufführungen. Im Theater wähle ich einen Platz sehr weit hinten, obwohl ich mir der Tatsache bewußt bin, daß das nicht ganz meinem Stand entspricht. Aber in den letzten Jahren ist mir aufgefallen, daß eine größere Distanz zum Bühnengeschehen meiner Konzentration gut tut. Und der direktere Kontakt zur, etwas geschmähten, Unterschicht läßt mich den Bezug zum Leben in unserer Stadt nicht verlieren. Wir sind sehr elitär und überheblich geworden. Nach den endlosen offiziellen Zeremonien, die den Beginn des Agons bestimmen und der irritierenderweise bei meinen Banknachbarn soviel Begeisterung auslöst, freue ich mich auf den Einzug des Chors. Der Anblick ist überwältigend. Die Kostüme sind heute von viel größerer Leuchtkraft und die Masken von soviel stärkerer Expressivität als im vergangen Jahr. Zum Beginn des zweiten Stasimons schlafe ich gewöhnlich ein. Es wird auch heute kein Verlust sein, da Rede und Gegenrede des dritten Abschnitts ohnehin über die eigentliche, bleibende Wirkung des Tages bestimmen werden. Das Satyrspiel zum Ende ist ein Feuerwerk aus Ideen und Esprit. Ich bin mir sicher, das dieser neue junge Dichter, Sophokles soll er heißen, dieses Jahr das Rennen machen wird. Aischylos wird furchtbar sauer sein. Er wird wohl die Stadt verlassen. Seine Tetralogie wird erst morgen aufgeführt. Aber ich denke, seine Zeit ist vorbei. Ich werde sicherlich nicht umhin können, diesen schrecklich schwatzhaften, obgleich äußerlich reizvollen, Euripides mit einladen zu müssen. Er schreibt angeblich auch. Aber bisher ist keines seiner Werke zum Agon zugelassen worden. Mein Sohn mag ihn. Er wird zu unserer Erheiterung beim Abendessen beitragen. Obwohl, wenn er anfängt zu singen, dann schmeiße ich ihn raus. Es ist dieses Jahr wieder sehr heiß in der Stadt.
Tod in Theben in Salzburg: politischer Kontext
Sehr geehrter Herr Heinrich,
ich befürchte, daß sowohl Sie als auch Frau Miller (leider vor wenigen Monaten gestorben - das heißt, eben leider auch: Wir können mit ihr nicht mehr diskutieren. - Manchmal, sehr sehr selten, wünschte ich, der Mensch wäre unsterblich - infantiler Allmachtsanspruch! Ich weiß.) daneben liegen.

Also, d.h. , ich befürchte, daß Sie mit Ihrem Interpretationsversuch (?) eines der Stücke (Ödipus Rex), das Fosse verführt haben mag, den gesamten Mythos in Eines zu fassen, nur die Folie des Mythos der LABDAKIDEN streifen, und damit die sophokleische Intention, sich mit diesem/ diesen Stoffen/ Mythen zu beschäftigen, verfehlen.

Die Idee, die überlieferten Stücke des "Thebanischen Sagenkreises" chronologisch (dem Mythos nachfolgend) zu sortieren ist ja nicht direkt neu (gleichwohl nicht verwerflich). Aber, und da ist der eigentliche Hacken an der Sache, den es durchaus auch heute im Theater (oder meinetwegen in der Literatur zu bewältigen) gilt: Die Stücke (!) entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, und das eben keineswegs chronologisch, sondern in einem jeweiligen !politischen! Kontext, wie Sie sicher wissen. Also die "Antigone" war ein Frühwerk Sophokles', entstanden kurz nach der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, wenn wir den Historikern glauben dürfen, der "König Ödipus" etwa dreißig bis fünfundzwanzig Jahre vor Ende eben dieses Jahrhunderts und der "Ödipus auf Kolonoss" zum Ende des fünften Jahrhunderts v.C. - ein Alterswerk also. (Sophokles, über 80ig jährig - wenn den Quellen zu trauen ist - ein bedeutender Bürger in Athen, der mehrere "Staatsämter“ inne hatte - unter anderem war er "Stratege" - trug auf Antrag seiner Nachkommen, die ihn dringend beerben und deshalb für unmündig erklären lassen wollten, weil der "alte Sack" nicht einfach sterben wollte, den gesamten!! "Ödipus auf Kolonoss" auswendig vor einer Kommission vor, um zu beweisen, daß er wohl Herr seines Geistes sei. – Er gewann.)
Sophokles, verglichen z. B. mit Euripides oder Sokrates, war ein Konservativer reinsten Wassers. Das soll, u.G.W. keine Abwertung sein. Es ist nur der Versuch, sein Werk einzuordnen: Es ist in erster Linie politische Erziehung, politischer Kommentar eines, zu Recht zur Elite der zweiten Hälfte des Fünften Jahrhunderts v.u.Z. gehörenden Geistesmenschen.
Emotional, psychoanalytisch, individuell sollten wir aber nur den Mythos nehmen, nicht aber das Werk von Sophokles, dessen Intentionen sehr wohl abstrakt-konkret aber nicht allgemein-konkret waren. Es geht in der Geschichte des Ödipus nicht um ein Individual-Schicksal. Vielmehr benutzt Sophokles den Mythos, um die neue politische Ordnung nach Perikles‘ Tod 429 v.u.Z., politisch-pädagogisch, „tagesaktuell“ und sicher auch philosophisch zu bewerten. Und dabei ging es ihm offensichtlich in erster Linie darum, der neuen politischen „Kaste“ einen Rückhalt beim „Volk“ zu liefern. Äußerst subtil und bewandert in der bis dahin bekannten dramatischen Ästhetik, liefert er ein Stück, um die „brennenden“ politischen Fragen gesellschaftlich zu kontextualisieren. Interessant wäre es zu wissen, welche drei weitern Stücke er in diesem Jahr/ in diesen Jahren geschrieben hat. Beim Agon, zu dem sein „Ödipus Rex“ ja uraufgeführt wurde, wurde ja bekanntlich eine Tetralogie vorgestellt: Drei Tragödien und ein Sartyrspiel zum selben Thema. – Worin mag der „Ödipus wohl eingebettet gewesen sein?- Oder zwanzig Jahre zuvor sein „Antigone“?
Selbstverständlich ist der „Ödipus“ eine Tragödie und die „Antigone“ auch. Nur dürfen wir tragisch eben nicht mit „traurig, schlimm, furchtbar“ o.ä. emotionalen Begriffen versuchen zu fassen. Die Tragödie ist (und bleibt) ein semantisch-ästhetisches Modell, eine Ordnung mit der Geschichte, Erziehung, Ethik, Moral und Politik vermittelt wurden. Der Lajos-Ödipus-Konflikt läßt sich heute vielleicht individuell-menschlisch interpretieren. Aber das ist m.E. nach nicht interessant: Es gibt in den Stücken so endlos viele Verweise auf einen Normenwechsel (Wertewandel – wie es heute gerne kurzgefaßt heißt), daß wir versuchen sollten, in der künstlerischen Interpretation dieser Werke eben diesen Wandel erfahrbar zu machen. Bei allen Tragödien-Dichtern, von denen wir wissen, daß sie sich mit diesem Mythenkomplex beschäftigt haben, ist aber davon auszugehen, daß sie dies wegen (für sie) klarer politischer Meinungsbildung getan haben. Und, wenn man versucht diesen Intentionen zu folgen, finde ich, eröffnet sich eine – ja – neue Welt, die Tragödien-Dichter und ihre Stücke zu betrachten. Die "Antigone" würde dann wahrscheinlich einmal mehr eines der!! Stücke!! überhaupt sein. Sie hat ja in der Tat ein paar Nachfolger: Jeanne d’Arc, Maria Stuart, Maria Magdalena (von Hebbel) …Wenn Herr Lange konstatiert, daß die Uraufführung des Fosse-Textes noch aussteht, dann bin ich mehr als gespannt, zu erfahren, wann und wo es diese geben wird.
Tod in Theben in Salzburg: biologische/soziale Mutter
5. Tod in Theben in Salzburg: politischer Kontext
Lieber Herr Ender,

"ich befürchte, daß sowohl Sie als auch Frau Miller (...) daneben liegen.
Also, d.h. , ich befürchte, daß Sie mit Ihrem Interpretationsversuch (?) eines der Stücke (Ödipus Rex), (...) nur die Folie des Mythos der LABDAKIDEN streifen, und damit die sophokleische Intention, sich mit diesem/ diesen Stoffen/ Mythen zu beschäftigen, verfehlen."

Ich muß bekennen, ein Mißverständnis verursacht zu haben. Was ich da oben gepostet habe, war nur ein Teil einer längeren Kette von Überlegungen. Bei diesen Überlegungen geht es mir weder um den Mythos selber, noch um seine Interpretation im Stück von Sophokles. Der Mythos und die Story, die Sophokles erzählt, gehen schon in Ordnung für das alte Griechenland, dort kommen sie her, dort passen sie hin.
Was mich ärgert ist diese Mythenhuberei, das Verbreiten des Gerüchtes, es seien die alten Mythen prallvoll mit Weisheit, die für alle Zeiten gelte.

So wird immer noch behauptet (und so steht es auch in dem Artikel, der Ausgangspunkt dieser Diskussion ist), es habe Ödipus unwissentlich seinen Vater ermordet, habe dann seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt. Ich lasse jetzt mal den Begriff "Mord" beiseite, der mir für diese Körperverletzung mit Todesfolge im Rahmen eines Streits um die Vorfahrt sehr unpassend erscheint.

Ich frage nach den Begriffen "Vater" und "Mutter".
Im fortpflanzungsbiologischen Sinne ist meine Mutter jene Frau, die mich ausgetragen und geboren hat, und Vater nennt man jenen Mann, der sein Sperma in besagte Mutter versenkt hat. Im entwicklungs- und sozialpsychologischen Sinn hingegen sind Mutter und Vater jene Personen, die mich großgezogen haben, die sich also nach meiner Geburt wie Vater und Mutter zu mir verhalten haben. Im Normalfall ist eine solche begriffliche Trennung ohne praktischen Wert, denn beide Begriffe treffen in der Regel auf die gleichen Personen zu.
Wenn aber nicht, was dann?
Zur Beantwortung dieser Frage braucht man die Erkenntnisse der Psychoanalyse nicht zu bemühen. Seit Konrad Lorenz in den dreißiger Jahren der Entenmutter ihre Mutterrolle alleine dadurch abgeluchst hat, daß er vor den frisch geschlüpften Entlein wie eine Entenmutter einhergestapft ist, wissen wir, wie begrenzt die Bedeutung der biologischen Elternschaft auch bei schon vergleichsweise hoch entwickelten Tiergattungen ist - zum Kuckuck aber auch. So gesehen sind Ödipus' Eltern - seine wirklichen Eltern - Merope und Polybos. Sie nehmen Ödipus als ihren Sohn an. Sie benehmen sich ihm gegenüber so, als wäre er ihr Sohn. Sie sind ängstlich bemüht, vor ihm die Tatsache der Adoption zu verheimlichen, um weder ihre persönliche Beziehung zueinander zu gefährden, noch den Anspruch von Ödipus auf den Thron von Korinth.
Im Gegensatz zu diesen beiden, die ihre Elternrolle mit sehr viel Aufwand spielen, tauchen Laios und Iokaste im Ödipus-Mythos lediglich als biologische Maschinen auf, die Ödipus - versehentlich! - erzeugt haben, um ihr Mißgeschick dann schnellstmöglich wieder zu vernichten. Der Plan des Kindesmordes mißlingt wegen des Ungehorsams des Hirten - und nur deswegen.
- Es ist ein frivoler, biologistischer Mißbrauch der Begriffe Vater und Mutter, Laios und Iokaste als Eltern von Ödipus zu bezeichnen.

(Ich wollte eigentlich noch einiges mehr dazu schreiben, bekam aber beim Einlesen in die Website die Rückmeldung, mein Kommentar sei zu lang; so was hatte ich schon befürchtet. Ich muß es also vorerst dabei belassen, meine vollständigen Überlegungen zum Thema finden Sie hier:

http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2008-4/Hei_Anm.htm

(Wenn Sie auf der Seite ganz nach unten scrollen, dann finden Sie einen Link, mit dem Sie den Artikel als (leichter lesbare) PDF-Datei herunterladen können.)
Tod in Theben in Salzburg: Fakten zur Entwicklung
Lieber abgefahren,
die Hintergrundinformationen, die sie in Ihrem Kommentar liefern, sind sehr unvollständig, so dass die Schlüsse, die sie aus Ihnen ziehen, bei einer Richtigstellung der Fakten leider gar nicht mehr plausibel sind.
Vor über zweieinhalb Jahren sah Herr Flimm Angela Richters Inszenierung von "Der Kirschgarten" auf Kampnagel in Hamburg und schätzte die Arbeit sehr. Seitdem gab es Gespräche über eine mögliche Kooperation beim YDP, Herr Oberender besuchte schließlich eine Vorstellung von Esra im letzten Jahr, was den entscheidenen Ausschlag für eine Beteiligung von Frau Richter gab. Die Entscheidung, dass Daniel Richter nach zwei Jahren zum zweiten Mal das Bühnenbild für eine Oper entwerfen würde, wurde viel kurzfristiger getroffen.
Mit Dirk von Lowtzow arbeitet Angela Richter seit über acht Jahren zusammen. Und was Ihre abwertende Bemerkung über die Verdienste des kongenialen Netzwerks bedeuten soll, wird mir ebenfalls nicht klar. Theater besteht grundsätzlich aus einer Zusammenarbeit von verschiedenen Künstlern, Schauspielern, Musikern, Regisseuren, Bühnenbildnern, hier haben schon immer die diversen Disziplinen einander neue Impulse gegeben!
Die Aufführung entwickelte sich übrigens nach dem Premierenabend stark weiter und führte in den Publikumsgesprächen nach den letzten drei Aufführungen zu kontroversen Diskussionen, gerade in Bezug auf den Umgang mit der Sprache Fosses, weshalb wir sehr auf die weiteren Aufführungen in Hamburg, Leipzig und Berlin gespannt sind.
Tod in Theben in Salzburg: Mensch, nicht Schuld im Vordergrund
Lieber Herr Dietrich, da bin ich aber froh, das sich das noch entwickelt, denn ich glaube kaum, das Frau Richter mit einer Geld-zurück-Garantie durch Deutschland touren will. Und überhaupt, was bedeutet denn Geld zurück, bekommt der Steuerzahler in Hamburg, Leipzig und Berlin sein Geld zurück, wenn ihm die Koproduktion nicht gefällt? Irgendwie scheinen mir hier die Relationen leicht verschoben. Experimentieren schön und gut, aber irgendwann muss das Ergebnis auch mal für sich stehen, ob gelungen oder nicht.

Zu Herrn Heinrich
Lieber Herr Heinrich, das ist so ziemlich das Merkwürdigste was ich bisher zum Ödipus gelesen habe. Ich will Ihnen ja nicht absprechen logisch richtig zu argumentieren, aber wozu? Benutzt denn heute jemand den Ödipus um herrschaftliche Thesen wie Sie sie aufstellen zu propagieren? Man muss Ödipus nicht gegen sich selbst verteidigen, er hat sich sein Recht selbst geschaffen, wie Sie es richtig darstellen. Die Lösung liegt tatsächlich im Ödipus auf Kolonos, hier entzieht sich Ödipus bewusst seinem weiteren Schicksal und nicht weil er seine Schuld eingesteht, sondern weil er sich aus ihr befreit hat. Er steht über allen Machtbestrebungen, die er einst selbst vertreten hat. Er ist im doppelten Sinne frei, frei von Schuld und frei von Macht, aber immer noch mächtig genug sein Schicksal selbst zu bestimmen. Von Goethe über Hölderlin bis zu Peter Handke haben alle die sich nach Sophokles mit dem Ödipus befasst haben, nicht die Schuld im Vordergrund gesehen sondern den Menschen.
Tod in Theben in Salzburg: schuldlos im Stillstand?
Sehr geehrter Herr Heinrich (wie komme ich eigentlich zu einer derartig nahen Anrede?),

nur eine kurze Antwort auf Ihre Einlassungen: Selbstverständlich begreift Ödipus Merope und Polybos als seine Eltern. Deswegen wendet er sich nach dem (für ihn furchtbaren)Orakelspruch auch von Korinth ab - nach Irgendwohin - weil er seine "Eltern" (Merope und Polybos) liebt und ihnen nicht schaden will - da ist er ganz Sohn. Er will dem Orakel widerstehen und manifestiert eine eigene Meinung. Er begreift sich als erwachsen - im sozio-psychologischen Sinn: Er entscheidet. Aber jetzt schlägt das SCHICKSAL zu: Wenige Stunden nach dem Orakrlspruch TÖTET er einen (ihm unbekannten) MANN, der im Alter (s)eines Vaters sein könnte. Um dann wiederum wenig später eine Frau zu ehelichen die im Alter (s)einer Mutter sein könnte. (?) Nach heutiger Konditionierung hätte er jedem Streit mit einem älteren Mann aus dem Weg gehen müssen und hätte sich jedwediger Avancen einer Frau, die älter als er selbst ist, erwehren müssen. Das hätte aber, so glaube ich, einen totalen Stillstand seines Lebens bedeutet. Da hätte er auch Selbstmord begehen können ... Sie sehen, so kommen wir dem Thema auch nicht erschöpfend nahe ... Ich schreibe demnächst mehr, wenn es Sie weiterhin intessiert.
Hertlichst
Eric Ender
Tod in Theben in Salzburg: keinen Vater erschlagen
Sehr geehrter Herr Heinrich,
Hier noch ein kleiner Text basierend auf dem Mythos:

Ödipus: Ja, ich habe einen Mann erschlagen. Einen alten Mann in einem Wagen! Wieso versperrte mir der blöde Alte auch den Weg. Hätte er nicht warten können, bis ich an ihm vorbeigegangen war. Er hoch auf seinem Wagen mit seinen Männern. Und ich zu Fuß. Der Weg, er war viel zu eng für uns. Das hätte er doch einsehen können. Aber nein, sie stellen sich mir in den Weg und drohen mir, dann schlagen sie mich. Auch der Alte schlug mich nieder. Mit seinem Pferdestachel. Hier, hinter das Ohr hat er mich schwer getroffen. Sein Gewand war getränkt von meinem Blut. Und das soll ein Vater sein, der so etwas tut. Wie hätte ich mich nicht wehren sollen gegen ihn. Hätte ich mich erschlagen lassen sollen. Ich habe einen Mann erschlagen. Aber nicht meinen Vater.
Tod in Theben in Salzburg: Ödipus, der Zufriedene
An Stefan
"Lieber Herr Heinrich, das ist so ziemlich das Merkwürdigste was ich bisher zum Ödipus gelesen habe."

Das freut mich, ich hoffe es ist tatsächlich merk-würdig.

"Ich will Ihnen ja nicht absprechen logisch richtig zu argumentieren, aber wozu?"

Nun, wenn ich bei etwas, das mich interessiert, irgendeine Unstimmigkeit entdecke, dann gehe ich dieser Unstimmigkeit nach. Vielleicht erweist sie sich ja als nur scheinbar unstimmig, weil ich nicht genau genug hingesehen habe. Bleibt die Unstimmigkeit allerdings, dann versuche ich sie aufzulösen.
Ich habe in meinen Überlegungen die archaische Geschichte mit den Moralvorstellungen unserer Zeit betrachtet. Das ist anachronistisch, klar. Aber anachronistisch sind auch jene, die uns einzureden versuchen, es seien die alten Mythen überzeitlich gültig, als sei die in ihnen enthaltene Weisheit über alle Epochen hinweg gültig.
Die Helden der alten Geschichten lebten in einer für uns völlig fremden Umwelt, in die wir uns nur mühsam und letztlich unzureichend hineindenken und -fühlen können. Diese Umwelt bedingte eine bestimmte Moral, die von unserer ziemlich verschieden ist. Mit der Moral von heute gesehen wurde Ödipus als Baby das Opfer eines Mordanschlags, dem er nur durch einen glücklichen Zufall entging. Später tötete er seinen Mörder (Laios glaubte bis zuletzt erleichtert, er habe seinen Sohn getötet) und trieb die Mittäterin in den Selbstmord. Ödipus ist am Ende von Sophokles' Geschichte quitt, wäre er einer von uns, so könnte er nun zufrieden nach Korinth zurückwandern, König von Korinth werden und seiner nunmehr verwitweten alten Mutter zur Seite stehen.

"Benutzt denn heute jemand den Ödipus um herrschaftliche Thesen wie Sie sie aufstellen zu propagieren?"

"Herrschaftliche Thesen"? Welche herrschaftliche Thesen stelle ich auf?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: grobe Schnitzer in guten Stücken
"Sehr geehrter Herr Heinrich (wie komme ich eigentlich zu einer derartig nahen Anrede?),"

Sehr geehrter Herr Ender,

ich schreibe relativ viel im Usenet, in dem das "Du" obligatorisch ist, das Siezen ist dort schon fast so was wie eine Verbalinjurie. In einem Internet-Forum, in dem ich auch viel unterwegs bin, ist das "Du" die Regel. Einige bestehen auf dem "Sie", was die Sache etwas unübersichtlich macht. "Hab ich den bisher geduzt oder gesiezt, frag ich mich oft. Das "Lieber Herr Ender" habe ich als eine Art Kompromiß gesehen, ich wollte Ihnen damit nicht zu nahe treten. Pardon.

"nur eine kurze Antwort auf Ihre Einlassungen: Selbstverständlich begreift Ödipus Merope und Polybos als seine Eltern. Deswegen wendet er sich nach dem (für ihn furchtbaren) Orakelspruch auch von Korinth ab - nach Irgendwohin - weil er seine "Eltern" (Merope und Polybos) liebt und ihnen nicht schaden will - da ist er ganz Sohn."

Ja, klar, zu diesem Zeitpunkt (der sich bis fast zum Ende des "König Ödipus" von Sophokles erstreckt) kennt er auch keine anderen Eltern. Gut, es hätte ihn stutzig machen sollen, daß er dem Orakel eine Frage stellt (Bin ich der Sohn von Polybos und Merope?) und die Antwort auf eine ganz andere Frage bekommt. Das Orakel weicht aus, irgendwas stimmt mit meiner Herkunft nicht...

"Nach heutiger Konditionierung hätte er jedem Streit mit einem älteren Mann aus dem Weg gehen müssen und hätte sich jedwediger Avancen einer Frau, die älter als er selbst ist, erwehren müssen. Das hätte aber, so glaube ich, einen totalen Stillstand seines Lebens bedeutet. Da hätte er auch Selbstmord begehen können..."

Ich weiß ja nicht. Ist es wirklich ungelebtes Leben, wenn man am Ende feststellen muß: "Junge, du hast weder mit einer älteren Frau geschlafen noch einen älteren Mann erschlagen, wozu hast du eigentlich gelebt?"

Ich würde es so formulieren: Der merkwürdige Orakelspruch hätte Ödipus klarmachen können, daß alle möglichen Leute seine biologischen Eltern sein könnten, Merope und Polybos aber sicher nicht. Der sicherste Platz wäre für ihn zuhause gewesen. Hätte sich Ödipus, der schlaue Rätsellöser tatsächlich solche Gedanken gemacht, dann wäre die ganze Story allerdings gar nicht erst angelaufen. Manchmal darf ein Autor halt nicht gar zu logisch denken, damit eine Story an- oder weiterlaufen kann.
Nehmen wir nur mal Shakespeares "Macbeth". Das ganze Drama lebt von den präzisen Prophezeiungen der Hexen. Aus diesen Wahrsagesprüchen gewinnt Macbeth den Impuls für den Königsmord, aus ihnen schöpft er die Kraft, um seine Furcht nach der Tat niederzukämpfen und weiterzumachen.
Die Hexen prophezeien ihm, er werde Than of Cawdor, Than of Glamis, er werde auch der künftige König von Schottland sein. Banquo, der bei ihm ist, werde dagegen der Stammvater von Königen sein.
Die ersten beiden Prophezeiungen erfüllen sich sofort und jetzt will Macbeth auch König werden. Dann, als er den alten König Duncan im Schlaf erstochen hat, kommt ihm auf einmal, daß er - nach den Worten der Prophezeiung - mit seiner Tat eigentlich nur den Weg für das Königtum der Söhne von Banquo geebnet hat. Das kommt ihm jetzt erst!!!
Macbeth läßt also Banquo töten, der gleichzeitige Mordanschlag auf dessen Sohn mißlingt. Aha, denkt der Leser, Fleance, der Sohn, muß ja am Ende des Stückes König werden. Am Ende des Stückes aber ist nicht Fleance König von Schottland - wie auch? - sondern Malcolm, der älteste Sohn des von Macbeth ermordeten Königs Duncan.
Diese beiden groben Schnitzer sind mir erst beim dritten Lesen des Stückes aufgefallen. Die Kunst eines guten Autors besteht, wie gesagt, eben auch darin, Schwachstellen der Story mit dramaturgischen Tricks zuzuschmieren.

"Ich schreibe demnächst mehr, wenn es Sie weiterhin interessiert."

Gerne. Ich bin sehr interessiert.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: Von Kindsvätern und Erzeugern
"Ich habe einen Mann erschlagen. Aber nicht meinen Vater."

So ist es. Sogar das deutsche Zivilrecht kennt neben dem Begriff "Vater" auch noch distanzierenden Begriffe "Kindsvater" oder gar "Erzeuger" für Männer, die ein Kind zwar gezeugt haben, sich ansonsten aber nicht weiter um das Kind kümmern (dürfen oder wollen).

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: Ödipus als positiver Held?
@ Wolfram Heinrich
Herr Heinrich, ich habe Ihren ausführlichen Beitrag gelesen. Ihre Motivation hinsichtlich der Umdeutung der Tragödie Ödipus verstehe ich aber weiterhin nicht. Wieso ist es heute interessant Ödipus als Opfer darzustellen? Er ist schuldig verstrickt in sein Schicksal, das haben viele Regisseure so gesehen. Er ist wie sein leiblicher Vater ein Tyrann, der aber erkennen muss das Macht nicht unbegrenzt ist. Sie haben meine Frage nicht beantwortet, warum wollen Sie den Theaterleuten unterstellen, hörig am herrschaftlichen Bild des Lajos zu hängen und ihn nicht zu thematisieren? Meiner Meinung nach ist die bloße Kenntnis der Geschichte ausreichend, sie genügend würdigen zu können. Sie wollen einen positiven neuen Helden aus Ödipus machen, das widerspricht sich. Warum sollte er nach Korinth gehen und dort König werden? Er ist König von Theben, nichts anderes wollte er sein. Eine reine Kriminalstory daraus zu machen, würde der Geschichte ihre Kraft nehmen, genau wie sie nur nach Freud zu erklären nicht zu trifft. Ich glaube, da schwingt so ein alttestamentarisches Auge um Auge, Zahn um Zahn bei Ihnen mit. Lesen Sie Heiner Müllers Ödipus-Übersetzung unlängst kongenial von Dimiter Gotscheff in Hamburg inszeniert. Ödipus, Tyrann als taktierender Politiker, das ist eine heutige Interpretation.
Tod in Theben in Salzburg: Ödipus Opfer
Lieber Herr Stefan,

schönen Dank erst mal für den Hinweis, daß Sie den gesamten Beitrag gelesen haben, das erleichtert mir die Argumentation, da ich nun weiß, was ich an Lektüre voraussetzen kann.

Ein technischer Hinweis noch: Als ich meinen Kommentar abschicken wollte, flüsterte mir die Website ins Ohr, mein Kommentar sei zu lang. Die Website war dabei so dezent, mir nicht zu verraten, wie lange denn ein Kommentar sein dürfe. Ich mache jetzt also den Versuch, Ihnen meine Antwort in zwei Portionen zu senden. Drücken Sie mir den Daumen, daß die böse, böse Website mitspielt. :o)

"Ihre Motivation hinsichtlich der Umdeutung der Tragödie Ödipus verstehe ich aber weiterhin nicht. Wieso ist es heute interessant Ödipus als Opfer darzustellen?"

Nun, da er nun mal nach der überlieferten Geschichte, die uns der Mythos und Sophokles erzählen, Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, kann es nicht uninteressant sein, darauf auch hinzuweisen. Die interessantere Frage wäre vielmehr, wieso Ödipus über die vielen Jahrhunderte hinweg nicht als Opfer gesehen wurde, wieso in der üblichen Interpretation Laios - und ein gutes Stück weit auch Iokaste - die Opfer sind und Ödipus der Täter.
Um Mißverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, sollte ich an der Stelle nochmal betonen, daß ich mich daran gemacht habe, die Ödipus-Geschichte mit der Brille unserer Moral und Ethik zu betrachten, die von jener im archaischen Griechenland sehr, sehr verschieden ist. So gesehen ist meine Kritik keine Kritik an Ödipus und den sonstigen Akteuren der Story, es ist auch keine Kritik an Sophokles. Beide lebten in ihrer Zeit und für ihre Zeit ist ihr Verhalten okay. Worum es mir geht ist, den Mythos von der überzeitlichen Weisheit des Mythos zu entzaubern.
Also: Ödipus wurde das Opfer eines Mordanschlags, der Anschlag mißlang und er mißlang deshalb, weil der Hirte mit dem Mordbefehl ein milderes Herz hatte als der (als Angehöriger einer Kriegerkaste) berufsmäßige Totmacher Laios. Der Mordanschlag an Ödipus war gezielt, er war gewollt und bewußt. Ödipus stand im Weg und also sollte er aus dem Weg geräumt und als Bio-Müll im Gebirge verrotten.
Wenn Ödipus kein Opfer war, wer wäre denn ein Opfer? Wenn Laios und Iokaste keine blutbespritzten Täter sind, wer wäre denn dann ein Täter?

Der Haken ist natürlich, daß nach archaischem Rechtsverständnis die Tötung eines Kindes eine selbstverständliche Sache war, die Tötung der Eltern dagegen das Überverbrechen. Sie finden diese - nach heutigem Verständnis - moralische Ungeheuerlichkeit auch in den Zehn Geboten von Moses. Hier wird gefordert, man solle Vater und Mutter ehren etc. pp. Das Gegenstück, daß Vater und Mutter ihre Kinder gefälligst so zu behandeln hätten, daß diese Grund hätten, sie zu ehren und zu lieben - dies Gegenstück finden wir auch bei Moses nicht. Gott befiehlt Abraham, seinen Sohn zu töten und Abraham macht sich auf den Weg, den Befehl Gottes zu befolgen. Gott nimmt den Befehl zwar zurück, aber er lobt und preist Abraham, weil dieser bereit war, seinen Sohn zu töten.
Sie verstehen, worauf ich hinauswill? Nach heutigem Verständnis wären Laios, Iokaste und Abraham gemeingefährliche Verbrecher und Ödipus bekäme vor Gericht jede Menge mildernde Umstände.

Und was den Inzest betrifft, so ist Iokastes Reaktion sehr bemerkenswert. Sie, die von den damaligen Vorgängen natürlich mehr weiß als Ödipus, erkennt einen Tick eher als Ödipus, worauf seine Fragerei hinführen würde, nämlich zu der Erkenntnis, daß sie und Ödipus Mutter und Sohn sind. Und was macht sie? Läuft sie schreiend hinaus und erhängt sich? Nein, sie versucht erst eindringlich, Ödipus von weiterem Fragen abzuhalten. Erst als sie merkt, daß er nicht mehr zu halten ist, läuft sie weg und tötet sich. Heißt: Mit dem Wissen, daß sie mit der eigenen Leibesfrucht das Ehebett teilt, könnte sie weiterleben, mit dem Umstand, daß dieses Wissen unter die Leute kommt, dagegen nicht. Sie fürchtet den Tratsch der Leute.
Tod in Theben in Salzburg: Ödipus Opfer II
"Er ist schuldig verstrickt in sein Schicksal, das haben viele Regisseure so gesehen."

Daß viele, Regisseure und andere Leute, dies so gesehen haben, bestreite ich nicht. Ich jedoch habe meine liebe Mühe, das so zu sehen.

"Er ist wie sein leiblicher Vater ein Tyrann, der aber erkennen muss das Macht nicht unbegrenzt ist."

Ich weiß, der Originaltitel von "König Ödipus" ist "Oidipous tyrannos", aber ein Tyrann war damals nicht das, was wir heute drunter verstehen. Tyrannos war schlicht ein Herrscher, der nicht der legitime Nachfolger eines legitimen Königs (Basileios) war. Die längste Zeit des Dramas über ist Ödipus tatsächlich ein Tyrannos, am Ende erweist es sich, daß er eigentlich doch der Basileios war, der legitime Sohne des legitimen Königs.

"Sie haben meine Frage nicht beantwortet, warum wollen Sie den Theaterleuten unterstellen, hörig am herrschaftlichen Bild des Lajos zu hängen und ihn nicht zu thematisieren? Meiner Meinung nach ist die bloße Kenntnis der Geschichte ausreichend, sie genügend würdigen zu können."

Wenn es denn so einfach wäre mit der "bloßen Kenntnis der Geschichte". Im Text von Sophokles findet keine der handelnden Personen auch nur das mindeste daran, daß Laios und Iokaste ihren Neugeborenen töten wollten, auch Ödipus akzeptiert das, selbst als er erkennt, daß das ausersehene Mordopfer von damals er selber war.
Das "herrschaftliche Bild des Laios" taucht weder im Drama auf noch in meiner Interpretation der Ödipus-Geschichte. Es ist kein politisches Drama, das da abrollt, sondern eine Familientragödie.

"Warum sollte er nach Korinth gehen und dort König werden? Er ist König von Theben, nichts anderes wollte er sein. Eine reine Kriminalstory daraus zu machen, würde der Geschichte ihre Kraft nehmen, genau wie sie nur nach Freud zu erklären nicht zu trifft."

Ödipus ist nicht König von Theben, weil er das wollte, er ist in diesen Job als König genauso reingestolpert wie in die Tötung seines biologischen Erzeugers. Und mit Freuds Ödipus-Komplex hat die Geschichte von Ödipus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Ich habe das in meinem Aufsatz aufgeführt, für eventuell Mitlesende, die meinen Aufsatz nicht gelesen haben, wiederhole ich meine Argumentation:
Die Ödipus-Geschichte ist nicht die Geschichte eines Sohnes, der seinen Vater haßt und seine Mutter begehrt. Seinen Vater Laios kann Ödipus gar nicht hassen, da er ihn nicht kennt. Er haßt ihn nicht einmal symbolisch, als jemand, der ihn früh verlassen hat, da Ödipus von diesem Teil der Geschichte die längste Zeit nichts ahnt. Seine Mutter Iokaste begehrt Ödipus nicht, da er sie die gesamte Kindheit und Jugend über gar nicht und später nicht als Mutter kennt. Ödipus hält vielmehr bis zum Ende des sophokleischen Dramas Polybos und Merope für seine Eltern. Hätte er Polybos erschlagen und mit Merope geschlafen, dann wäre die Ödipus-Geschichte auch eine ödipale.
- Ödipus verliebt sich nicht in seine biologische Mutter, um sie dann zu heiraten. Ödipus befreit eine ihm fremde und gleichgültige Stadt von einer schweren Bedrohung und bekommt als Lohn fürs Drachentöten die jüngst verwitwete Königin zur Gemahlin - eine ihm bis dahin fremde und gleichgültige, da unbekannte Frau.
- Ödipus tötet seinen biologischen Erzeuger Laios, das ist richtig. Aber er tötet ihn nicht als den verhaßten Vater, sondern als einen beliebigen Fremden im Verlaufe eines Streits.

"Ich glaube, da schwingt so ein alttestamentarisches Auge um Auge, Zahn um Zahn bei Ihnen mit."

Nein, nein, die Ödipus-Geschichte ist auch in meiner Lesart keine Rache-Story. Die Vernichtung der beiden Personen, die ihn hatten töten wollen, geschieht bei Sophokles ausgesprochen zufällig. Da steckt kein Rachedurst von Ödipus dahinter.

"Lesen Sie Heiner Müllers Ödipus-Übersetzung unlängst kongenial von Dimiter Gotscheff in Hamburg inszeniert."

Warum sollte ich eine weitere Übersetzung lesen? Ist die Übersetzung philologisch korrekt, dann steht dort nichts anderes drin als was auch in den anderen Übersetzungen und im Urtext drinsteht. Und ist die Übersetzung philologisch nicht korrekt, interpretiert sie gar, dann ist sie ohnehin für den Müll.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: Tragödie oder Tatort
O.K., Herr Heinrich, vielen Dank für die nochmalige Belehrung. Ich schlage vor, Sie schicken Ihr Drehbuch an die ARD und vielleicht wird, wenn schon keine Tragödie, dann doch noch ein ganz passabler Tatort daraus. Aber vielleicht werfen Sie es auch einfach in den Müll, wie den Heiner Müller. Habe die Ehre.
Tod in Theben in Salzburg: die schöne Diskussion
Lieber Herr Stefan,

"O.K., Herr Heinrich, vielen Dank für die nochmalige Belehrung. Ich schlage vor, Sie schicken Ihr Drehbuch an die ARD und vielleicht wird, wenn schon keine Tragödie, dann doch noch ein ganz passabler Tatort daraus."

ich weiß, Sie meinen das obige sarkastisch/satirisch. Satire aber ist nichts gegen die Realität.
Im Februar lief eine weitere Folge der Vorabendserie "Soko 5113".
Mord auf dem Land. Ein Großbauer wird unter einer alten Eiche erschlagen aufgefunden. Die Dorfbewohner verhalten sich gegenüber der ermittelnden Polizei sehr reserviert, gelegentlich läuft eine ältere, distinguierte Dame durchs Bild und erzählt, sie sei aus Sylt und verbringe hier ihren Urlaub.
Der Ermordete erweist sich als der Herr des Dorfes, die meisten dort sind bei ihm hoch verschuldet, er hat einen Beratervertrag für eine Entsorgungsfirma, die dort illegal Giftmüll abkippt, geplant ist ein Riesenprojekt für ein Feriendorf auf dem Gelände der Gemeinde.
Was soll ich erzählen? Am Schluß jedenfalls stellt sich heraus, daß die alte Dame aus Sylt aus dem Dorf stammt, daß sie vor 40 Jahren von dem ermordeten Großbauern vergewaltigt und anschließend aus dem Ort weggegrault wurde, weil sie die Dörfler ständig an ihre eigene feige Haltung gegenüber dem Großbauern erinnert hat. Das ganze Dorf hat damals von der Vergewaltigung gewußt, aber keiner wollte etwas wissen. Die Dame hat sehr reich geheiratet, ist nun Witwe, sie erweist sich als Besitzerin sowohl der Entsorgungsfirma als auch der Holding, welche den Ferienpark errichten will.
Und: Sie hat den Leuten aus dem Dorf mitgeteilt, sie bekämen das Projekt nur, wenn sie dafür den Großbauern erschlügen, es sei ihr egal, wer das mache.

Das ganze letzte Drittel des Films über, als sich die oben skizzierte Lösung allmählich abzeichnete, habe ich drauf gewartet, daß einer der Kriminaler zum anderen sagt, daß ihm die Geschichte irgendwie bekannt vorkäme oder daß sonst ein augenzwinkernder Hinweis käme, daß die hier den Plot von Dürrenmatts "Besuch der Alten Dame" als Fernsehkrimi durchnudeln. Aber nichts.

"Aber vielleicht werfen Sie es auch einfach in den Müll, wie den Heiner Müller. Habe die Ehre."

Machen Sie mich nicht unglücklich! Gerade hatte sich hier so eine schöne Diskussion entwickelt und jetzt biegen Sie vergrätzt ab.
Seien Sie versichert, daß ich weder Heiner Müller noch seinen hier angesprochenen Text auf den Müll werfen will. Ich hatte Ihr Wort von der "Übersetzung" wörtlich genommen und in der Tat ist eine Übersetzung, die den Urtext interpretierend verändert als Übersetzung für die Tonne. Ich habe mich inzwischen kundig gemacht und herausgefunden, daß Heiner Müller gar keine Übersetzung gemacht hat, sondern vielmehr die Übersetzung von Hölderlin bearbeitet hat.

Ich habe diese Diskussion hier vom Zaun gebrochen, weil ich mir meiner Überlegungen auch nicht sicher bin, und sie deshalb immer wieder, bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Gegen-Argumenten anderer zum Fraße vorwerfe. Das Forum in "nachtkritik.de" (auf das ich zufällig gestoßen bin) erscheint mir besonders geeignet, da hier, so mein Eindruck, Experten diskutieren, seien sie Schauspieler, Dramaturgen, Theaterwissenschaftler oder "nur" sachkundiges Publikum.
Ich hoffe, Sie steigen wieder in die Diskussion ein. Und wenn mir ab und an mein Temperament durchgeht, so sehen Sie mir das bitte nach.

Zum Schluß noch eine Anmerkung zur angesprochenen Inszenierung von Dimiter Gotscheff: Auf der Website des Thalia-Theaters war zu sehen, daß die Schauspieler dieser Inszenierung normale, heutige Alltagskleidung tragen. Ich mein, wenn Iokaste in die üblichen Antiken-Laken gehüllt nonchalant erzählt, sie und Laios hätten damals ihr Neugeborenes umbringen wollen und alle Umstehenden dies ungerührt zur Kenntnis nehmen, dann ist das okay. Die Story bleibt im archaischen Griechenland, dort, wo sie hingehört und alles in sich stimmig und (psycho-)logisch ist.
Nun aber das Ensemble in Alltagskleidung, suggerierend, wir hätten moderne Menschen vor uns. Wenn Iokaste im schwarzen Kleid ihrem Ödipus im T-Shirt und all den anderen Umstehenden erzählt, wie sie und Laios damals das Baby hätten plattmachen wollen und alle nicht reagieren - das muß in dieser grotesken Nicht-Psychologie saukomisch gewirkt haben.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: zerbrecht die Mauern!
nicht-psychologie grotesk ist bei solchen postdramatischen könnern
und gott-chefs auf jeden fall angesagt
das macht ja ihre fama auch aus
dass sich vielleicht ein unbedarfter in jüngeren jahren
da gar nicht auskennt
und verständnislos bewundernd auf die bühne glotzt
mag nicht verwundern
(theater als erziehungsanstalt? - es geht um das spielerische,
postdramatisch, egal was es für einen sinn(oder unsinn) macht. spätblühten des theaters des absurden)
verfremdungen und umkehrungen sind schon ziemlich lange da im gange
und nicht nur auf den bühnen
was sollte man daran ändern können?
umwertungen aller werte vielleicht (wohin? hinauf oder hinunter-gewertet? links oder rechts?)
und schon alles, alles ist erlaubt
zer(Brecht) die mauern!
entfernt die blockaden!
Tod in Theben in Salzburg: es gibt unzählige Sichtweisen
Also, Herr Heinrich, keine Sorge, ich wollte die Diskussion nicht abrupt beenden, aber die Sache mit Heiner Müller ist schon stark. Sie haben ja selber in einem kleinen Schwank, wenn ich das mal so nennen darf, was Sie da so geschrieben haben auf Ihrer Internetseite, den Ödipus radikal modernisiert, so im Stile Loriots, Ödipus ante Theben würde ich mal sagen. Hier emanzipiert sich ja Ödipus Rex ganz nonchalant von seiner Schuld und zieht neu beweibt gen Korinth der Sonne entgegen. Kann man ja durchaus so machen, nur wenn das die Konsequenz einer heutigen Sicht auf Ödipus ist, hieße das alle bisherigen Versuche, die Tragödie neu zu bewerten gehören in die Tonne getreten und nur Ihre Version mit der Ablehnung jedweder Schuld durch Ödipus ist gültig. Ich denke da gibt es unzählige Sichtweisen und ich würde da keine vorziehen wollen. Das Ergebnis muss sich immer wieder einer neuen Bewertung durch den Zuschauer und die Kritiker stellen. Scheitern als Chance, um Schlingensief selig noch mal zu zitieren. Heute Abend wird sich Peter Stein mit seiner Übersetzung des Ödipus auf Kolonos in Berlin der geneigten Zuschauergunst stellen und morgen sind wir wieder um eine Erfahrung reicher oder auch nicht.
Tod in Theben in Salzburg: die Stückkenntnis wird vorausgesetzt
@aloysia
"dass sich vielleicht ein unbedarfter in jüngeren jahren
da gar nicht auskennt
und verständnislos bewundernd auf die bühne glotzt
mag nicht verwundern"

Hmnja, ich habe schon länger den Eindruck, daß manche (viele?) Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen die profunde Kenntnis des gespielten Stückes von Seiten des Publikums bereits voraussetzen.
Vielleicht liegt es daran, daß relativ wenige Leute regelmäßig ins Theater gehen. Theater ist immer noch - und ganz anders als das Kino eine Sache für eine eher kleine Schicht von Leuten. Diese Leute aber sind nach einigen Jahren mit den gängigen Repertoirestücken durch, so viele sind das gar nicht. Sie kennen sie, haben sie schon mehrmals gesehen, vielleicht auch irgendwann in der Schule oder sonstwann gelesen. Immer die gleichen Leute schauen sich also die immergleichen Stücke an, was auf Dauer langweilig wird. Will man dieses kostbare Publikumsmaterial im Theater halten - und man muß sie im Theater halten, denn sie sind als Abonnement-Kunden das wirtschaftliche Rückgrat eines Theaters - dann muß man in die nur zu bekannten Stücke ein bisserl 1 Show hineininszenieren.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: der Übersetzer als Dienstleister
Ach herrje, schon wieder ist mein Kommentar zu lang, ich muß ihn in zwei Portionen abschicken.

Lieber Herr Stefan,

das ist ja schon mal eine erfreuliche Nachricht, daß Sie die Diskussion nicht beenden wollen. Und "die Sache mit Heiner Müller" ist nicht stark, sondern ein schlichtes semantisches Mißverständnis. In meinem Sprachverständnis ist eine Übersetzung die Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere. Der Übersetzer ist Dienstleister für den Autor und hat den Originaltext rüberzubringen, möglichst ohne den Sinn zu verändern. Daß bei aller Originaltreue trotzdem eine Menge Kreativität beim Übersetzer nötig ist, damit der Text im Deutschen einigermaßen elegant rüberkommt, ist wieder eine andere Sache.
Heiner Müller hat aber, wenn mich meine Quellen im Internet nicht trügen, den "König Ödipus" gar nicht neu übersetzt, sondern die vorliegende Übersetzung von Hölderlin bearbeitet. Und da ist er natürlich so frei, wie er nur immer möchte, und er ist es um so mehr, je größer sein Name als Autor auf dem Plakat steht und je deutlicher Sophokles nur noch als Ideengeber fungiert. Maximale Freiheit hat er, wenn das Stück heißt "'König Ödipus' von Heiner Müller, nach einem Stück von Sophokles."

"Sie haben ja selber in einem kleinen Schwank, wenn ich das mal so nennen darf, was Sie da so geschrieben haben auf Ihrer Internetseite, den Ödipus radikal modernisiert, so im Stile Loriots, Ödipus ante Theben würde ich mal sagen. Hier emanzipiert sich ja Ödipus Rex ganz nonchalant von seiner Schuld und zieht neu beweibt gen Korinth der Sonne entgegen."

Ich weiß jetzt nicht, ob Sie mein Stück gelesen oder nur mal schnuppernd überflogen haben, vermute aber letzteres. Es gibt ja etliche Jux-Versionen des Ödipus-Stoffes, die ihre humoristische Leichtigkeit daraus beziehen, daß sie den Konflikt des Ödipus einfach nicht ernstnehmen. Mein Stück aber ist - allen komödienhaften Gags zum Trotz - im Kern ein durchaus ernsthaftes Stück. Ich habe versucht, eine Art psychologisches Experiment in Szene zu setzen. Den archaischen Konflikt des Ödipus habe ich in der archaischen Umwelt, in der er stattfindet, belassen, habe allerdings die Lösung dieses Konfliktes mit einem Ödipus durchgespielt, der ein moderner Mensch ist und Ideen von heute im Kopf hat. Damit er nicht ganz alleine den Kampf durchstehen muß, habe ich ihm Kallipyga und Shmuel Mandelbaum, die vom gleichen Schlage sind, dazu gesellt. Die kleinen anachronistischen Arabesken, die ich eingebaut habe - die Kaffeemaschine etwa oder die Imbißbude - sind Hinweise darauf, daß meine Version der Story eigentlich unmöglich ist, weil hier zwei Bestandteile zusammenkommen, die in der Wirklichkeit nie zusammenkommen können. Der Konflikt der Ödipus-Geschichte kann nur in einer archaischen Welt entstehen, meine Lösung des Konfliktes dagegen nur mit Menschen von heute.
Tod in Theben in Salzburg: Sophokles in seiner Zeit okay
"Kann man ja durchaus so machen, nur wenn das die Konsequenz einer heutigen Sicht auf Ödipus ist, hieße das alle bisherigen Versuche, die Tragödie neu zu bewerten gehören in die Tonne getreten und nur Ihre Version mit der Ablehnung jedweder Schuld durch Ödipus ist gültig."

Ich bin kein Dogmatiker, das Stück ist kein Angriff gegen Sophokles. Sophokles hat sein Stück für seine Welt, für seine Zeit geschrieben und dafür ist es okay. Alles paßt zusammen, die Lösung des Konflikts, wie sie Sophokles darstellt, ist in sich logisch und psycho-logisch und für seine Zeit gültig. In seiner Zeit war es das selbstverständliche Recht des Vaters, seinen Sohn zu töten, wenn er dies für richtig hielt, er hatte sich dafür nicht zu rechtfertigen. In seiner Zeit war die biologische Abstammung ganz entscheidend für den Platz, den einer in der sozialen Rangordnung einnahm. Der Ödipus von Sophokles akzeptiert diese Regeln, natürlich. Er akzeptiert sie auch dann noch, als er erkennen muß, daß er selbst Opfer des (mißglückten) väterlichen Mordanschlags gewesen ist.
Meine Version macht die Versionen von Sophokles und all der anderen, die sich an dem Stoff versucht haben, nicht ungültig, da ist nichts, was man einfach in die Tonne treten könnte/sollte. Was ich hier (und in meinem Stück) klarzumachen versuche ist die Zeitgebundenheit der Story. Ich möchte ein wenig am Mythos von der überzeitlichen Weisheit des Mythos kratzen. Sowohl das Recht des Vaters auf Tötung seiner Kinder als auch die soziale Bedeutung der biologischen Abstammung haben ihre Zeit hinter sich.
Wenn ich heutige Ethik und heutige Anschauungen über die alte Geschichte lege, dann erkenne darin eine sehr archaische, sehr fremde und sehr barbarische Geschichte darin.

"Ich denke da gibt es unzählige Sichtweisen und ich würde da keine vorziehen wollen."

Ist Ihnen tatsächlich mein Ödipus nicht menschlich sehr viel näher und (vielleicht) auch sympathischer als der Ödipus bei Sophokles? Ist es tatsächlich so abseitig, eine alte Geschichte mit den Augen von heute zu betrachten?
Da stecken Regisseure ihren Ödipus in Hosen und T-Shirt und dann nudeln sie mit ihren modern gewandeten Figuren die uralte Geschichte von Schuld und Tragik ab - und das Publikum seufzt tragikumflort auf. Mir ist schon klar, daß man Sophokles nicht gegen den Strich inszenieren kann, man wäre denn ein Kulturbarbar der Sonderklasse. Man müßte das Stück neu schreiben.

Was ich getan habe.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Tod in Theben in Salzburg: O dreigespaltene Straße
...
"Es wird wiederholt von Wegteilung, drei Wegen, drei Reitwegen, drei Pfaden gesprochen; deutlich wird jedoch die Bedeutung in den folgenden Versen (K.Ö., Buschor), die Ödipus auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung spricht:
" O dreigespaltene Straße, stilles Tal
Im Eichenwald, o enge Schlucht am Scheideweg."
Von diesen vier Ausdrücken sind der zweite und dritte übliche Symbole für das weibliche Genitale; daß die Landschaft oft diese Rolle spielt, habe ich bereits oben erörtert, als ich das Loblied des Chors auf das Kithairongebirge als Mutter des Ödipus analysierte. Ich glaube auch den ersten und vierten Ausdruck in diesem Sinne deuten zu können.
Kehren wir nun zu der geschilderten Situation zurück: Ödipus trifft seinen Vater in einem mit Pferden bespannten Wagen, in einem versteckten, waldigen Tal, wo die Durchfahrt so schmal ist, daß nur einer Platz hat. Dort entbrennt der Streit, dort tötet Ödipus seinen Vater. Es ist in der Tat das kleine Kind, das sieht oder sich vorstellt, daß der Vater mit der Mutter Geschlechtsverkehr hat, das Streit mit ihm anfangen und ihn töten will. So bleibt nur der Kreuzweg als das unschuldige, symbolische Detail der gefühlsbelasteten, schuldbeladenen Kindheitserinnerungen im Gedächtnis haften. An dieser Stelle möchte ich bemerken ... daß bei
Sophokles Laios den Streit anfängt und Ödipus nur zurückschlägt.
Diese Auslegung wird meines Erachtens noch durch den vorhergehenden Vers unterstützt:
"Denn übel und vom Üblen her: das bin ich jetzt!"
(K.Ö. Schadewaldt)
Ödipus mag selbst zerschmettert sein von dem schuldigen Bewußtsein, mit seiner Mutter geschlafen zu haben, doch muß er es sich vom Herzen reden, daß seine Eltern ja das gleiche getan haben. So lesen wir weiter bei SOPHOKLES:
"O ihr drei Wege und du verborgenes Tal
Und Busch und Enge an dem Dreiweg, die
Mein Blut von meinen Händen ihr getrunken -
Des Vaters Blut! - gedenkt ihr meiner: welche Taten
Ich euch getan und dann, hierhergekommen,
welche ich vornahm wiederum? - O Ehen! Ehen!
Ihr brachtet uns hervor."
(Schadewaldt)
(Driek van der Sterren ÖDIPUS, 1974, Kindler Verlag)

Zeitgebundenheit der Sory? Mitnichten, folgt man diesen Auslegungen.
Und so gibt es verschiedene Sichtweisen, und der Schreiber würde da keine vorziehen wollen...
Oder sollten wir nicht doch zu Freudianern werden?
Tod in Theben in Salzburg: keine ödipale Situation
@Eknah
"Dort entbrennt der Streit, dort tötet Ödipus seinen Vater. Es ist in der Tat das kleine Kind, das sieht oder sich vorstellt, daß der Vater mit der Mutter Geschlechtsverkehr hat, das Streit mit ihm anfangen und ihn töten will. So bleibt nur der Kreuzweg als das unschuldige, symbolische Detail der gefühlsbelasteten, schuldbeladenen Kindheitserinnerungen im Gedächtnis haften."

Dieser Driek van der Sterren (ich kann doch davon ausgehen, daß das Zitat von ihm ist) ist ja ein sehr phantasiebegabter Bursche, der fröhlich ins Nichts hinein schwadroniert. Als sich Ödipus und Laios an der "engen Schlucht am Scheideweg" treffen (1) hat Ödipus nicht die leiseste Ahnung, daß es sich bei seinem Kontrahenten um seinen biologischen Erzeuger handelt. Zu diesem Zeitpunkt ist er der festen Überzeugung, Polybos sei sein Erzeuger und Vater, anderenfalls wäre er nicht nach dem Orakelspruch zu Delphi in die Fremde geflohen.
Und weil wir schon dabei sind: Als Ödipus heiratet, hat er nicht den allerleisesten Argwohn, es könnte sich bei Iokaste um seine biologische Gebärerin handeln, diese nämlich glaubt er zuhause in Korinth. Ödipus heiratet Iokaste auch nicht wegen ihrer erotischen Ausstrahlung, sondern sie wird ihm von der dankbaren Stadt Theben als Lohn für die Errettung der Stadt von der Sphinx ins Bett gelegt.
Um es ganz klar zu sagen: Die Geschichte von Ödipus ist keine ödipale Situation im Sinne von Sigmund Freud.

"So lesen wir weiter bei SOPHOKLES:
"O ihr drei Wege und du verborgenes Tal
Und Busch und Enge an dem Dreiweg, die
Mein Blut von meinen Händen ihr getrunken -
Des Vaters Blut! - gedenkt ihr meiner: welche Taten
Ich euch getan und dann, hierhergekommen,
welche ich vornahm wiederum? - O Ehen! Ehen!
Ihr brachtet uns hervor."
(Schadewaldt)"

Diese Übersetzungen, die das Versmaß des Originals stur beibehalten sind eine wahre Pestilenz. Um das Versmaß zu halten werden die deutschen Sätze so verbogen und wird die Wortwahl so merkwürdig, daß du ewig grübeln kannst, was eigentlich Sache ist. Ich habe das Nibelungenlied und einige Shakespeare-Stücke in zweisprachigen Ausgaben gelesen, der Bequemlichkeit halber las ich jeweils die (neuhoch)deutsche Version. Und immer wieder mußte ich rüber zum Original, weil ich die sog. Übersetzung nicht und nicht verstanden habe.

"Und so gibt es verschiedene Sichtweisen, und der Schreiber würde da keine vorziehen wollen..."

Das sind, mit Verlaub, die feuchten Träume von Hermeneuten. "Der Autor hat, nehme ich mal an, irgend was vor sich hingeblubbert, was sowieso keine Sau versteht. Ich, Leute, lege euch die Worte des Meisters aus. Mein Kollege kommt zu einer anderen Deutung, es entspinnt sich ein Streit und so kommen wir beide in Arbeit und Brot."
Für die Weissagungen des Nostradamus mag das ja zutreffen, Sophokles aber war dem Vernehmen nach kein Narr, der Sätze formuliert hat, die etwas und gleichzeitig das Gegenteil bedeuten. Ich würde seine Sichtweise in jedem Fall vorziehen wollen.
Daß ich hier eine andere Sichtweise ins Spiel gebracht habe, ist keine Kritik an Sophokles. Ich habe lediglich ein neuzeitlicheres Verständnis von Elternschaft ins Spiel gebracht und davon ausgehend die Ödipus-Geschichte neu betrachtet. Die Tragödie von Sophokles bleibt davon unberührt, sie ist aus seiner Zeit heraus zu verstehen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich

(1) Kann einer der Mitlesenden so weit Altgriechisch, daß er den "König Ödipus" im Original lesen kann? Frage: Ist die Wortwahl bei Sophokles auch so anzüglich wie jene des Übersetzers Buschor oder geht der Kalauer hier ausschließlich auf das Konto von Herrn Buschor?
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