Rache ist Kunstblut

von Andreas Schnell

Bremen, 12. August 2010. Ein Stück über den Krieg wollte Patrick Schimanski machen. Und stieß auf "Die Sieben gegen Theben" (Aischylos) und "Die Hilfeflehenden" (Euripides) und landete bei Einar Schleef und Ulrich Müller-Schwefe, die beide Stücke in eines schmiedeten und, indem sie die chronologische Reihenfolge verkehrten, den Kreislauf von Tod und Rache in Endlosschleife schickten. Das Stück, so ist zu lesen, wurde seit der Uraufführung in Frankfurt im Jahre 1986 nicht wieder aufgeführt.

Frauen am Grab der gefallenen Söhne

Was damit zu tun haben mag, dass Schleef das Stück auf eine Weise inszeniert hatte, die erstens Publikum und Presse seinerzeit nachhaltig verstörte. Zum anderen aber wohl auch mit dem Stück selbst, das nicht nur einen Chor ins Zentrum stellt (was damals alles andere als angesagt war), sondern auch sprachlich herausfordert, und zwar Schauspieler wie Zuschauer. Ersteres machte sich gestern Abend in der Concordia mehr als einmal bemerkbar. Was wiederum letzteres bewirkte und es nicht erleichterte, dass man sich zwischen den ganzen Göttern, Vätern, Müttern, Töchtern, Brüdern und Schwestern zurechtfand, die es in der griechischen Mythologie bekanntlich in größeren Mengen und beträchtlichen Verstrickungen gibt.

Kurz gesagt: Kreon, König von Theben, verwehrt dem geschlagenen Feind die Herausgabe der gefallenen Heerführer. Die Mütter der Gefallenen bitten König Theseus um Hilfe, damit sie ihre Toten begraben können. Das bedeutet Krieg. Den gewinnt Theseus. Was der Anlass für den nächsten Krieg ist, in dem auch wieder das geschieht, was in Kriegen offenbar immer schon zusätzlich zu all dem Gemetzel an Grausamkeiten geschah. Und wenn wir schon dabei sind: Einiges wirkt in der Tat frappierend aktuell.

Versus den konkreten politischen Problemen

Da wird im Namen einer Art Menschenrecht in den Krieg gezogen, da gibt es eine kurze, aber hübsch pointierte Diskussion über Demokratie vs. Diktatur, da gibt es traumatisierte Kriegsheimkehrer und Kriegsverlierer, die ihr Heil wiederum im Krieg suchen. Allerdings: Wenn heute die USA im Verein mit ihren Alliierten einen missliebigen Diktator aus dem Weg bomben, hat das eben ganz konkrete politische Gründe, die zumindest mit denen aus den antiken Tragödien nicht viel gemein haben.

Schleef und Müller-Schwefe haben jedenfalls nicht nur massiv in die chronologische Reihenfolge eingegriffen, sondern auch in die Sprache. Drastisch, aber keineswegs ohne bösen Witz. Einer der Gefallenen wird beispielsweise mit den Worten gewürdigt: "Bescheiden trat er auf, wie Ausländer es sollen." Dessen ungeachtet ist "Mütter" schon eher das, was man gerne "schweren Stoff" nennt. Voller "uralter Schwanzwut", Rachlust, Göttern, ein wenig Kunstblut - und eben einem Chor, der auch bei Schimanski die Hauptrolle spielt, der singt und auch perkussive Elemente bringt.

Übergeordnete Dynamik der Gewalt

Bei Schleef kommt man um die Frage kaum herum, welche Rolle die Frau im männerdominierten Macht- und Kriegstreiben eigentlich spielt. Die Ambivalenz zwischen vergewaltigten Kriegsopfern und trauernden Müttern einerseits, andererseits rachsüchtigem Furor und Kriegsttreiberei, im weiblichen Chor kollektiv artikuliert, löst sich bei Schimanski eher in der übergeordneten verhängnisvollen Dynamik von Gewalt auf, die erneut Gewalt erzeugt.

Diese Hauptrolle indes füllt das immer etwas volatile Ensemble des Theaterlabors zumindest bei seiner ersten gemeinsamen Premiere noch nicht überzeugend aus. Und man darf sich auch sonst noch ein paar Nachbesserungen wünschen. Artikulation, Nunancierung im Ausdruck, Präsenz - da waren die Leistungen doch recht heterogen. Was der minimalistische Bühnenraum natürlich auch nicht auffangen konnte. Ein paar hübsche Ideen gab es natürlich dennoch. Athene trat als reizendes Drag-Dickerchen auf, des Theseus erste Personifizierung war ein schnöseliger Lolli-Lutscher. Und nicht zuletzt, was ja auch nicht wenig ist, bescheren uns Schimanski und das Theaterlabor die auch unter diesen Vorzeichen mutige Wiederentdeckung eines Stücks.

 

Mütter
von Einar Schleef/Hans-Ulrich Müller-Schwefe
Regie: Patrick Schimanski, Bühne: Sonia Vilbonnet, Kostüme: Angela Straube, Dramaturgie: Götz Holstein, Schirin Nowrousian, Patricia Röttjer, Jana Schenk. Mit: Andrej Bahro, Ricarda Baus,  Daniela Dinnes, Kathrin Graumann, Simone Goertz, Romina Jugel, Chiara Kerschbaumer, Anna Katharina Kugel, Annelie Krügel, Joana Landsberg, Marit Lehmann, Patricia Materne, Matthias Meyendriesch, Lara-Sophie Milagro, Katharina Noppeney, Jennifer Paulus, Petra Pauzenberger, Milena Pieper, Markus Spörhase, Ronen-Sander Temerson, Axel Wagener, Katharina Walther, Katrin Wünschel.

www.theaterlab.de

 

Mehr zu Patrick Schimanski: Im März 2010 inszenierte er in Bremen Peter Hacks' Der Schuhu und die fliegende Prinzessin und im Sommer 2009 Heiner Müllers Germania Tod in Berlin.

 

Kritikenrundschau

Mehr Wucht und Sog, oder zumindest Mama-Kitsch à la Heintje hätte sich Tim Schomakers von der Bremer Kreiszeitung (14. 8. 2010) gewünscht. Schimanskis Mütter-Version rücke zwar "die Reproduktion des Todes" stark in den Mittelpunkt. Doch wären die Mittel des Theaterlaborensembles, dies wirklich auszufüllen, begrenzt, schreibt er. "Immer wieder mischen sich Unschärfen in die chorische Erzählung, immer wieder scheren Gestik und Mimik aus dem Kollektiv aus. Immer wieder ersetzt, zumal in den quasi solistischen Partien, das Schreien den Druck." Doch angesichts der Toten, die in schwarzen Müllsäcken auf die Bühne geschleift werden, fehle dann die erforderliche theatralische Wucht, um die "tragische Trauer der Mütter in den Zuschauerraum zu schleudern".

 

Kommentare  
Mütter in Bremen: 2002 in Schwerin
Schleefs "Mütter" wurden sehr wohl nach der Frankfurter UA noch einmal gespielt, nämlich 2002 vom Theater Agon in Schwerin, einer freien Theatertruppe, die Maik Priebe ins Leben gerufen hatte (derselbe Priebe, der zu Beginn dieses Jahres ohne Nennung seines Namens in der FAZ von Gerhard Stadelmaier für seine Weimarer "Gerettet"-Inszenierung symbolisch hingerichtet wurde - Priebes Ritterschlag gewissermaßen). Die Schweriner "Mütter"-Aufführung war höchst respektabel.
Mütter in Bremen: Kritikerkritik
Kritik an der Kritik von Tim Schomakers (Flache Version)
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Journalist Tim Schomakers, Kreiszeitung, schreibt…

Zitat:
"Doch angesichts der Toten, die in schwarzen Müllsäcken auf die Bühne geschleift werden, fehle dann die erforderliche theatralische Wucht, um die "tragische Trauer der Mütter in den Zuschauerraum zu schleudern"
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Das kann man einfach so durchlassen und wundernd mit "auchegalwasdassoll" ignorieren, oder nicht. Und weil es eine ganz gewaltige Lücke zur Wirklichkeit des Stückes gibt, nun also eine Kritik.


| Zwei antike Autoren - Ostautor, Westautor - Wostregie -
| ergibt mehrfach gefilterte Wahrheit statt Triumph und trotz moderner Fassung keine Zeitgeist-Unterwerfungen

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Eventuell ist das Thema "Mütter und Krieg" angesichts der Toten zu oft "tragisch geschleudert und gewuchtet" worden, Und "Resignation" ist das Signal des Chores der Mütter: Klagende Verzweiflung nach Hilfe und nicht kämpferischer Widerstand. Wer fragt Mütter, wie sie trauern sollen?
Auf Pathos aus Griechenland und Propaganda der heutigen Zeit zu verzichten, dafür das aktuelle öffentliche Desinteresse (oder zumindest unzureichende Interesse an Unmassen aktueller Kriege seit 1945) am Thema gleichberechtigt zu verhandeln, ist das vermutlich unerkannte Moment der Regie von Patrick Schimanski.
Dabei respektiert die Regie die Sinne des Autors und der beiden philosophischen Urheber aus der Antike. Das Stück präsentiert sich unverformt und nur zeitgemäß akzentuiert und eingedampft auf unsere faktenaktuelle, gesellschaftliche, alles akzeptierende Weltsicht 2010.

Und diese umfassende Thematik von sieben Stunden auf erträgliche Wahrheits-komprimierende 90 - 100 Minuten reduziert, kostet das von Tim Schomakers vermisste "wuchtige" (damit gestalterisch üblich billige) "Ausrollen". Man hätte auch Täubchen fliegen lassen können: mahnende, entsetzende, befriedete...

Mitteilend und dabei bedächtig den Erkenntnisschmerz des Betrachters verschonend - so praktiziert Patrick Schimanski. Dabei setzt er eine förderliche und begrenzte Anzahl von Stilmitteln ein: Kein Zeigefinger nach oben oder auf andere. Auch keine Asche auf Häupter oder Kronen. Dafür setzt er auf aktuell reduzierte, ausreichend markierte Protagonisten und vor allem Protagonistinnen in der Würde der Antike, aber dem Bild der Gegenwart entsprechend.

Sie transponieren Krieg in fernem Donner, der ohne Rammbock und wirklichem Gemetzel auskommt: stilisierend und nicht demonstrierend.
In einer natürlich-kriegsleeren Bühne mit zahlreichen Darstellern, die im "Runterbrechen" der Qualen auf das Wesentliche, statt dem Zuseher, Zuhörer, Zuschauer, Mitfühler und was man so alles dabei ist, das Quälende zuzumuten. Dem Zuschauer lässt das Ensemble emotionale Auswege, ohne dabei "Glauben" zu verbreiten. Um dem Publikum damit zu ermöglichen, von emotionaler Erstarrung in Erkenntniserlangung überzuwechseln. Und zwei ganz vordergründige Ansprachen wie Dickerchen Athene und einen Lutscher im Hals eines Königs, machen doch nicht den Inhalt aus. Es ist das was der Schwabe nennt "Mach es gnädig". Also auch wenn Du Macht hast etwas beschelten zu dürfen, komme weniger brutal als Du recht haben könntest zur Versöhnung und Verständnis statt belanglosen "Verzeihen".

Die Gestik und Mimik des Kollektivchores ist nicht ein straffer Armeechor. Es sind in Erschütterungen zusammenstrebende Mütter, die einen gebrochenen alten Kriegs-Mann bitten, ihnen gegen das Unheil aus 750.000 Toten eines Meinungsbekräftigungsausfluges mit Waffen und die eigene Kinder aus den Leichenbergen herauszusuchen. Es sind "einzelne Mütter", die, in ihrer einzelnen Empfindung stehend, ihre eigene Verantwortung nicht an die Gruppe übertragen. Die das Spektrum zusammenführen: von diversen unterschiedlichen "Mutter-Gefühlen" hin zum einzelnen aber gruppierten "Mütter-Gefühl", das dann kollektiv die wichtigsten Botschaften zusammen vertritt und vertieft: was dann zusammen und, nebenbei bemerkt, überhaupt nicht leichtfertig von der Regie inszeniert, zu gesicherten Wahrheiten aus den einzelnen Gefühlen zusammenfließt. Hier wäre sicherlich ein weiblicher Kommentar angebracht, um es besser zu vertreten. Denn wissen wir "Väter", wie "Mütter" trauern? Wissen "Väter", was eigenes Kind bedeutet, wenn es aus einem geboren wurde?
Mütter in Bremen: lange Version, Teil 1
Kritik zur Kritik ZWEI! Lange Version (die angemessene für die Mühe des Ensemble)
Zwei antike Autoren, Ostautor, Westautor, Wostregie – ergeben mehrfachst gefilterte Wahrheit in 90-100 Minuten, was eigentlich sieben Stunden dauern müsste.
Kein pathetisches Triumphwagengekeule und
keine Zeitgeistunterwerfungen ins Neue oder Olle.
Eine untrotzige zivil couragierte, sich zum Wesentlichen zusammenreißende moderner Fassung, mit akzentuiert entlassendem, entschädigendem Humor am geeigneten Platz.
Eingetütet für gefälligst zu erwartende Schmach der Wahrheit in einem echten Theater und keiner Event-Stätte der Belustigung und Bestätigung. Hier fährt noch ein A-Team vor und schweißt und lahmt kein MacGyver am Taschenmesser und betet mit Frieden und Freundschaftsbändern um Rückkehr der gefangen lebenden Friedenstaube auf dem Rückflug in den Ruhrpottschlag.
Wenn Sie mir folgen können, können Sie auch "Mütter" nicht nur verstehen, sondern ergreifen. Anders als Kritiker Tim Schomakers, der das unglückliche Szenario einfordert, was schon unglücklich genug ohne Katjuscha am Himmel als Gewitter seine Kraft sehr angemessen entfaltet und nicht mit dem Bade in die Herbsthochwässer auskippt.
Falls nicht, einfach weitermachen oder nicht weitermachen, es kommt sowieso was bei raus. :-)


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Und nun zum Auslöser der Kritik an der Kritik:
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Zitat: vom Tim Schomakers weiter oben

"Doch angesichts der Toten, die in schwarzen Müllsäcken auf die Bühne geschleift werden, fehle dann die erforderliche theatralische Wucht, um die "tragische Trauer der Mütter in den Zuschauerraum zu schleudern"

Man kann das ja so machen, muss aber auf keinen Fall. Der Kritiker schrieb wohl noch im Eindruck der mitgenommenen Energie des Stückes und musste aus sich herauslenken, wovor sich keiner, der diese Inszenierung erfahren und nicht bestaunen will, schützen kann. Was bedeutet "Wahrheit kommt automatisch an im Unterbewusstsein". Warum? Es lässt sich nicht einmal von uns selber belügen, oder nur mit Konsequenzen. Gewinn macht man da nicht. Man verliert "Den Glauben".

Hier das wichtigste nochmal in "Kürze". Aus dem eingedampften sieben-Stunden-Thriller, der kein Mord im Krimi ist, sondern legale Völkermorde ohne klärende Detektive und Untersuchungsausschuss und Weltgerichtstag unverklärt ins Gehirn zurückrockt. Weil wir ja alle so rockig leben und die Ruhe der Erkenntnis gerne auf Morgen verschieben, während jeden Tag, und gegen den Willen unserer Spendenbereitschaft "Mütter" weinen, "Väter fluchen" und Geschwister keinen Therapeuten finden.
Mütter in Bremen: lange Version, Teil 2
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Inhalt
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Eventuell ist das Thema "Mütter und Krieg" zu oft und damit gewöhnend auf anderen Bühnen …(Zitat Tim Schomakers "tragisch geschleudert und gewuchtet" worden, angesichts der Millionen Toten.)

"Resignation" ist das Signal des Chores der Mütter. Klagende Verzweiflung nach Hilfe und nicht kämpferischer Widerstand. Wer fragt Mütter wie sie trauern sollen? Pathos aus Griechenland und Propaganda der Zeit wegzulassen und das aktuelle öffentliche Desinteresse (oder zumindest unzureichende Interesse - an unmassen aktueller Kriege seit 1945) am Thema gleichberechtigt abzudecken, (Hier muss ich selber mal Luft holen) … ist eventuell das unerkannte Moment der gutgelaunten, mutvollen, undramatischen Regie von Patrick Schimanski.
Dabei respektiert die Regie die Sinne des Autors Schleef in derselben inhaltlichen (andere hat der bestimmt nicht) Ehrfurcht wie er auch den beiden philosophischen Urhebern aus der Antike die Bühne nicht wahllos abräumt.
Das Stück präsentiert sich unverformt, authentisch, puristisch, handwerklich zugeschnitten und würdevoll zeitgemäß akzentuiert und eingedampft auf unsere faktenaktuelle, gesellschaftliche, alles akzeptierende Weltsicht 2010. Und wird wie unbedingt auch 3010, wenn wir soweit noch kommen, gültig bleiben. Ein Werk und kein Zwerg. Und das Ganze erträglich von sieben Stunden, auf Wahrheitskomprimierende 90 - 100 Minuten reduziert. Das kostet das vermisste "wuchtige" (damit gestalterisch üblich billige) "Ausrollen".

Man hätte auch Täubchen fliegen lassen können (mahnend - entsetzende - befriedete- kurzweilige-vernunftüberflattende- Luftratten). So wie das von Schomakers angeforderte und dem bald erscheinenden pathetischen Theaterfilm "Ich & Orson Welles" am Ende flatternd von Großstadttauben im fehlenden Zielpunkt umgesetzt auch sehr aktuell zu seien scheint. Banales Glückskreisen der Liebe und der Macht der Theatermacher, das kein Zuschauer mehr bestellen mag, der über 30 ist. Die Jugend ist nicht gebildet, aber nicht dumm: nur etwas träge. Die muss nicht losgeschickt werden. Wohin überhaupt? Krieg für den Frieden führen?

Mitteilend und unerheblich im Erkenntnisschmerz, den Betrachter noch bewusst verschonend, praktiziert Patrick Schimanski als Lazarettarzt am kriegerisch Zurückgelassenen. Patrick Schimanski wird (nur im Verhältnis zum trivialen Gewohnten "Theater der Zeit" zum Held des "Vereinfachten". Zur "Joseph-Beussschen" Filzdecke (hier mal ohne Fettflecken), die aber unterlegt und nicht zudeckt .
Dabei verwendet er als Basis eine begrenzte, aber starke Vielfalt von förderlichen Stilmitteln in so eindeutiger Symbolik, das man zweimal hingucken muss, um in Klangstöcken ggf. Staffelstab, Verteidigungswaffe und Kasteiungs-Spielzeug wahrzunehmen. Eine Symbolik, sozusagen kostenfrei in der Eintrittskarte inbegriffen, die aber vom Kritiker schnöde zurückgelassen und wie als Souvenir missachtet wird. Alles findet im Wenigen zusammen, wenn man den Blick dafür noch hat. Kein Zeigefinger nach oben oder auf Andere bequält. Der Patrick im Schimanski macht vor Waffen halt.
Selbstbeteiligt und sich nicht ausnehmend und selber ungeschont und mitgeschoren im Heer der Schafe der sich zurücklehnenden Gesellschaft. Fürs Erkennen reicht ein Messer und eine Handvoll Blut.
Mütter in Bremen: lange Version, Teil 3
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Moral
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Das könnte dem Kritiker gefehlt haben: die Moral. Die war da nicht - die ist ja im Zuschauer. Hart und herzlich geifert sie sich in uns fest.

Patrick Schimanski hat auch hier wieder versagen wollen. Auch keine Asche auf Häupter verbastelt oder protestantisch zertretene Kronen dem Trennmüll geopfert. Aktuell reduzierte, ausreichend markierte, würdig akzentuierte und ans Versagen appellierende und faire Protagonisten. Und vor allem auffallend viele Protagonistinnen in der Würde der Antike, aber dem Bild der Gegenwart, transponieren in fernem Donner des Krieges Kopfbilder und nicht Hinweispädagogik oder eine nachgestellten Schlachtplatte.
Disput und Krieg beschrieben und nicht zelebriert. Ohne Rammbock und wirklichem Gemetzel nur andeutend stilisiert (weil tausendfach gesagt wurde, was keiner hören mag) und dabei lieber, Tim Schomakers eben nicht bewusst nicht demonstriert.
Wenn Demonstrieren? Dann vor dem Theater.
Das sollen wir ruhig machen, wenn nächste Woche die Roma in Deutschland ihre Aktion "Alle-bleiben-hier" umsonst gemacht haben und sie die freiwillige Rückkehr bei den Innenministern unterzeichnen und sich angeboten haben, sich dann gleich hier umzubringen. Was hat das hier zu suchen? Was haben wir im Theater zu suchen, wenn wir das nicht mitbekommen.

Oder wie im Stück als Hauptbotschaft transportiert: "Gib die Leiche her" (was davon noch das ist, nach dem Krieg) ist keinen Bezug wert. Den Roma ist das in Wochen Realität. Im fernen und nun kapitalistisch und gefühlt harmlosen Russland bettelnder Rentner und Kriegsopfer in der U-Bahn, bezichtigt man "Mütter" unbewiesenen "Schwarzen Witwen" im Kriegskonflikt zu sein, ihnen die Leichen ihrer Kinder damit wie in Theben einfach entziehend. Der Führer Putin immer leicht getarnt, wie er es in Leipzig gelernt und praktiziert hat.

(...)

"Mütter" wurde nicht "gespielt". Mütter musste "aufgeführt" werden. Mütter ist im Zeitkonsens bewertbar und nicht an Dickerchen- und Lollispaß.
In einer natürlich-kriegsnachleeren Bühne ohne Wirtschaftswunder, das nur aus dem Aufbau von Vernichtetem entsteht. Mit vielen Darstellern und vielen Menschen im Off, die nicht zufällig da sind, sie sind "gekommen". Sie haben gerungen, um jeden Satz, um jede Geste und herausgenommen und dazugetan und alles Eitle vernichtet.

Künstler, die im "Runterbrechen“ der Qualen auf das Wesentliche, statt ihm das Quälende zuzumuten, dem Zuschauer emotionale Auswege lässt, ohne dabei "Glauben" zu verbreiten und damit keine zusätzlichen Fragen aufwirft, ob z.B. ein Hundefloh in den Himmel kommt oder es einen Hundeflohhimmel statt auf Wolke auf Hund gibt.
Um dem Publikum damit zu ermöglichen, von emotionaler Erstarrung in Erkenntniserlangung überzuwechseln.

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Straffheit gefordert - aber mit Akzenten
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Die Gestik und Mimik des Kollektivchores ist, lieber Kritiker, nicht ein straffer Armeechor. Es sind in Erschütterungen zusammenstrebende Mütter, die einen gebrochenen alten Kriegs-Mann bitten, ihnen gegen das Unheil aus 750.000 Toten eines Meinungsbekräftigungsausfluges mit Waffen, die eigene Kinder rauszusuchen. Es sind "einzelne Mütter" die in ihrer einzelnen Empfindung stehend, ihre eigene Verantwortung nicht an die Gruppe allein übertragen. Die das Spektrum zusammenführen, von diversen unterschiedlichen "Mutter-Gefühlen" hin zum (einzelnen aber gruppierten) "Mütter-Gefühl", das dann kollektiv die wichtigsten Botschaften zusammen vertritt und vertieft. Was zusammen und überhaupt nicht leichtfertig von der Regie gemeint, dann zu gesicherten Wahrheiten aus den einzelnen Gefühlen zusammenfließt. Hier wäre sicherlich ein weiblicher Kommentar angebracht um es besser zu vertreten. Denn wissen wir "Väter" wie "Mütter" trauern? Wissen "Väter" was eigenes Kind bedeutet, wenn es aus einem geboren wurde?
Mütter in Bremen: lange Version, letzter Akt
Damit komme ich "ganz schnell" nun…..
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…"zum Ganzen" in der Darstellung des "Defekten"
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Kollegen Schauspielmacher! Mach’ das mal einer kompakter und besser, mit genauso wenig! Was gefühlt eine Dampframme in die esoterisch entspannte und gut biogefräßig gefüllte Magengrube unserer kriegsführenden Nation einführt. Bislang was "KRIEG" jedenfalls angeht, stimmungsreaktionslos und unaktuell, unangemessen und unaufgegriffen im Theaterspektrum geblieben ist, weil Musicals lullen und inhaltsvolle Budgets entweihen. Da bekommt man für mehr Subvention gewalttätiger weniger geboten als in "Mütter". Ist zu viel Inhalt für die Sesselkarte, wo wir auf Holzbänken weich genug säßen, wenn wir unsere Lage erkennen würden und uns vor dem baldigen Welttemperaturwechsel schutzsuchend in Sesselhussen verkriechen müssen.

Ich empfehle einen gleichgesinnten Sturm 2010, der Theaterschaffenden von Oper "Wir sind wieder da" bis Weihnachtsmärchen "Kasper an der Front".
Verbunden mit der Frage was ist die Aufgabe des Theaters? Unsinn dekorieren oder Wahrheit faszinieren? Mit-Schweigen oder Mit-Erinnern. Hier in "Mütter" nicht erinnert an die mehr als 750.000 vor Theben, auch nicht an unsere deutsche Greuel, sondern an die Greuel, die ständig läuft, während wir mit Schnäppchen-Magazinen hantieren und von guter Freundin handgeröstetem Kaffeebecher aus, die Sichtposition in Full HD Flatscreenlaune auf das Fernsehkochrezept orientieren. Diese Bequemlichkeit hat weder das Concordia zu bieten, noch das Theaterlabor, noch das Theater.

Haben wir unseren Kindern nicht was Unglaublicheres als "Jesus und der Laptop sind erschienen" zu berichten? Wo wir immer noch primat und primitiv herkommen und wo es nicht weiter hingeht, weil wir neben der Erde auch die Seelen verwüstet haben. Und der Kritiker will in diese trinitussige, liebesver und –beschwörte Seele "theatralische Wucht" reinhalten? Wieviel Dezigebell denn? Flachlegen? Reinmeißeln? Erbarmungsloser als Erbarmen eh schon sein will? Wollen wir den Kindern des MP3 wie immer brachial "vorenthalten" und "ermahnen" statt "verständigen"?

Also Kritiker! Mann wie auch man, braucht nicht ins launisch mediale Gefühl versinken, wenn die Faktenbrücke solide und sich fast auferbietend zu schlagen wäre. War wohl nicht leicht, sich angreifbar festzulegen. Verstehe ich, verstehen wir alle, die wir da waren. Dann wären wir ein Teil des Spiels und wir wählen uns ja aus der Verantwortung.
Mütter in Bremen: lange Version, Nachload
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Nun zur Kunscht. Und ich nenne keine Namen, es ist ein Kollektiv :- )
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Und das eindeutig erkennbare , bemüht modern-alltägliche und hoffnungsvollstschöne der Geschichte, welche die Kostüme der Gewandmacherin von „Mütter“ spricht, wäre zu würdigen mehr als Wert gewesen. Ein „schöner“ Krieg ohne Pomp. Das war ein Feuerwerk des Modetransports von der griechischen Antike in unsere wenig weiterentwickelte Zuspätantike, welche ohne Bewusstseinszuwachs „marginal“ und weit unter unseren schon mal in Altost-Deutschland erreichten Bildungsmöglichkeiten rumtümmelt. Was da übrigens deswegen Bildung wurde, weil Ablenkung nicht möglich war. Demagogisches Wissen dabei leicht filterbar, eine Marottenspäßlichkeit mit Geheimdienst (80%) und Stasianteil (20%), den kriegsverängstigten Führungsopas geschuldet; Erziehung, die Einar Schleef zwar im Stottern beließ, aber nicht in der Unwahrnehmbarkeit.
Und den „Auftrag“ sollte Tim Schomackers deutlichste vom Theaterkunstkollektiv völlig selbstverständlich, ohne Reha eingefühlt und plastisch erkennen vermocht haben. Ich wünsche jedem 10 Jahre Schule in der DDR statt mit Hängenbleiben und Abi und Studium 20 Jahre. Seid bereit!

Wenn hier einer noch was zu sagen hat, dann Patrick Schimanski und seine Assistentin, sicher auch und getragen vom Ensemble auffallend vieler “frischen lut junger“ Schauspielerinnen und zukünftigen „Müttern“ wie „Vätern“ als auch „ gestandenen älteren Schauspielern, die dem Auftrag „Labor“ sich selber nicht verschonend integriert haben. Schauspieler, die „Schwanzwut“ nicht Wüterich verschwenden und das Thema zeitgeistgemäß blödsinnig ausnackten, um es damit sexuell vernichtet zu begraben. Eine würdige Sache, die am Geficktsein nicht vorbeimogelt, es aber auch anständig gleich dabei bewenden lassen kann. Eine leise Inszenierung, zu dem Gebot dessen, was es unhöflichen Regiemächtigen in die Hand gäbe.

Draufgelegt und nicht -gestellt auf eine bekannt mathematisch rechteckige, leider wirtschaftlich zerbröckelnde Concordia-Bühne, die vielen großen Theatermachern die Pflicht zur Kür machte. Die sich in „Mütter“ quadratisch emotional umgestaltet, was man kaum glauben mag und ein grandioses Werk darstellt.

Dazu eine völlig großzügige, sparsame und unverschwenderische, ehrliche und auf das Schauspiel fokussierende, nur fair angedeutete, erhabene Betonfühligkeit der gigantischen zwei Bühnenbilder. Die mit Chefsessel, Chefaltar und Kindertransporthilfe möbliert, gerade noch die Krone der von mehreren Darstellern staffelstäblich weiterverreichten Macht identifiziert. Bühnenbildnerin statt Dekorateurin. Dazu ein begleitende, auch wieder sparsamer aber komponierter, unaufdringlicher aber humorvoller , musikalischer und bewusst tonal klassisch sitzender schiefer Ton, vom Musiker im Schimanski, der auch singen lässt.

Der Untermalung in einem sparsamen aber ideenreichen Schimanski-Licht aus gescheiterten Bildungsstättenprojektoren, statt aus profanen Beamern zur sauberen und nicht spritzenden Bluttransfusion den massiven Umriß zaubert. Auch hier ohne zu zeigen, was man noch so drauf hat.

Bauhaus würden Architekten sagen und nicht Albert Speer - Budenbau in der Bremer oder Hamburger Überseestadt.

Ein Theater, das unter den Verlust der Experimentierbühnen der großen Theater noch keinen Schlußstrich zieht, bis das denkmalgeschützte Concordia am Geldsack baumelnd zur Mumie wird. Theater, das nicht Bio zelebriert, sondern Öko. Und nicht links wie linkisch modert, sondern verzweifelungsfrei den Rücken mal wieder richtig echt geradezieht. Fraktionsfrei.

Ich persönlich ahnte das und bin deswegen gekommen und wurde auch nicht enttäuscht. Und ich meide Theater öfter als es mich hinzieht. Hier hat es kräftig.
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