Der nahrhafte Rest

von Michael Laages

São Paulo, August 2010. In den besten Familien kommt das ja vor: zwei Kulturen, im Körper und im Kopf. Und es ist auch gar nichts Besonderes daran - die Eltern zum Beispiel von Nathalie Suck, die auf der Bühne "Fari" heißt, hatten halt mit dem Wirtschaftsboom der 60er und 70er Jahre Deutschland verlassen, um anderswo auf der Welt das kleine (und vielleicht eben etwas größere) Glück der modernen Arbeitswelt zu finden. Und so wurde der Vater Einkaufsleiter bei einem der großen deutschen Autobauer, die in Brasiliens Wirtschaftsmetropole Sao Paulo Filialen eröffneten, um von dort aus oft ganz Latein- oder Südamerika mit Autos und Zubehör zu versorgen.

Nathalie Fari ist ein Kind dieses Booms - in Sao Paulo studierte sie Kunst und Theater, unter anderem im "CPT", dem "Centro de Pesquisas Teatrais" (also Theaterforschungsinsitut) des legendären Regisseurs Antunes Filho; und als Performance-Künstlerin, auf Bühnen wie auf der Straße, hatte sie auch schon die erste Karriere hinter sich, als sie 2004 nach Deutschland kam, sich als Yoga-Lehrerin durchschlug und an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin studierte. Einen neuen Studiengang, der sich im weitesten Sinne mit künstlerischer Intervention im öffentlichen Raum beschäftigt, hat sie dort nun absolviert - und darin sich selber und die eigene Inter-, noch modischer: Plurikulturalität zum Thema gemacht.

Unbelastet von kolonialem Erbe
"Mein Raum", die Abschluss-Performance, hat sie jetzt unter anderem bei einem kleinen Medien- und Performancekunst-Festival in Sao Paulo gezeigt; und zu Hause von zu Hause erzählt. Und umgekehrt. Dazwischen liegt mindestens eine Welt. Schneckenartig (und auch genau in diesem Tempo) spinnt sich da ein Körper ein in eine heimathafte Hülle, eine Folie, silbergrau, die sich fast zum Zylinder formen lässt, zu einer Art Schneckenhaus. Immer wieder hinaus und hinein zwängt und zwingt sich das Menschentier; und wer weiß schon, wo und was das schließlich ist: Zuhause. Der Pappkarton übrigens, oft das einzige Stück "Zuhause" in einer Favela an der Peripherie von Sao Paulo, ist in Faris Schneckenhaus zumindest noch zu ahnen.

Jenseits von derlei innerfamiliärer (und insofern quasi unausweichlicher) Grenzgängerei ist "Intercambio Cultural", der Austausch zwischen den Kulturen, zwar kein wirklich einträgliches, aber ein mit großer Hingabe betriebenes Geschäft. Und auch wenn der Scheitelpunkt der Begegnungsenergie inzwischen überschritten sein mag, so ist speziell Brasilien noch immer mächtig "in" unter deutschen Künstlerinnen und Künstlern.

Unter Menschenfresser Leuthen

Dafür gibt’s mehrere Gründe. Zum einen organisatorische und finanzielle – das Goethe-Institut in Sao Paulo, kulturplanerisch zuständig für ganz Südamerika, von Kolumbien bis Feuerland, ist seit geraumer Zeit sehr empfänglich speziell für Theaterprojekte; gemeinsam mit dem regional-brasilianischen Sozialwerk der Handelskammer (SESC), das eigene Kultur- und Sozial-Zentren betreibt, eineinhalb Dutzend allein in Sao Paulo und auch ansonsten in fast jeder größeren Stadt, trägt Goethe einen Teil der organisatorischen und finanziellen Lasten. Darüber hinaus tritt in Sao Paulo mit „Interior“ eine Produktionsfirma auf, die im ehedem für Bühnen in Berlin und Hannover tätigen Dramaturgen Matthias Pees über einen Ideenstifter verfügt, dessen Anträge oft auch den Auswahlkriterien der Kulturstiftung des Bundes standhalten; die ist darum als wichtigster Partner zumeist mit im Spiel.

Andere gute Gründe für intensive deutsch-brasilianische Nachbarschaft sind eher politisch-historischer Art: Unbelastet von kolonialem Erbe, im Gegenteil: eher befeuert von der Forscher-Kunst, die auch Alexander von Humboldt hierher getrieben hatte, und erst recht von den ganz frühen Reiseberichten, etwa dem des hessischen Kaufmanns Hans Staden, der sich schon im 16. Jahrhundert "Unter Menschenfresser Leuthen" wiedergefunden hatte und danach zu Hause davon berichtete, folgen die modernen Kulturreisenden besonders gern und intensiv einer Spur, die zu Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Schriftsteller Oswald de Andrade auslegte. Er propagierte "Anthropophagia" als Kulturtechnik; der Kolonisierte möge den "heiligen Feind", also den Kolonisten, doch einfach "auffressen", soll heißen: sich dessen unübersehbar überlegene Qualitäten aneignen, sie verdauen, das Unnütze ausscheiden und aus dem nahrhaften Rest eine neue, und eben in diesem Fall die "brasilianische" Identität generieren.

Kommerziell gesteuerte globale Gleichschaltung
Das muss europäische Kunst-Reisende, all zu oft im Bewusstsein von Opfern der neo-kolonialen Globalisierung, natürlich interessieren, theoretisch und praktisch. Denn wie sich wehren gegen die Allgewalt der kommerziell gesteuerten Gleichschaltung weltweit? Womöglich mit kleinen und größeren Akten der "Anthropophagie?" Auch Oswald de Andrade hat das eigene Modell gegen Ende der eigenen Karriere wohl nicht mehr ganz so stimmig gefunden; und aktuelle Propagandisten der brasilianischen "Anthrophagia", etwa der in Sao Paulo mit dem "Teatro Oficina" arbeitende Regisseur Zé Celso, haben ihrerseits eine massiv gemischte Form von stilistischem Durcheinander kreiert, die (so der hoch charismatische Regisseur gelegentlich selber) eigentlich und am liebsten den Broadway erobern sollte. Da ist was dran.

Derzeit tourt ein Vier-Stücke-Paket, darin immerhin "O Banquete" (Das Gastmahl) nach Platon und "Bacantes" (Die Bakchen) nach Euripides, erfolgreich durch brasilianische Provinz-Hauptstädte; und wenn alles gut geht, reist das "Teatro Oficina" gegen Ende des Jahres nach Krakau und kommt dabei (vielleicht) auch wieder, wie 2005, in Berlin vorbei. Zé Celso aber ist und bleibt vor allem ein magisch-anthropophagischer, philosophisch-orgiastischer Entertainer; und auch darum ist die Fallhöhe ziemlich beträchtlich zu den sehr viel deutscheren Anthropophagie-Beschwörungen, wie sie jetzt gerade in Sao Paulo zu sehen waren.

Neue deutsche Protagonisten
Die Berliner "andcompany&Co." hat Brechts berühmtes "Fatzer"-Fragment "anthropophagisiert" (siehe auch die Nachtkritik vom 5. August). Ende Oktober und Anfang November ist diese Arbeit auch in Deutschland zu sehen, in Berlin und Münster, Düsseldorf und Mülheim. Mit dieser Gruppe wie auch mit den Berliner Puppen- und Theaterspielern von "Das Helmi" setzt das im Kultur-Transfer von und nach Sao Paulo federführende Goethe-Institut erkennbar auf Gruppen, deren Talent auch daheim in Deutschland durchaus noch nicht überall anerkannt und durchgesetzt ist.

Zuvor hatte es massiv die rund ums Zentrum der Berliner Volksbühne kreisenden Groß- und Kleinmeister promoviert. Deren Sterne befinden sich nun allerdings seit geraumer Zeit schon im Sinkflug. Einzig der zielstrebig zwischen Hamburg und Berlin vagabundierende Einzelgänger Dimiter Gotscheff forciert gerade die frisch erwachte Liebe zur brasilianischen Fremde - demnächst soll er das erste eigene Projekt vor Ort erarbeiten. Aber jenseits von ihm ist der Produzenten-Mut zum Unbekannten durchaus verständlich.

Die Regie-Generation jenseits von Volksbühne und freier Szene allerdings machte sich eher rar - Armin Petras ist (nach ersten Brasilien-Aufenthalten) jetzt immerhin als Autor präsent; gerade war beim Internationalen Festival in Sao Jose do Rio Preto Fritz Katers Grimmelshausen- und Simplicissimus-Material zu sehen; in einer naturgemäß radikal frei improvisierten, potenziell postdramatischen Theater-Show. Mit Petras und dem kleinen Maxim-Gorki-Theater kooperierte der in Dresden fest beschäftigte Regisseur Tilmann Köhler - und betrieb mit Goethes Unterstützung einen auf mehrere Jahre angelegten Proben- und Produktions-Zyklus, der jetzt in Sao Paulo zur Endfassung von "Pele de Ouro/Os Novos Argonautas" führte; "Haut aus Gold/Die neuen Argonauten", ein pluri- oder interkulturelles Spiel mit dem Medea-Mythos, war in einem früheren Probenstadium auch schon Berlin zu begutachten.

Unterstützung aus dem Anti-Hunger-Fonds
Köhler erzählt in Sao Paulo von den Komplikationen der Arbeit; nicht, dass er desillusioniert wäre - aber letztlich hat er in jedem Stadium des Prozesses nahezu von vorn beginnen müssen. Die beiden Autoren des Projektes, Alexandre dal Farra von der Straßentheatertruppe "Tablado de Arruar" in Sao Paulo und die deutsche Dramatikerin Tine Rahel Völcker, sind mit durchaus unterschiedlichen Schreib-Talenten begabt; darum blieb die Dramaturgie eher brüchig zwischen dal Farras erstem Teil (über Deutsche, die als neue Argonauten auf der Suche nach Glück und Gold in Brasilien stranden) und Völckers zweitem, der eine schwarze "Domestica", eine Hausangestellte, in schwere Konflikte mit der weißen Herrin des Hauses treibt.

Köhler hat beides schlussendlich zur starken, aber schmalen Fabel zusammen gezwungen - und dabei die Erfahrung gemacht, wie unablässig in Bewegung seine Partner waren. Die Formation von "Tablado de Arruar" etwa hatte sich seit den ersten Begegnungen vor zweieinhalb Jahren gründlich verändert; genauso gut hätte der Regisseur in Deutschland gleich an ein anderes Theater wechseln können. "Tablado de Arruar" befindet sich (wie auch jede der insgesamt vier Gruppen, die Mitspieler in das "Fatzerbraz"-Projekt der "andcompany" entsandten) im Zustand einer "freien Gruppe".

Wer Glück hat und am Ball bleibt, kann in Sao Paulo finanzielle Unterstützung erhalten aus dem "Ley de Fomento", einer Art kulturellem Anti-Hunger-Programm – ansonsten ist aber jeder und jede ununterbrochen auf der Suche nach Förderern und Unterstützern unterschiedlichster Art; manchmal stehen nur ein paar lokale Kneipen und Restaurants auf der Helfer-Liste. Die Spielstätten wechseln, und ein notdürftig umgerüstetes Ladenlokal, eine aufgemöbelte Garage ist häufig Spielplatz genug. "Tablado de Arruar" spielt auch auf der Straße – eine wilde, ebenso komische wie rabiate Telenovela-Travestie, gleich bei der U-Bahn im Japanerviertel Liberdade.

Popstar Hans-Thies Lehmann
Immer wieder von neuem gründen sich in der Millionen-Metropole Spiel-Orte, die nichts sein wollen als das: freien Gruppen ohne festen Ort zur Verfügung stehen. Gruppen gibt’s, selbst solche mit nationalem und internationalen Ruhm, die existieren überwiegend auf dem Papier - und finden sich nur sehr selten zu begrenzten Produktionsprozessen zusammen. Dass sich mitten in Sao Paulo, an der Praça Franklin D. Roosevelt und im Umfeld des Theaters "Os Satyros" (sowie mit handfester Unterstützung von José Serra, Ex-Bürgermeister und Gouverneur von Sao Paulo, der gerade Präsident werden will), gerade eine Theaterschule gegründet hat, ist schon eine Strukturbehauptung von beträchtlichen Ausmaßen.

Unübersehbar aber bleibt immerzu und überall der Hunger aus Deutsches, auf Theaterfutter aus Alemanha, theoretisch wie praktisch: Der frisch emeritierte Frankfurter Theaterprofessor Hans-Thies Lehmann etwa absolviert gerade eine Vortragsreise an verschiedene Universitäten; und zum Auftakt, im Goethe-Institut von Sao Paulo, rannte das Publikum ihm quasi die Bude ein. Sein Buch über "Postdramatisches Theater", inzwischen auch schon über zehn Jahre alt, erschien 2007 in brasilianischem Portugiesisch, jetzt, zu Lehmanns aktuellem Brasilien-Besuch, räumt die „Folha de Sao Paulo“, größte Zeitung im Land, für ein Interview höchst prominent zwei Feuilleton-Seiten frei: der emeritierte Professor als Pop-Star.

... aber in Deutschland schweigt der Wald
Heiner Müller lieben sie ja auch, die Modernen im brasilianischen Theater, auch und gerade in der Brecht-Nachfolge – der Regisseur Marcio Aurelio war einer der ersten, die Regisseurin Georgette Fadel etwa (die vor Jahren zu Frank Castorfs brasilianischem "Anjo Negro"-Ensemble gehörte) zeigte jetzt beim Festival in Sao Jose do Rio Preto eine atemberaubend freche, klug sortierte Montage aus Müller-Motiven; Fadel spielt zudem Maria Stuart in einer nur auf die zwei "Rainhas" (die Königinnen) reduzierten Schiller-Bearbeitung von Cibele Forjaz.

Aber da fehlt noch was zum echten Austausch - der Hunger zurück, mehr Appetit aufeinander in umgekehrter Richtung. Die von der Kulturstiftung des Bundes (die beim aktuellen Produktionspaket von Interior fast die halben Kosten trug) koproduzierten Kunst-Stücke basieren zwar auf der Kooperation mit starken Partnern, etwa internationalen Festivals; wünschenswert aber wäre noch weit mehr an Internationalität im Theateralltag – warum nicht durch Tourneen bereits fertiger Produktionen über die Bühnen der Produktionspartner hinaus? Die „andcompany“ etwa hatte ihre Partner von Anfang an im Gepäck, auch „Das Helmi“ verfügt mit Ballhaus Ost, Kampnagelfabrik und FFT über verlässliche Spielstätten. Mehr wäre möglich. Dimiter Gotscheffs nächstes brasilianisches Abenteuer wird, so sieht es der Plan im Paket der von der Kulturstiftung geförderten Produktionen vor, den Spielplan im Hamburger Thalia Theater schmücken.

Ulkige deutsche Schlaumeierei

Andere könnten sich anschließen, als Koproduzenten oder für ein Gastspiel – aber im Augenblick suchen halt viele Bühnen, ebenfalls mit Hilfe der Kulturstiftung, eigenes Profil als „Heimspiel“- oder „Wanderlust“-Projekte. Aber ernstlich eingestellt auf die alltägliche Internationalität von Theater, auch von Stadt- und Staatstheater in Deutschland, jenseits von Highlights und Festivals, sind wir wohl wirklich noch nicht.

Ach ja, und noch was: Fast zeitgleich mit der Dokumentation von Nathalie Faris familiärer Doppel-Heimat war auch ein Spektakel in Sao Paulo zu erleben, das eher auf die Liste der abschreckenden Beispiele der (noch einmal!) Plurikulturalität gehört – die "Amazonas-Oper", ein ungemein gut gemeintes, extrem aufwändig realisiertes, aber letztlich vollständig hohles "Musiktheater“, das unter intensivster Mithilfe des Goethe-Instituts auf der Münchner Musik-Biennale im Mai dieses Jahres Premiere hatte und auch noch nach Lissabon reist. Der schale Cocktail aus lärmender "Neuer Musik", indianischem Beinahe-Kitsch und der Belehrsamkeit deutscher Gutmenschen ist schon in München kräftig genug verhauen worden; dem ist nichts hinzuzufügen. Das brasilianische Publikum nimmt die europäische Schlaumeierei eher amüsiert zur Kenntnis – vor allem den sehr un-indianischen Schlagzeuger, der gegen Ende in der Rolle des ausgebeuteten Urwald-Menschen wirklich sehr ulkig ist.

Da hat die einsame Nathalie in ihrem Silberkegel ohne Worte mehr zu erzählen vom Eigenen im Fremden. Und, wie gesagt, umgekehrt.

 

Michael Laages reist seit mittlerweile zehn Jahren regelmäßig nach Brasilien und verbringt meist mehrere Monate im Jahr in São Paulo.

 

Mehr zu Theater in Brasilien? Weihnachten 2008 berichtete Michael Laages zuletzt aus dem südamerikanischen Land und sezierte im Sommer 2008 den deutschen Kulturrummel auf Brasilien-Tournee.