In die Ohnmacht getrieben

21. August 2010. Die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, 1944 in Wien geboren, hat Irene Bazinger in der FAZ (21.8.2010) ein Interview gegeben. Sie spricht über ihre Frankfurter Zeit unter Peter Palitzsch: "Ich habe am Schauspiel Frankfurt fast zehn Jahre gespielt und gelernt, mich als mündiger, denkender Schauspieler zu begreifen." Von 1972 bis 1981 war Trissenaar in Frankfurt. Seit über 40 Jahren ist sie mit dem Regisseur Hans Neuenfels verheiratet: "Regisseursgattinnen werden mitunter ungern von anderen Regisseuren engagiert, das ist ein Fakt. Aber große Köpfe wie Rainer Werner Fassbinder, Einar Schleef oder Ruth Berghaus etwa, bei denen ich auch gespielt habe, hat es nicht gestört, mit wem ich privat zusammen war."

Und sie spricht über den Regisseur Armin Holz, in dessen Inszenierung von Was ihr wollt bei den Ruhrfestspielen sie zuletzt zu sehen war. "Ich glaube", sagt Trissenaar, "sein System besteht vor allem darin, gute, erfahrene Schauspieler zu engagieren, die seine Inszenierungen stützen - wie tragende Steine ein Gewölbe. Mit diesen Besetzungen zieht er Zuschauer an, denn die freuen sich auf Schauspieler, die sie kennen." Sie ist nicht gut auf ihn zu sprechen: "Wir waren acht Schauspieler, davon wollten vier aus dieser Produktion aussteigen, einer war sogar beim Rechtsanwalt."

Mit Holz allerdings habe es keine Möglichkeit gegeben, "die Unstimmigkeiten auszudiskutieren. So wird die Freiheit, die Grundvoraussetzung unseres Berufes, verletzt. Dabei habe ich noch nie einen Regisseur erlebt, der sich so wenig Zeit für die Arbeit mit den Schauspielern genommen hat." Er habe geprobt, wann immer er wollte, nichts habe sich zusammengefügt. "So etwas wie ein Krach war gar nicht möglich, und schon gar kein produktiver!" Allen Konflikten sei Holz ausgewichen, zwei Tage sei er sogar den Proben ferngeblieben. "Da wird man als Schauspieler natürlich in Ohnmachten getrieben."

"Was ist das für eine Zeit", fragt Trissenaar, "in der die Fama eines Regisseurs größer ist als seine tatsächliche Arbeitsleistung? Und in der künstlerische Unfähigkeit durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit ersetzt wird, die für positive Porträts des Regisseurs, gute Vorberichte und manchmal sogar Kritiken sorgt?" "Heutzutage scheinen meines Erachtens manche Regisseure viel mehr Zeit darauf zu verwenden, mit Medienleuten zu kungeln und sich strategisch wichtige Netzwerke - oder sagen wir gleich Seilschaften - zu organisieren, als mit den Schauspielern zu arbeiten." Ganz bestimmt sei dies jedenfalls die "schlimmste Erfahrung", die sie mit einem Regisseur hatte. Und warum, fragt Bazinger, "gelangen derartige Geschehnisse fast nie in die Öffentlichkeit?" Antwort: "Ich weiß auch nicht, warum so selten einer von uns den Mund aufmacht. Was haben wir denn zu verlieren – außer unseren Ketten?"

(dip)

Kommentare  
Trissenaar über Holz: Danke für Klartext
Wie bitte?! Danke, dass endlich mal jemand Klartext redet. Das wünschte man sich viel mehr.
Trissenaar über Holz: Klartext?
Frau Trissenaar redet also Klartext und zitiert Karl Marx, ich bin begeistert. Marx sprach übrigens auch von goldenen Ketten. Wo legt die denn Frau Trissenaar so hin, wenn sie nachts ganz empört über die Seilschaften der bösen Regisseure zu Bett geht? Wenn sie die riesige Fama von Armin Holz schon in die Ohnmacht treibt, sollte sie tatsächlich lieber alte Scherben ausbuddeln oder Aquarelle malen, das beruhigt ungemein die Nerven.
Trissenaar über Holz: blauäugig
Stefan - habe sie in ihren sonstigen kommentaren immer als einen klugen, originellen, loyalen schreiber kennengelernt. warum diese miefigen spitzen gegen Frau Trissenaar? kann mich nur 'Linus' anschließen, endlich macht mal eine(r) den mund auf. Oder halten sie jeden (bekannten) regisseur für unangreifbar, integer usw. dann haben sie noch nie unter einem gearbeitet und nur immer blauäugig in reihe 6 gesessen.
Trissenaar über Holz: das hätte man doch wissen können
Klartext ??

Also den sehe ich auch nicht.
Die Schauspielerin, der Schauspieler in Ketten: das ist ja selbst so eine Fama.
Frau Trissenaar muß wahrlich nicht jedem Job hinterherrennen, kann sich ihre
Engagements doch aussuchen: ihre Lage ist nun wirklich, was "man" so weiß,
komfortabler als bei vielen der Kolleginnen und Kollegen: die, mit denen sie in
"Was ihr wollt" zu spielen hatte, waren/sind freilich ähnlich etabliert und dürften
schwerlich diese "Kettenmetapher" bedienen, ob es nun gerichtliche Voränge gibt oder nicht.
Herr Holz ist nicht vom Himmel gefallen, vielen wohlbekannt, einigen irgendwie
"berüchtigt" (siehe Theatersonderling ...): Frau Trissenaar will uns allen Ernstes erzählen, daß sie von einer Art Verschwörungsnetzwerk zu jenem für sie so furchtbaren Engagement quasi verführt wurde, ja: die hocherfahrenen und viel-
gelobten (!) Kolleginnen und Kollegen gleich mit: Wer, wenn nicht solche erfahrenen Theaterpersönlichkeiten, sollte dann derlei Netzwerke kennen bzw. durchschauen:
... sind solche mit einer "Was ihr wollt"-Inszenierung instant vom Himmel gefallen ??
Ganz zu schweigen davon, daß Herr Holz auf nachtkritik de. tendenziell eher Gegenwind erfährt: sowohl in den Kritiken als auch den Kommentarspalten: gelegentlich werden ausgewiesene Erfolge, wie teilweise in Bochum, geflissentlich
übersehen.
Freilich, Herr Holz scheint mir in der Gefahr zu sein, in die Schublade "esoterisches
Kunsthandwerk" zu rutschen: und wahrscheinlich hat Frau Trissenaar in einem Punkt etwas Wichtiges dazu angesprochen: vermutlich täte es Armin Holz wirklich gut, einmal "Neue Dramatik" mit völlig unbekannten Akteuren zu stämmen, aber das ist nur meine bescheidene Vermutung dazu..
Trissenaar über Holz: lesen Sie ein gutes Buch!
Lieber Stefan: Warum verlieren Sie plötzlich Ihre Contenance und reagieren etwas aggressiv, schon beim Ödipus-Thema? Wegen Frau Trissenhaars Kommentaren brauchen Sie sich wahrlich nicht so zu erregen.
Zum Glück fängt die Saison bald wieder an. Sie können sich bis dahin regenerieren und zu Ihrer sachlichen Stärke zurückfinden. Vielleicht ein gutes Buch - es müssen ja nicht Stadelmaiers Impressionen sein. Die gesammelten Dramen von Botho Strauss beispielsweise wären eine gute Bettlektüre. Groß & Klein mit Nina Hoss in der Hauptrolle war ein gutes Stück, das lässt sich auch gut nachlesen.
Trissenaar über Holz: das sollte man intern klären
Da sehe ich mich ja jetzt fast genötigt, mich bei Frau Trissenaar persönlich zu entschuldigen, nee, nee, so einfach ist das dann auch wieder nicht. Also, ich habe das ganze Interview schon genau gelesen und wie auch AZ bin ich der Meinung, das nachher lamentieren nicht weiter bringt und das dann auch noch mit Ketten abwerfen begründet. Es hat ihr niemand Ketten angelegt. Dazu gehören immer zwei Seiten, Marx lesen und dann schreien. Wenn eine Handvoll gestandener Schauspieler mit einem Menschen, dessen Motive tatsächlich schwer zu enträtseln sind und der aber eher introvertiert rüber kommt, als sich mit der Presse zu verschwören, nicht fertig wird, dann liegt das nicht an allen Regisseuren sondern ist ein Einzelfall, der nur diese Personen etwas angeht. Sie sollten das intern klären und nicht in der Presse breittreten. Frau Trissenaar nutzt hier geschickt ihre eigene Popularität und die FAZ ist bekanntlich sehr empfänglich für so etwas und teilt gerne Seitenhiebe gegen das Regietheater aus. Armin Holz ist da nur ein willkommener Aufhänger. Es geht da schon eher in eine ganz andere Richtung.

Lieber Flohbär, das ich noch mal Botho Strauß lesen sollte, wird wohl so schnell nicht passieren, ich beschäftige mich gerade mit anderen Dingen, also Langeweile gibt es bei mir nicht. Wenn nichts in den großen Häusern läuft, gehe ich halt in die kleinen Bühnen, das ist nicht immer erfüllend oder erwähnenswert aber bringt zumindest einige Anregungen. Sergi Belbels „Blut“ zum Beispiel im TISCH hat mir sehr gut gefallen, läuft leider nicht mehr, aber nächste Woche gibt es eine Kleistbearbeitung des Gefängnistheaters aufBruch auf der Museumsinsel. Die sind immer sehr empfehlenswert. Man kommt also auch ohne Botho Strauß ganz gut über die spielfreie Zeit.
Was meine Contenance betrifft, ich habe mich noch ganz gut im Griff, will hier aber auch nicht ständig den netten Pausenclown geben.
Trissenaar über Holz: Mechanismen bleiben dunkel
@ Stefan

Ja, die Austragung jener für Frau Trissenaar so unerfreulichen Vorgänge wäre in der Tat besser intern erfolgt ...; und wenn es Frau Trissenaar (et al.) um mehr ging, also hier nur ihren Ansatz nahm, dann bleibt ihre sonstige Erfahrung (zB. bei der Zusage zu einem Engagement), wie ich oben andeutete, seltsam un(ter)belichtet und infolge-
dessen kann ich ihrem "Argument" auch nicht recht folgen, zumal die Mechanismen des Hypes hier auch dunkel bleiben, der sich hier so ganz besonders um Herrn Holz ranken sollte.
Ich teile Ihren Eindruck, daß Herr Holz eher introvertiert rüberkommt, und an anderer Stelle schrieb ich schon einige Zeilen zu "dem (?) Sonderlingstext", da ein Kommentator mich in Verbindung mit Herrn Holz brachte (ich halte diesen Text weiterhin für lesenswert).

Niemand muß Botho Strauß lesen !

Aber, empfehlen kann auch ich diese Lektüre !!

Beinahe ließe sich, ganz ohne A Nöff, Nöff, noch der Kreis schließen zu Stein und Libgart Schwarz, denn freilich hat ja nicht "nur" Nina Hoss das gespielt ("Groß und Klein").
Da Sie gerade aus Rom gekommen sind, würde ich Ihnen "Die Fremdenführerin" ans Herz legen wollen..
Freundliche Grüße aus Kiel, Ihr AZ

post scriptum:
Ich denke zudem, daß eine Diskussion um Strauß, Müller etc. ansteht, zB. wie
Müller Strauß so sah, Stichwort: Sorge um den Standard ... und wie "man" diesen
hält...
Trissenaar über Holz: ein Fall aus den Achtzigern
"Und warum, fragt Bazinger, 'gelangen derartige Geschehnisse fast nie in die Öffentlichkeit?' Antwort: 'Ich weiß auch nicht, warum so selten einer von uns den Mund aufmacht. Was haben wir denn zu verlieren – außer unseren Ketten?'"

Ich muß jetzt ein bisserl weiter ausholen, ehe ich zum Kern der Sache komme, bitte also um Geduld.
In den achtziger Jahren hat der Bayerische Rundfunk mal ein Feature über die Geschichte der Schuhmode gesendet. Darin kam unter anderem eine Schauspielerin C. vor, die seit früher Jugend schon sehr gerne in hochhackigen Stöckelschuhen rumlief und ein fast fetischistisches Verhältnis zu diesen Dingern hatte.
Frau C. erzählte nun, sie habe mal in einer Macbeth-Inszenierung in Bochum (?) eine der drei Hexen gespielt und der Regisseur habe den Einfall (!) gehabt, die Hexen nackt auftreten zu lassen (ja, gut, ich nehme das Ausrufezeichen wieder zurück, vielleicht war das damals noch originell). Sie habe sich furchtbar geschämt, so berichtete Frau C. weiter, splitternackt auf der Bühne rumzustehen und habe den Regisseur (ich weiß den Namen nicht mehr, es war ein recht bekannter Name, aber ich komm nicht mehr drauf) gebeten, wenigstens ihre Stöckelschuhe anbehalten zu dürfen, sie fühle sich dann nicht mehr so ganz nackt. Man habe sich schließlich drauf geeinigt, daß sie einen Stöckelschuh habe tragen dürfen.
Ich habe die Geschichte deshalb so ausführlich erzählt, um klarzumachen, daß es hier überhaupt nicht um Theater, Regie oder Regietheater ging.
Was kann man aus dieser kleinen Geschichte schließen? Frau C. war es ausgesprochen widerlich, nackt auf der Bühne aufzutreten, aber sie hat es nicht gewagt, sich schlicht zu weigern. Sie wäre aus diesem Stück rausgeflogen und sie hätte ganz, ganz schlechte Karten für künftige Engagements gehabt - das schließe ich daraus.
Trissenaar über Holz: Traute wächst mit Bekanntheitsgrad
Na schön, Herr Heinrich, wir leben aber nicht mehr in den 80ern. Wenn das Regiekonzept sagt, alle Schauspieler sind nackt, dann hat das wahrscheinlich auch einen Sinn. Bei Macbeth mit Hermann Lause in den 80ern waren alle nackt. Ich weiß aber nicht ob das ihr Bochumfall ist. Es gibt ein Gegenbeispiel, außer das Jürgen Gosch mal 3 nackte Männer, die offensichtlich großen Spaß daran hatten, als Hexen in seinem Macbeth hat auftreten lassen, inszenierte er auch 2007 am Deutschen Theater in Berlin ein Stück von Schimmelpfennig, in dem alle Schauspieler sich auszogen und mit Kleister einstrichen, Sand oder Federn auf die Körper auftrugen und gegenseitiges Bodypainting veranstalteten. Das Stück hieß Das Reich der Tiere. Dörte Lyssewski behielt ihr Kleid an. Das geht also auch. Was ich damit sagen will, es kommt wahrscheinlich immer auf den Bekanntheitsgrad des Schauspielers an, ob er sich was zu sagen traut oder nicht. Frau Trissenaar hat da wohl eher keine Probleme den Mund auf zu machen.
Trissenaar über Holz: alles eine Frage des persönlichen Bereitseins
@ Wolfram Heinrich
Also, es muss sich tatsächlich um die Macbethinszenierung mit Hermann Lause handeln, Regie Luc Bondy in Köln 1982, Lady Macbeth war Ilse Ritter und alle splitterfasernackt. Leider gibt es keine Besetzungsliste im Netz und so bleibt die C. im Dunkeln. Ich habe da nur eine Vermutung, sie spielt jetzt in Wien.
Zumindest Ilse Ritter ist ja so ziemlich zu allem bereit, gerade was Armin Holz betrifft. Es ist also immer alles eine Frage der persönlichen Einstellung zum Regisseur und dem Beruf.
Trissenaar über Holz: Nackedeihuberei
Lieber Herr Stefan

Ihr Tip "Luc Bondy" könnte goldrichtig sein. Jetzt wo Sie mir den Namen sagen, glaube ich tatsächlich, daß Frau C. damals von Luc Bondy sprach.

"Wenn das Regiekonzept sagt, alle Schauspieler sind nackt, dann hat das wahrscheinlich auch einen Sinn."

Selbstverständlich hatte diese Nackedeihuberei (ist die eigentlich inzwischen vorbei?) einen Sinn. Da kann sich der Macbeth die Seele aus dem Leib spielen (und Hermann Lause war ja nun wahrlich ein hervorragender Schauspieler), er wird nicht halb so viel Publicity für die Inszenierung erzeugen wie die nackten Hexen. Nackerte Weiber (wahlweise auch Mannsbilder) und das alles ohne daß man sich genieren müßte, weil es ist ja Kulturrr.

"Was ich damit sagen will, es kommt wahrscheinlich immer auf den Bekanntheitsgrad des Schauspielers an, ob er sich was zu sagen traut oder nicht."

Na ja, freilich. Wenn ich so bekannt und begehrt bin, daß ich mir die Angebote aussuchen kann, dann kann ich natürlich dem Reschieschenie empfehlen, er möge sich einen anderen Deppen für sein Kasperltheater suchen. Wenn aber nicht, dann muß ich mir halt seufzend das Hoserl runterziehen. Wenn's denn der Schamhaarfindung dient...

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: Einheitsbrei
@ Stefan und Herrn Heinrich

Stimme Ihren Beispielen zur "Nacktheit auf der Bühne" durchaus zu,
Stefan, ich sah für mich ja auch zB. in der Skala bei Lars von
Triers "Idioterne", Lars von Trier: wirklich ??- ließe sich (vermutlich mit Herrn Heinrich ...), den Sinn qua Regiekonzept:
andererseits, das gilt nun keineswegs für jede Inszenierung: Gegenbeispiele in Richtung "Nackedeihuberei" und "Coolnessdarbietung in Sachen Sexualität (und zwar weit über die Nacktheit bloßer Körperblöße hinaus, siehe das inflationäre, allenorts zu habende "Ficken, Blasen, Rennquintett, man wie ist das Leben nett")" gibt es hinreichend häufig, um am "wahrscheinlichen Sinn qua Regiekonzept" wieder ein wenig zu zweifeln.
Offen gestanden, liebe Herren, Ihre Auslassungen zum "Ödipus", die für mich ein sehr positives Beispiel für allerlei Nachtkritikmöglichkeiten darstellen, finde ich beileibe interessanter und beiderseits einleuchtender als das jetzt hier,
zumal es zwar stimmt, daß häufig immer dieselben Leute in denselben Stücken sitzen, aber es gibt halt auch Personen wie mich,
die in Sachen "Antike Stücke" eher einen Nachholbedarf haben, wenngleich mir der eine oder andere Mythos auf mittlerem LK-Latein-
Niveau (denke ich) vertraut ist: Hat jeder so seinen speziellen
"Fäbel" ... .
Ich finde Ihre Methode, Herr Heinrich, den Ödipus gewissermaßen
humanethisch anzugehen, durchaus spannend und weiß gerade hinsichtlich des Abraham-Falles von ähnlichen Unternehmungen
(zB. "Der komische Kierkegaard" von Wilhelm Korff), allerdings geht mir das "Biologismusargument" noch nicht vollends auf; das setzt ja bei den Inszenierungen eine ganz bewußte ideologische Akzentuierung voraus, denke ich, also mehr als eine Gewohnheit, Geläufigkeit : diese müßten Sie dann aber eigentlich nennen, um hier nicht apodiktisch zu urteilen, oder ?.
Zumal zu klären wäre, warum das, was da auf der Bühne verhandelt wird, "tragisch" genannt wird: Wer vertritt denn die Auffassung, daß es jemals so verengt gefaßt worden wäre, daß das Tragische aus dem Inszest selbst hervorgeht oder dem "Vatermord" ??
Ich sehe im Alltag allenthalben eine Auseinanderentwicklung der Lebensalter bzw. einen lebensalterlosen (netten) Einheitsbrei, gehe an Schaufensterzuchtpuppen, einem Jungen, vorbei: Aufschrift der Kleidung "Draufgänger", sehe das ERGO-Plakat dann "Ich will von Menschen versichert werden, nicht von Grauen Herren": ich fühle mich mal wieder in so nen Zwiespalt getrieben..

Zurück zu diesem Thread:
Ich machte meine Anmerkung vor allem auch deswegen, weil ich das ziemlich wohlfeil fand, die Tinte der Verrisse zur Neuhardenbergsache, Sie wissen schon "Das Fröken, die Fremdscham, das zum Affenmachen und dazu gehts A Nöff,Nöff", war noch garnicht recht getrocknet und dann: der Mut einer Schauspielerin !
Das finde ich in der Tat lächerlich !!.
Trissenaar über Holz: Showbusiness
Sehr geehrter Herr Zarthäuser,

ich glaube, mit der Nacktheit und ein bisserl Sex ist es so eine Sache. Damit konnte man in den sechziger bis achtziger Jahren so leidlich Aufsehen erregen, heute sind Pornos der drastischen Art und jedweder Qualität qua Internet problemlos verfügbar. Wer also in die Zeitung (sprich: Medien) kommen und dort bleiben will (und wer im Showbusineß tätig ist, der muß das wollen, machen wir uns nichts vor), der muß ein oder zwei Briketts drauflegen. Solide Kunst abzuliefern reicht da nicht, es gibt zu viele, die so was können und überragende Kunst... tja, da gibt es halt recht wenige und wenn du das nicht bringst, mußt du anderweitig auffallen, das heißt eine möglichst bunte und krasse Sau durchs Dorf treiben. Die Branche ist erbarmungslos. "Publish or perish" (Publiziere oder geh unter) heißt es bei den Wissenschaftlern, "shock or perish" ist die Devise der... äh,... Schönen (hmtja) Künste.
Ich mein, so ganz neu ist das nicht, das Ficken auf offener Bühne gab es im "Salambo" auf der Reeperbahn schon in den sechziger Jahren, damals noch fiktiv (ich bin albern, ich weiß). Ab den frühen Siebzigern wurde dort dann echt gerammelt, dem Vernehmen nach soll das sogar ganz sauber und künstlerisch inszeniert worden sein, von einem gewissen René Durand.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44418212.html

Nacktheit u. dergl. auf der Bühne ist halt einfach Geschäft, mit einem Dialog zwischen zwei Leuten in einer Tonne lockst du heutzutage nur noch Hardcore-Ästheten hinter dem Ofen hervor. Wo die Kunst bleibt, fragen Sie? Kunst, wennst kanntst, mi wos leichters frong. (Für den, der des Bairischen nicht so besonders mächtig ist folgt, als Sonderservice, die Übersetzung: Könntest du, wenn du dazu in der Lage bist, mich etwas leichteres fragen.)

"Offen gestanden, liebe Herren, Ihre Auslassungen zum "Ödipus", die für mich ein sehr positives Beispiel für allerlei Nachtkritikmöglichkeiten darstellen, finde ich beileibe interessanter und beiderseits einleuchtender als das jetzt hier, zumal es zwar stimmt, daß häufig immer dieselben Leute in denselben Stücken sitzen, aber es gibt halt auch Personen wie mich, die in Sachen "Antike Stücke" eher einen Nachholbedarf haben, wenngleich mir der eine oder andere Mythos auf mittlerem LK-Latein-Niveau (denke ich) vertraut ist:"

Wer Nachholbedarf in Bezug auf antike oder auch nur alte Stücke hat, der tut sich natürlich mit den - hüstel - kreativen Inszenierungen ein bisserl schwer.

"... allerdings geht mir das "Biologismusargument" noch nicht vollends auf; das setzt ja bei den Inszenierungen eine ganz bewußte ideologische Akzentuierung voraus, denke ich, also mehr als eine Gewohnheit, Geläufigkeit : diese müßten Sie dann aber eigentlich nennen, um hier nicht apodiktisch zu urteilen, oder ?."

Das genau ist ja das Kreuz. Man kann Sophokles nicht so inszenieren, daß am Ende etwas ganz anders herauskommt, als Sophokles gemeint und gewollt hat. Das heißt, man kann es schon, aber man inszeniert dann halt nicht mehr Sophokles. Meine Lösung war, gleich ein ganz anderes Stück über den Stoff zu schreiben, dabei hatte ich alle Freiheiten, die ich brauchte.

"Wer vertritt denn die Auffassung, daß es jemals so verengt gefaßt worden wäre, daß das Tragische aus dem Inzest selbst hervorgeht oder dem "Vatermord" ??"

Ich weiß auch nicht, woher das Tragische sonst kommen könnte. Haben Sie einen Vorschlag?

"Ich machte meine Anmerkung vor allem auch deswegen, weil ich das ziemlich wohlfeil fand, die Tinte der Verrisse zur Neuhardenbergsache, Sie wissen schon "Das Fröken, die Fremdscham, das zum Affenmachen und dazu gehts A Nöff,Nöff", war noch garnicht recht getrocknet und dann: der Mut einer Schauspielerin !
Das finde ich in der Tat lächerlich !!."

Mei, wenn der Strindberg, dieser eigensinnige Zausel, dem "Fräulein Julie" einen satten Selbstmord gönnt, der Regisseur aber meint, ein Italien-Urlaub des Fräuleins mitsamt ihrem Dienstpersonal wäre viel hübscher, wenn er ferner meint, die Hälfte von dem Zeug, was dieser Strindberg da hingeschmiert hat, wäre eine Zumutung und es folglich streicht, dann gibt das doch zu denken. Unwillkürlich wird man dran erinnert, daß das deutsche Wort "Dichtung" eine doppelte Bedeutung hat. Klempner, übernehmen Sie!

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: nur noch einer nackig
Komme gerade aus einer 10 Jahre „Körper“ Veranstaltung aus der Schaubühne und finde das hier ganz passend. Was hätte zum Beispiel Sasha Waltz gemacht, wenn ihre Ensemble-Mitglieder gesagt hätten: „Ausziehen? Nö, machen wir nicht.“ Eines der besten Tanzstücke der letzten 10 Jahre wäre nicht entstanden. Für einen guten PR-Gag haben sich die neuen Schaubühnen-Macher sogar selbst vor 11 Jahren nackt wie die Kommune 1 an die Wand gestellt. Von diesem Team das damals gestartet ist, steht allerdings nur noch einer ziemlich nackig da.
Nun musste sich Frau Trissenaar ja gar nicht ausziehen, nein, sie musste sich seelisch entblößen für ein Regiekonzept, das sie nicht mittragen wollte. Was ist nun also schlimmer, sich einmal blamieren oder Augen zu und durch? Letztendlich muss ein Schauspieler Vertrauen zum Regisseur entwickeln können, ist das nicht gegeben, dann ist das Ergebnis so wie bei Armin Holz` Inszenierung von Was ihr wollt. Alle spielen aneinander vorbei nichts passt mehr zusammen. Wie es besser geht, kann man an der Schaubühne oder am Maxim Gorki Theater sehen in gewachsenen Ensembles mit Spielfreude.
Trissenaar über Holz: Altmänner-Gesundheits-Unterhosen
Lieber Stefan,

"Was hätte zum Beispiel Sasha Waltz gemacht, wenn ihre Ensemble-Mitglieder gesagt hätten: „Ausziehen? Nö, machen wir nicht.“ Eines der besten Tanzstücke der letzten 10 Jahre wäre nicht entstanden."

Also, zum einen sind die Tänzerinnen und Tänzer bei Sasha Waltz nicht nackt aufgetreten. Der Premierenkritik der Süddeutschen Zeitung entnehme ich: "In die Nacktheit des Raumes mischt sich die Nacktheit der Tänzer, ebenso nüchtern, ebenso rein. Nur mit hautfarbenen Slips bekleidet und kastenförmigen Imkernetzen über den Oberkörpern, bieten sie sich den Blicken des exquisiten Premierenpublikums dar...".
Wobei man über den Begriff "hautfarben" streiten kann, was ich hier auf dem Photo sehe (http://www.nahaufnahmen.ch/wp-content/uploads/2009/11/KôRPER2_Bernd-Uhlig2.jpg) sind äußerst züchtige Altmänner-Gesundheits-Unterhosen. Daß auch die Damens ihren Oberkörper nackt zeigen, dürfte im Jahr 2000 auch keinen Moralapostel mehr zum "Der-Untergang-des-Abendlands-ist-nah"-Aufschrei gebracht haben.
Was ich sagen will, die (Fast-)Nacktheit der Tänzer bei Sasha Waltz ist mit Sicherheit kein Publicity-Gag gewesen, diese Nacktheit lag nahe, lag in der Natur der Sache und des Themas (menschliche Körper eben).
Falls ich mißverstanden worden sein sollte: Ich habe nichts gegen Nacktheit und Erotik auf der Bühne. Wenn einer sagt, ich lege euch eine Tanz- und Strip-Show hin, daß den Herren die Hose eng und den Damen das Hoserl feucht wird, so mag er das tun. Shakespeares Text aber gibt nicht den mindesten Hinweis darauf, es seien Herr und Frau Macbeth samt allen sie Umgebenden nackt durchs windig-kühle Schottland geschritten. Diese Art von Nacktheit, die wahrscheinlich auch nicht annähernd so erotisch war, wie eine zünftige Striptease-Show, ist halt Kasperltheater, damit man in die Zeitung kommt.
Daß sich Tänzer(innen) nicht allzu sehr mit Kleidung belasten wollen, versteht sich, das liegt in der Natur der Sache. Die vollbringen körperliche Höchstleistungen auf der Bühne und mit einem Maigret-Trenchcoat auf dem Leib hätte sich auch Nurejew etwas eingeschränkt gefühlt. Schon die Jungs und Mädels vom Klassischen Spitzentanz hatten so hautenge Dressen auf ihrem Körper, daß Nacktheit fast schon wieder züchtig ist.

"Für einen guten PR-Gag haben sich die neuen Schaubühnen-Macher sogar selbst vor 11 Jahren nackt wie die Kommune 1 an die Wand gestellt."

Auch das ist ganz etwas anderes als das, was ich bemäkelt hatte. Das ist, wie Sie schon schrieben, ein offensichtlicher PR-Gag, noch dazu ein augenzwinkerndes Bildzitat auf die Kommune 1.

"Letztendlich muss ein Schauspieler Vertrauen zum Regisseur entwickeln können, ist das nicht gegeben, dann ist das Ergebnis so wie bei Armin Holz` Inszenierung von Was ihr wollt. Alle spielen aneinander vorbei nichts passt mehr zusammen."

Letztendlich, so füge ich hinzu, muß ein Regisseur in der Lage sein, seinen Schauspielern zu ermöglichen, zu ihm Vertrauen zu haben. Das ist der wichtigere Teil des dialektischen Zusammenhangs, weil der Regisseur in der Regel sehr viel mehr institutionelle Macht als seine Schauspieler, wenn er Vertrauen mißbraucht, geht sehr viel mehr kaputt. Und wenn, wie Sie schrieben, bei "Was ihr wollt" das ganze Ensemble aneinander vorbeispielt, dann liegt höchstwahrscheinlich der Fehler nicht bei den Schauspielern, sondern beim Chef.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: funktionierende Verhältnisse
Lieber Herr Heinrich,

"Letztendlich, so füge ich hinzu, muß ein Regisseur in der Lage sein, seinen Schauspielern zu ermöglichen, zu ihm Vertrauen zu haben."

Genau das wollte ich eigentlich sagen, habe mich nur etwas falsch ausgedrückt. Armin Holz hat hier ein Versäumnis begangen nicht Frau Trissenaar, anderes habe ich auch nie behauptet. Nur die Ketten, von denen sie spricht, die hat er ihr sicher nicht angelegt. Deshalb habe ich etwas sarkastisch reagiert, in meinem ersten Kommentar.

Ich habe sogar noch ein besseres Beispiel für funktionierende Schauspieler-Regisseurs-Verhältnisse. Nachzulesen im neuesten SPEX-Magazin, auch wenn das viele für Kommerzkacke halten, sind die Interviews dort sehr interessant, zumindest die mit Schlingensief und Pollesch. Rene Pollesch sagt zum Beispiel: „Bei mir auf der Bühne muss kein Schauspieler etwas sagen, was er nicht sagen will, und niemand muss eine Ästhetik decken, die ich vorgebe. Das kann so weit gehen, dass die Schauspieler während der Probe merken, dass ein Stück nicht funktioniert und wir die Inszenierung dann absagen …“ Grundlage für diese Situation war der Theaterfilm „Opening Night“ von John Cassavetes, in dem eine Schauspielerin nicht auf der Bühne geohrfeigt werden will. Alle halten sie für verrückt, weil sie nicht tun will, was im Skript steht, dabei sind alle anderen verrückt meint Pollesch und daher sind er und die Schauspieler zu dem Schluss gekommen, das man das nicht machen kann. Es gibt ja durchaus auch Fälle in denen Schauspieler sich zusammentun und den Regisseur rauswerfen, jüngst geschehen bei Hochhuths Inselkomödie oder auch schon in der Volksbühne. Was danach dann raus kommt ist eine andere Sache, meist wird ein neuer Regisseur gesucht, da man den Schauspielern nicht zutraut, im Kollektiv das Stück zu Ende zu inszenieren. Pollesch sagt: „… dann wird auf die Inszenierung geschaut wie auf eine Ein-Zimmer-Wohnung, in der zehn Leute leben. Kollektive werden als asozial empfunden. Dabei sind sie das Gegenteil!“ Dem ist nichts hinzu zu fügen.
Trissenaar über Holz: verdammt schwierig
Lieber Herr Stefan,

ich habe Ihre Klarstellung mit einigem Vergnügen gelesen. Schön zu hören, daß es immer noch Regisseure gibt, die sich nicht wie Despoten aufführen, wenn sie ihre "emanzipatorischen und sozialkritischen" Stücke inszenieren und ihre Schauspieler nicht für Idioten halten. Eine Inszenierung durch ein Kollektiv stelle ich mir sehr schwierig vor, die Gruppendynamik muß da wohl verdammt gut sein. Es heißt zwar, viele Köche verdürben den Brei, aber andererseits sind zehn Köpfe schlauer als einer, wenn sie sich nicht durch Eitelkeiten gegenseitig schachmatt setzen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: Verfügungsgewalt der Oikos-Herren
@ P.P.

"Ein loyaler Schreiber":

Muß ein solcher es gut finden, wenn Frau Trissenaar hier die ganz große "Opferarie" singt, etwas verspätet anmutend mir, denn "Was ihr wollt" ist schon ne Weile her, die (vermutlich nicht völlig unberechtigten, darum ging es hier in diesem Thread nur eigentlich nicht); hat das nicht mit Stil und Anstand zu schaffen, daß möglichst 1. intern zu klären bzw. 2. zeitnah: Warum kommt mir das nur so abgeschmackt und wohlfeil vor, daß in einen Reigen von frischen Verrissen zu einem anderen Stück zu stellen ??
Ist "man" unloyal (mit wem ???), wenn man die Frage stellt, wie das so kommt, daß qua dieser Holzerfahrung plötzlich "Netzwerke von Täuschern und Cosa-Nostra-Gängern" herniedergehen ...: Frau Trissenaar ist Profi.
Die Nähe vom Holz-Block zum Schlingensief-Block, die qua Nachtkritik-Seite seinerzeit vorlag, schien mir ein Holz-Hacken irgendwie nahezulegen: das hatte für mich so ein Geschmäckle, und das wollte ich hier zum Ausdruck gebracht haben. Unloyal, furchtbar
unloyal ?!

@ Stefan

Richtig, es liegt nahe, diese Versäumnisse beim Regisseur festzumachen, aber mehr halt auch nicht: Die Aussage "Herr Holz hat hier ein Versäumnis begangen, nicht Frau Trissenaar" geht schlichtweg zu weit: Sie waren nicht vor Ort, und Inszenierungen sind immer Wagnisse, sie aufzuführen, selbst wenn es noch so viele Bedenken geben mag, mag ein Scheitern offenbaren: Keiner sagt, daß es nicht ein verteufeltes Stück geben könnte, das aus unerfindlichem Grunde
stets scheitert (scheitern muß ?): Sehen Sie doch das Scheitern als Chance !

@ Heinrich

Schließe mich, was das "Tragische" angeht, den bisherigen Ausführungen Herrn Enders an. Denken Sie denn, wir nennen den sophokleischen Ödipus eine Tragödie, weil es da zu Inzest und Vatermord kommt (nach damaligen Verständnis) ...: dann hätte sich der Dichter ja wahrlich viel Schweiß ersparen können !
Naja, und so zu tun, als sei die "Verfügungsgewalt" der Oikos-Herren über Familie, Haus und Hof immerzu umwittert gewesen von
der "Beseitigung der eigenen Brut" wäre wohl auch stark überzeichnet: Wäre das eine so alltägliche Geschichte, dann wäre letztlich das Verhalten der Hirten geradezu unerklärlich modern im Grunde: ihr Verhalten läßt ja letztlich Laios und seine Mittäterin wohl in einem ganzen anderen Lichte sehen..
Welche "überzeitlichen Mythenwerte" sollen uns denn da untergejubelt werden, und muß das notwendig passieren, wenn "man" heute den Ödipus inszeniert (mein Inszest-Schreibfehler geht schon fast wieder auf Inszenierung ..., auch albern)..., kommt mir fast schon so vor, was sie da schreiben.

Wann und wo haben Sie diese Tragödie mit all denen, die immer in denselben Stücken sitzen, es sind ja (angeblich ?) nicht so viele,
jemals nicht zur Verärgerung Anlaß gebend inszeniert gesehen, oder geht der Einwand beinahe sogar so weit, da sich Ödipus ja sozusagen am Faden der selbstgestrickten, nicht schicksalhaften "Tragödie" bewegt, zu bezweifeln, daß das Stück jemals mit gutem Recht als "Tragödie" verstanden wurde, ein beständiger Publikumsirrtum schon seinerzeit, der (wie der Stoff selbst) freilich gut in seine Zeit paßt ??.
Und zum "Fröken": Stimme ja zu, daß, wie Stefan schreibt, Regiehandwerksfehler als Erklärung für "Was ihr wollt" naheliegen, ja, daß es befremdlich ist, wenn ein Regisseur X ein Stück Y macht, das er eher ablehnt, gegen dessen Inhalte sogar eine gewisse Gleichgültigkeit herrscht, auch hierfür gibt es Anzeichen (ein gestrichener Selbstmord ist kein kleines Detail !!): aber, warum das alles populistisch vermengen und selbst dabei so eigenartig hinter die eigenen Aussagen zurücktreten, als habe es ein Vorfeld der Inszenierung nie gegeben ???
Trissenaar über Holz: Zusatz
18-Zusatz

Muß nach der Klammer natürlich weitergehen oben: die (...) kritischen Striche dazu mal weggelassen (dazu gab es einen eigenen
Thread), ...


Sorry, einige Leseerschwerer mehr ...

Es sind ja auch nicht "die Hirten" bei Sophokles, sondern es ist ja
"der Hirte" etcpp.; mir unterliefen in § 18 schon einige Schnitzer:
so ein "daß", wo "das" stehen müßte, und Loyalität steht für mich normalerweise mit "gegenüber", währenddessen "mit" eher verräterisch auf ein "Gedrungensein von außen" (P.P.) hindeuten mag.
So ist das in den Internetcafes, wenn die kurz vorm Schließen sind, und man selbst hängt in so einem Satz.

ach, und: ...
Herr Heinrich: Sie schreiben ja auch einige Sätze zu Kehlmann und dem Regietheater in ihrem Blog.
Soweit Sie sich dabei auf den Etikettenschwindel so manch einer Inszenierungsübung beziehen und auf die platten ökonomischen Hintergründe eines solchen, folge ich Ihnen durchaus: ich empfand Marthalers Weise "X durch Marthaler" oder verwandte Vorgehensweisen
mit "Y nach Z", das schrieb ich auch einmal auf nachtkritik, ich glaube, bezugnehmend auf ein ähnliches Statement von Sunnyi Melles,
da teilweise schon als "halbe Lösung" des Problems.

Heute wird allerdings vor allem Stimmung und Kulturpolitik mit der
"Regietheaterdebatte" betrieben und hoffnungslos alles vermengt:
Da ist Castorf schon mal schnell der Bösewicht, der das Regisseurstheater losgetreten habe, da werden Romanadaptionen und Regisseurstheater in einem Atemzug abgetan, und auch die "Regie im Theater" wird altermäßig schnell einmal mit dem Kritikerstand
abgeglichen, währenddessen andere sich in alle Öffentlichkeit stellen- quasi als Verfolgte durch die Regietheaterbeschimpfer: ...
mittlerweile ist das fast ein Mechanismus, von dem beide Seiten ökonomisch zehren oder prestigemäßig: waren zB. Stadelmaier und Khoun in Neuhardenberg seinerzeit: "Zu welchem Ziel erdulden wir ..." .
Lesen Sie bitte noch einmal Herrn Goergen zur Kehlmann-Sache auf nachtkritik de. durch oder nehmen Sie Rühles "Anarchie in der Regie" zur Hand (es gibt das als Suhrkampband (Teil 2 von Theater
unserer Zeit ...): auf dem Cover: die Trissenaar !)): ich denke, da wird auf vieles, was Sie in Ihrem Blog zurecht befragen, kompetent geantwortet !! Heute aus Lübeck, Ihr AZ
Trissenaar über Holz: Die Sache mit der Mutter
Lieber Herr Zarthäuser,

der Kommentar kommt diesmal wieder in zwei Teilen.

"Schließe mich, was das "Tragische" angeht, den bisherigen Ausführungen Herrn Enders an. Denken Sie denn, wir nennen den sophokleischen Ödipus eine Tragödie, weil es da zu Inzest und Vatermord kommt (nach damaligen Verständnis) ...: dann hätte sich der Dichter ja wahrlich viel Schweiß ersparen können !"

Das Stück und das Tragische in ihm besteht natürlich nicht nur aus Inzest und Vatermord. Wenn diese Verwicklungen niemals aufgekommen wäre, dann hätten Ödipus und Iokaste fröhlich und ahnungslos weiterleben können und wenn sie nicht gestorben sind...
Natürlich ist das Tragische an der Geschichte die Unausweichlichkeit, mit der die Dinge, dem Fluch der Götter gemäß, geschehen. Im Gegensatz zu anderen Tragödien der Weltliteratur fällt beim "König Ödipus" aber auf, daß es hier Ödipus selbst ist, der am Ende des Stückes das Verhängnis über sich bringt, bewußt und gewollt und nicht von außen provoziert. Macbeth und Richard III. werden am Ende von anderen für ihre Schurkenstreiche bestraft und gemetzelt, auch der "Götz von Berlichingen" bei Goethe (der echte Götz ist ja steinalt geworden und hatte noch ausreichend Zeit, seine Memoiren zu schreiben). Bei Sophokles dagegen haben die Umstehenden gar keine Zeit, sich Gedanken zu machen, ob sie jetzt Ödipus verfluchen oder bestrafen oder lieber doch bemitleiden sollen (spontan regen sie sich nicht sonderlich auf). Es ist Ödipus selbst, der sich blendet und verflucht.
Im übrigen sei hier auch mal angemerkt, daß die "Sache mit der Mutter" der springende Punkt an der ganzen Ödipus-Affäre ist, sie ist verantwortlich für das Aufsehen, das die Geschichte über die Jahrhunderte hinweg erregt hat. Die Story vom Vatermörder aus Versehen hätte in der europäischen Geistesgeschichte keine nennenswerten Wellen geschlagen, wenn der junge Mann anschließend seine Finger von der Mama gelassen hätte.
Angesichts hunderter und aberhunderter Söhne und Väter aus allen Herrscherhäusern Europas, die im Laufe der Geschichte von ihren jeweiligen Vätern oder Söhnen ermordet wurden - und zwar bewußt getötet und gewollt ermordet - wäre eine versehentliche Vatertötung allenfalls als Kuriosität am Rande registriert worden.
Es war Ödipussens Mutter, welche die Phantasie der Leser und Zuhörer erregte. Erst die nach dem "Mord" an Laios erfolgte inzestuöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn hat Horden von Groß- und Kleindenkern dazu gebracht, mit erigiertem Gänsekiel in feuchtoffenen Tintenfässern zu stochern. Gell.

Und wenn Sie, lieber Herr Zarthäuser, von "Inzest und Vatermord (...) (nach damaligen Verständnis)" sprechen, dann habe ich fast den Eindruck, als hätte ich mit meinem Ausführungen im Nachbarthread "Tod in Theben in Salzburg" offene Türen eingerannt. Das hört sich so an, als sei es heute, und das schon länger, selbstverständlicher Konsens, daß man die Taten des Ödipus nur nach damaligem Verständnis als Vatermord und Inzest beschreiben könnte. Ich habe dergleichen noch nie gelesen, wenn Sie hier mehr wissen, dann bitte ich um Quellen, ich lerne gerne dazu.

"Naja, und so zu tun, als sei die 'Verfügungsgewalt' der Oikos-Herren über Familie, Haus und Hof immerzu umwittert gewesen von der 'Beseitigung der eigenen Brut' wäre wohl auch stark überzeichnet:"

Na ja freilich, natürlich war die "Beseitigung der eigenen Brut" keine Alltäglichkeit, aber es war selbstverständliches Recht des Familienpatriarchen, wenn es ihm denn notwendig erschien. Und die Spartaner haben wohl noch zu Sophokles' Zeiten schwächliche Säuglinge kurzerhand ausgesetzt.

"Welche 'überzeitlichen Mythenwerte' sollen uns denn da untergejubelt werden, und muß das notwendig passieren, wenn 'man' heute den Ödipus inszeniert

Sie werden lachen, ich glaube, das muß so sein, wenn man heute den "König Ödipus" von Sophokles inszeniert. Wenn ich das Stück von Sophokles inszeniere, dann sollte der Zuschauer - wie immer die Inszenierung im Einzelnen ausschauen mag - beim Verlassen des Theaters den Eindruck haben, er habe gerade eben ein Stück von Sophokles gesehen, hervorgeholt aus Alter Zeit. Irgendwelche Kommentare meinerseits sollten dann im Programmheft stehen oder sie müßten - wenn sie denn in der Inszenierung selber auftauchen - so deutlich abgesetzt werden vom Text des Sophokles, daß jedem klar ist, daß hier nicht mehr Sophokles spricht sondern der Regisseur.
Trissenaar über Holz: die Sache mit der Mutter II
"...zu bezweifeln, daß das Stück jemals mit gutem Recht als 'Tragödie' verstanden wurde, ein beständiger Publikumsirrtum schon seinerzeit..."

Nein, eben gerade kein Irrtum. Das Stück von Sophokles ist eine Tragödie, sie spiegelt seine und seiner Zeit Sicht auf die Vorgänge wieder. Und es war auch in der Folgezeit eine Tragödie, denn lange Zeit hatte sich nicht viel geändert in Bezug auf die überlieferte Sicht auf die Vorgänge. Es ist noch gar nicht so lange her, daß die feudalen Herrschaftsstrukturen bei uns abgeschafft wurden und solange diese Strukturen bestanden war es freilich so, daß die biologische Abstammung eines Menschen ganz erheblich seinen sozialen Rang bestimmte. Ich war Fürst, weil schon mein Vater Fürst war und wenn sich herausstellte, daß diese Abstammung nur ein Fehler war, dann war ich eben nicht mehr legitimer Fürst, sondern irgendein Zausel.
Nur: Dem ist nicht mehr so, auch wenn es sich noch nicht bis überall hin herumgesprochen hat.

"So ist das in den Internetcafes, wenn die kurz vorm Schließen sind, und man selbst hängt in so einem Satz."

Ah, so ist das, das erklärt natürlich einiges. Ich muß gestehen, daß ich öfter etliche Probleme mit Ihren Sätzen habe, ich verstehe sie einfach nicht, sie sind so kraus in sich verwunden.
Sie scheinen viel zu reisen, wenn ich das "Heute aus Lübeck" richtig verstehe. Mein Tip wäre: Legen Sie sich einen Laptop zu, ferner einen USB-Stick, mit dem Sie sich - wo auch immer Sie sich gerade befinden - ins Internet einklinken können und schreiben Sie Ihre Beiträge in aller Ruhe im Hotelzimmer. Schreiben Sie die Beiträge in einem Texteditor (Word oder OpenOffice etwa), das ist viel komfortabler als das direkte Schreiben in dieses allzu kleine Eingabefenster. Und dann lese Sie den Text vor dem Absenden nochmal in Ruhe durch.
Und nehmen Sie mir vor allem das Obige nicht als naseweise Schulmeisterei übel sondern als Hinweis von einem, der eine ganze Menge übler Erfahrungen mit den Tücken von Internet und einigen Programmen hinter sich hat.

"ich empfand Marthalers Weise 'X durch Marthaler' oder verwandte Vorgehensweisen mit 'Y nach Z' (...) da teilweise schon als 'halbe Lösung' des Problems."

Zustimmung. Wenn nach dem Plakat und der Ankündigung klar ist, daß ich im Theater nicht Shakespeare sehen werde, sondern Marthaler, dann hat Marthaler jegliche Freiheit, die er will. Es geht alles auf seine Kappe. Die Frage bleibt natürlich, warum Marthaler nicht selber ein Theaterstück zum Thema schreibt, wenn ihm die Version des Kollegen Shakespeare nicht gefällt.

"...da werden Romanadaptionen und Regisseurstheater in einem Atemzug abgetan..."

Das scheint auf mich zu gehen, ich hatte mich ja in meinem von Ihnen gelesenen Blog darüber lustig gemacht, daß kein Mensch auf die Idee kommt, alte Romane zu aktualisieren, während ach so viele meinen, bei Theaterstücken müßte man das. Was gefällt Ihnen an diesem Vergleich nicht?

"Lesen Sie bitte noch einmal Herrn Goergen zur Kehlmann-Sache auf nachtkritik de."

Haben Sie irgendeinen Tip, wie ich das finden kann? Ich habe es versucht, aber bei "goergen kehlmann" in der Sucheingabe wird nichts angezeigt.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: selbstgerechte AnklägerInnen
Lieber Herr Heinrich !

Ja, es gibt auf nachtkritik de. in der Tat eine verwirrende Vielzahl von Strängen zur sogenannten "Kehlmann"-Debatte.
Wenn Sie den Suchbegriff "Kehlmann" eingeben und die Liste verfolgen (Liste !), dann können Sie unter 23. den Artikel "Schrumpfform linker Ideologien" abrufen: Beiträge von Thomaspeter Goergen, denen ich seinerzeit unter "Bandido" beipflichtete, finden sich unter den Kommentatorenartikeln 29-31.
Herr Goergen hat auch noch an anderer Stelle etwas von der Regietradition in Deutschland geschrieben, Ähnliches verlautbarte auch
"Flohbär" in einem anderen Kehlmann-Strang (siehe eigenwillige Interpretation eines Klassikers durch Goethe, siehe eigenwillige Interpretation Goethes durch Schiller qua Inszenierung(en)).
Unterbliebe der politisierende Zugriff auf jeweils bestimmte Auffassungsweisen von Kunst im Sinne einer Ideologisierung, dann gäbe es keine dieser unfruchtbaren Kehlmann-Debatten, dann ginge die Tendenz dahingehend Einzelfall für Einzelfall zu diskutieren.
Freilich, warum nicht die Begriffe "Überschreibung", "Variation",
"Transponierung in eine andere Zeit" durch "Lieschen Müller" stark machen ? Der "neueren Dramatik" gegenüber wäre es gewiß gerechter,
den besagten Etikettenschwindel zu unterlassen.

Nein, ich fühle mich durch Sie keineswegs "geschulmeistert"; ich bin dergleichen ernstgemeinten Ratschlägen durchaus zugetan !
Nur, ich poste in nachtkritik de. seit letztem November etwa (im übrigen bezogen sich meine ersten "Beiträge" genau auf die Kehlmann-Debatte und die Abqualifizierung des Theaters als "Gefallenes Kulturgut" im Umfeld (!!) von allerlei Theraterschließungen oder deren Androhung), weiß noch nicht, ob ich
"Google etcpp." in meine Wohnung einlassen möchte, bin relativ internetunerfahen, geradezu "Welpe": dat geit ans nich so fix.

Ich mache kleine Schritte und mußte ein wenig über die SPEX-CD schmunzeln: Schritte, "New holy ground" - der Song beginnt mit Schritten, und O.M.D. war ja damals gewissermaßen "meine Gruppe".
Gewiß, nicht jeder hat dann die SPEX zur Hand, und ich neige zu solchen "Abschweifungen" und zur "Tönung der Aussage qua Versuch der Kenntlichmachung ihrer Entstehung beim Formulieren eines Satzes" (hinzu tritt bei mir hin und wieder eine Unsicherheit, nicht nur, wenn ich kurzen und bestimmten Aussagen nur mühsam im Verständnis beikommen kann, hinzu kommt hier auf nachtkritik de. freilich auch die Strapazierung der Redaktion etcpp. ...).

Richtig, für eine Kommentarspalte dieser Art scheint es mir eher angemessen, sich ein wenig in dieser "Kürze" (die ich nich lieben muß und hin und wieder auch für "gefährlich" halte) zu üben, auch solche Einträge gibt es wohl von mir, als Bitten um "Verständlichkeit" und "logischen Gedankenvollzug" ständig in den Wind zu schlagen.
Ich arbeite an mir, aber auch das kann realistischerweise nur langsam geschehen.
Andere -wie Sie oder Stefan- sind da einfach weiter, das geht mir auch in meiner Selbsteinschätzung so, und meine "gewundenen Sätze" sind mir mittlerweile halt oft genug entgegengehalten worden: der gemeldete "Falschfahrer" auf der Autobahn könnte ich sein- das ist mir bewußt: soweit dazu.

Meine Bemerkung zu den Romanadaptionen bezog sich allerdings eher auf Aussagen wie die von Herrn Stadelmaier, der dann schon mal ein Haus (MGT) als "romanverseucht" tituliert, derselbe Stadelmaier, der Herrn Castorf als Übeltäter ausmacht, der das "Regisseurstheater" losgetreten habe, und im Zuge dieser Stadelmaierreien können Sie dann berechtigt Fragen zur Regiearbeit stellen (wie in ihrem Blog) und sehen sich unversehens in eine konservative Ecke gestellt, in die Sie nicht gehören: soetwas beschreiben Sie ja selbst in Ihrem Regietheater-Artikel.

Naja, mit den "offenen Türen" werde ich mich noch einmal gesondert zu beschäftigen suchen und Ihnen davon zu gegebener Zeit etwas schreiben: Wie gesagt, ich kenne dergleichen humanethischen Herangehensweisen, zB. an Kierkegaards "Abrahamssprung" vollzogen, sehr wohl (Wilhelm Korff), und die Wirkmacht des "Ödipusmotives"
bis zum heutigen Tag hin kann garnicht ernstlich übersehen werden und muß kritisierbar bleiben ("Inzest" ist ja ein heikles Thema, und die Rechtsprechung tut sich keineswegs leicht damit, zumal Begründungen schnell so laufen, daß sie schwerlich von eugenischen Zügen zu trennen sind; den "Mythos" einfach durchzuspielen mag ein Tabu "Inzest" dann eher stützen und eben selbstgerechten AnklägerInnen aus der Volksmasse, weniger aus deren Mitte (Unterscheidung "Average sense of common man" - "Common sense"),
sogar Vorschub leisten ...).
Trissenaar über Holz: Wird dem Regietheater der Saft abgedreht?
Lieber Herr Zarthäuser,

"Wenn Sie den Suchbegriff "Kehlmann" eingeben und die Liste verfolgen (Liste !), dann können Sie unter 23. den Artikel "Schrumpfform linker Ideologien" abrufen: Beiträge von Thomaspeter Goergen, denen ich seinerzeit unter "Bandido" beipflichtete, finden sich unter den Kommentatorenartikeln 29-31."

Schönen Dank für den Hinweis, ich habe mir die drei Teile der Stellungnahme von Herrn Goergen kopiert und werde bei nächstpassender Gelegenheit wahrscheinlich drauf eingehen. Es hat wohl wenig Sinn, das im Original-Blog zu tun, also werde ich den Text, wenn ich ihn überhaupt schreibe, hier reinstellen.

"Unterbliebe der politisierende Zugriff auf jeweils bestimmte Auffassungsweisen von Kunst im Sinne einer Ideologisierung, dann gäbe es keine dieser unfruchtbaren Kehlmann-Debatten, dann ginge die Tendenz dahingehend Einzelfall für Einzelfall zu diskutieren."

Nun kenne ich die deutsche Theaterszene nicht sonderlich gut - gibt es tatsächlich Versuche, das Angebot der Theater administrativ-politisch zu steuern? Anders gesagt: Versucht tatsächlich jemand ernsthaft, den Regietheater-Regisseuren den Saft abzudrehen?
Und was die Einzelfall-Diskussion betrifft - ich glaube schon, daß man die Sache schon auch allgemeiner diskutieren kann, ich habe zumindest versucht, hier, in meinem Blog und auf meiner Website Grundsätzlicheres herauszuarbeiten.
Bei der Gelegenheit fiel mir ein, bzw. auf, daß nach meinem Eindruck derzeit sehr wenig Brecht gespielt wird. Ist es wirklich so, daß Brecht und andere moderne Klassiker (auf denen ja noch Urheberrecht liegt und die Erben Ärger machen können, wenn man die Stücke verändert) sehr wenig gespielt werden?

"Richtig, für eine Kommentarspalte dieser Art scheint es mir eher angemessen, sich ein wenig in dieser 'Kürze' (die ich nich lieben muß und hin und wieder auch für 'gefährlich' halte) zu üben, auch solche Einträge gibt es wohl von mir, als Bitten um 'Verständlichkeit' und 'logischen Gedankenvollzug' ständig in den Wind zu schlagen."

Das Problem ist nicht die Kürze des Beitrags, sondern die Kürze des Satzes. Ich kenne den Effekt: Wenn ich ungezügelt drauflos schreibe, etwa, wenn ich mir selbst einen Gedankengang schnell mal notiere, dann werden sie Sätze lang und verschachtelt. Da muß hier noch schnell eine zusätzliche Anmerkung rein und dort noch eine und am Ende ist der Satz ziemlich unübersichtlich und schwer zu lesen. Wohlgemerkt: Zu schreiben war der Satz für mich einfach...

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Nachträge zu Kehlmann (in Trissenaar über Holz)
Lieber Herr Zarthäuser,

hier also meine Anmerkungen zum Text von Herrn Goergen von vor einem Jahr.

"Als Auftakt eines Theaterfestivals müssen seine Ausführung beunruhigen. Dies gälte aber für jede Einlassung, die Kunstkritik als Kunstgericht betreibt, Normen vorgibt, nach denen Kunst zu geschehen beziehungsweise nicht zu geschehen hat. Die Norm dient der Sicherheit von Sachverhalten, die Kunst nicht."

Es ist eine ganz merkwürdige Sache, daß dieses Argument damals in der Diskussion sehr oft kam und ihm von nur ganz wenigen Leuten widersprochen wurde. Belegt wurde (und wird) diese Behauptung nie, es habe Kehlmann in Salzburg über die Kunst und das Theater zu Gericht gesessen und habe Normen vorgegeben, welche das Regietheater verböten. Klar, es gibt diesen Beleg nicht, was Kehlmann gesagt hat, ist sehr viel bescheidener und weicher: "Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, eher darf man Jörg Haider einen großen Mann oder George W. Bush intelligent nennen, als leise und schüchtern auszusprechen, daß die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen." Dogmatisch, normensetzend und einschüchternd ist das nicht.

"Ihm dürfte einleuchten, dass 'Autor', der seinen sacht vergessenen Vater als 'Diener der Autoren' preist, nicht als neutraler Zeuge vernommen werden kann."

Nachdem Herr Goergen diesen Satz geschrieben hat, hätte er eigentlich erschreckt zusammenzucken müssen. Er hätte entweder diesen Satz sofort wieder streichen müssen oder er hätte aufhören müssen, weiterzuschreiben. Denn, klar, auch er ist als Regisseur, als direkt Betroffener, kein "neutraler Zeuge".

"Er dürfte sich erinnern, dass Lottmann, der Satiriker, in dessen Phillipika gegen das Theater bekannte, nie ins Theater zu gehen und lediglich aus Anlaß seines Artikels drei ausgewählte Aufführungen besucht zu haben, was ebenso rabiat wie offenherzig war als ob er geschrieben hätte, er entsichere seinen Revolver, wenn er Kultur höre – in diese Kategorie gehört allenfalls auch Kehlsmanns Erinnerung, dass das Hochziehen eines Lusters seines schönste Theatererinnerung sei:, nicht einmal die Aufführung selbst."

Hier wird Goergen nun ziemlich wüst. Falls es Ihnen nicht gegenwärtig ist: Der Satz "Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver" stammt von Joseph Goebbels.
Und was die Geschichte mit dem Luster betrifft, so sei daran erinnert, daß dies Kehlmann als Vierjähriger erlebte, seine erste Begegnung mit einem Bühneneffekt. Natürlich hat der Vierjährige, der seinen Vater auf der Bühne besucht hatte, das Stück selbst nicht gesehen.

"Es muss betont werden, denke ich: jeder Angriff auf das sogenannte Regietheater ist ein Angriff auf das Theater an sich. Das Theater gleicht insofern einem Parlament: wenn man der einen Partei die Rederechte einschränkt, ist das Organ in Gesamtheit vergiftet."

Schon wieder diese, durch nichts belegte (durch nichts zu belegende) Behauptung, es habe Kehlmann gefordert, das "Regietheater" administrativ abzuschaffen. Er hat das Regietheater kritisiert, er hat darüber gespottet, mehr nicht, er hat sein selbstverständliches Recht zur Meinungsäußerung wahrgenommen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: Sehnsucht nach Rosskur
Lieber Herr Heinrich !

Die Gefahr ist ja in der vergangenen Spielzeit überdeutlich geworden: Und diese Gefahr ist zweifelsohne dies: all-gemeiner.
Androhungen und Vollzüge von Theaterschließungen landauf-landab;
den Kommunen steht das Wasser bis zum Hals, und wenn dann profilierte Theaterleute (wie seinerzeit Herr Oberender) erzählen,
man müsse, um Erwachsene auf der Bühne zu sehen, in etwa nach Riga oder ins Flämische fahren, dann ist es kein Wunder, wenn Leute, die kaum noch ins Theater gehen, Theaterfeste eröffnen und den Menschen Nahrung liefern, die pauschal vom "gefallenen Kulturgut"
schwafeln. Gewiß spielt das alles schließungswütigen Politkern dann genau ins Blatt !
Die Regietheaterdebatte wird also von der einen Seite instrumentalisiert, um den Eindruck zu erwecken, es gehe auf Deutschlands Bühnen vorwiegend zu wie in Sodom und Gomorrha, es fließe reichlich Blut, Sperma, Urin, als sei das also fast nur
noch ein ganz und gar unehrlicher vierter Aufguß der roten Meile von St. Pauli.
Andere präsentieren sich in aller Öffentlichkeit so, in der Tat !, als sei lediglich das "Regietheater" ganz besonders unter Beschuß,
"man" ventiliert seine (angebliche) "politische" Bedeutsamkeit; auch wird diese vermeintliche "Bedeutsamkeit" dann der Provinz
entgegengehalten, die angeblich zu sehr an alten Zöpfen und Trögen
hänge (was es geben mag, aber ganz sicher nicht so pauschal: ein Blick auf die bedrohten Häuser in NRW, Oberhausen und Moers, reicht,
um mit dem Begriff "Provinz" vorsichtiger zu verfahren ...).
Und wenn die Häuser erst einmal zu sind, gibt es kein Textdiener-,
kein Regi(e)-sseurs- und kein postdramatisches Theater mehr, dann gibt es gar kein Theater mehr (zumindestens in diesen Häusern), und geschlossene Theater wiedereröffnen so selten, und Stücke auf der Straße oder im Ländlichen, Sommerfrischen etcpp. dürften kaum eine Alternative darstellen ..., obschon sie bereichern können: siehe das "Theater draußen" .
Einige sehnen sich irgendwie nach einer "Roßkur" für das Theater,
das sich irgendwie schon seinen Weg bahnen werde: ich halte allerdings nicht allzuviel davon, jetzt Dinge kaputtzuschlagen, die "man" nach zig Jahren (viel teurer bestimmt noch dazu) wieder
ähnlich aufbauen müßte (ohne es dann zu schaffen vermutlich).

Und Bert Brecht kommt jetzt "zur Krise" irgendwie doch ganz groß
raus im Grunde: Schauen Sie zB. die angekündigten Inszenierungen für die jetzt beginnende Spielzeit an: "Arturo Ui" und "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" gehören zu den Stücken der Saison, junge Dramatiker freuen sich desmeist schon beim ersten oder zweiten Nachspiel, nein: Brecht kommt nicht zu kurz!!
Lübeck eröffnet sogar mit der heiligen Johanna: 3.9.2010.

Und wer sich "Theo Rieh" zu nennen vermag, wo er gerade von Praxis ausgehen will, kann mir nicht erzählen, daß er die Tendenz zum Einzelfall nicht mit "Praxisorientierung" gewissermaßen zu identifizieren versteht: die Hinwendung zum Einzelfall wird diesen,
erst einmal aufgegriffen, immer mit den allgemeineren Sprachspielen zu ihm konfrontieren: die Regietheaterdebatte ist mittlerweile ähnlich unproduktiv wie etwa das Bieri-Dilemma in der Analytischen Philosophie des Geistes. Wir beginnen zwanglos über ein beliebiges Theaterereignis zu "diskutieren", eine Sprache dafür zu finden, und im nächsten Schritt mögen wir nicht übel staunen, wie viele allgemeinere Züge unser Sprechen davon schon aufweist: das ist "mein" Ansatz.
Trissenaar über Holz: pardon
Lieber Herr Zarthäuser,

"den Kommunen steht das Wasser bis zum Hals, und wenn dann profilierte Theaterleute (wie seinerzeit Herr Oberender) erzählen, man müsse, um Erwachsene auf der Bühne zu sehen, in etwa nach Riga oder ins Flämische fahren,"

Pardon, Oberender sagte: "Wenn Sie ein Theater suchen, an dem Schauspieler wie erwachsene Menschen behandelt werden, müssen sie nach Antwerpen oder Riga reisen."

"nein: Brecht kommt nicht zu kurz!!"

Schön zu hören. Ich hatte nur deshalb gefragt, weil Brecht noch eine Weile unter Urheberrechtsschutz steht und die Erben sehr dahinter sind, daß an Brechts Stücken nicht rumgebastelt wird.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar über Holz: Kehlmann hat sich keinen Gefallen getan
Lieber Herr Heinrich, Brecht wird gespielt und das könnte man fast schon als inflationär bezeichnen, wenn es nicht gerade jetzt sehr richtig und wichtig wäre ihn zu spielen.
Zu Daniel Kehlmann:
„Er hat das Regietheater kritisiert, er hat darüber gespottet, mehr nicht, er hat sein selbstverständliches Recht zur Meinungsäußerung wahrgenommen.“
Die Frage ist nicht ob Kehlmann das Regietheater kritisiert, sondern wie und wo er das macht. Nämlich bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele, zu der man ihn eingeladen hatte. Wenn er seine Ausführungen in ein Essay gefasst hätte und das dann einer Zeitung, meinetwegen der FAZ, die freut sich immer wenn sie so was bekommt, gegeben hätte, dann wäre der Aufschrei nur halb so groß gewesen. Nein, er nutzt einen größeren Rahmen um Gehör zu finden, um sich sicher zu sein überhaupt gehört und ernst genommen zu werden, denn ein ausgemachter Experte in Theaterfragen ist er sicher nicht. Er verteidigt seinen persönlichen Geschmack, nach dem ihn eigentlich niemand direkt gefragt hatte. Das ist letztendlich so, als wenn ich meinem Gastgeber bei einem Essen den Wein ins Gesicht kippe, nur weil er mir nicht schmeckt. Das kann man ja machen, wenn man weiß, was wirklich guter Wein ist. Kehlmann hat sich keinen großen Gefallen mit dieser Rede getan, im Gegenteil, er wird sich noch in Jahren vorwerfen lassen müssen, das er Werktreue mit Kostümzwang verwechselt, Karl Marx für out hält und das Größte am Theater der Kristallluster sei. So schöne Sätze wie: „Die Wahrheit auszusprechen also über unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur, die Wahrheit über das eine kurze Leben, das wir führen. Und über die unzähligen Leben, die wir darüber versäumen und denen wir nirgendwo anders begegnen können als in unserer Phantasie und in der Kunst.“ fallen da völlig hinten runter. Für Kehlmann ist Theater paradox, das heißt doch aber nicht, das man an Widersprüchen nicht arbeiten sollte, auch ohne sie tatsächlich lösen zu können. Ich hoffe eher, dass der Luster die größte Konvention bleibt, die sich die Theater überhaupt noch leisten wollen.
Trissenaar über Holz: Schiller inszenierte selbst freizügig
@ Heinrich

Richtig, Herr Heinrich, so sagte es Herr Oberender (für mich implizierte das allerdings
auch ein wenig, daß SchauspielerInnen, die sich wie Nichterwachsene behandeln lassen, es irgendwie dann auch nicht sind ...), und das war an Aussage so vermessen, Baumbauer und Khoun ließ er gerade noch gelten ...,
gerade im Umfeld all der Theaterschließungsandrohungen, daß sich für mich die, ich
muß Stefan beipflichten, vollends deplazierten Aussagen Herrn Kehlmanns dagegen
wie Pipifax ausnahmen: dennoch blieb das Ding beharrlich eine Kehlmann-Debatte,
wobei eine Oberender-Debatte wohl eher angestanden hätte (Herr Michalzik kritisierte die Oberender-Aussagen einerseits, führte andererseits ein Interview mit ihm, wo davon nicht viel zu spüren war ...).

Und ich fahr nach Chemnitz, Dresden, Leipzig, ins Ruhrgebiet, nach Hamburg und
sehe DarstellerInnen in Ketten: irgendwoher kenne ich das Motiv ?.
Nein, ich sehe oftmals Theater, das mir Lust auf mehr macht !!

Nun ja, wenn sich Ihr Hund losreist von seiner Kette, Herr Heinrich, das ist etwas
ganz Anderes, mir kommt es jetzt fast schon so vor, Sie argumentieren hier jetzt aus ähnlichen Motiven für eine Frau Trissenaar oder einen Herrn Kehlmann.
Dabei scheint es für Sie eine ausgemachte Sache zu sein, daß "man" sich heute als Spielerin und Spieler schon ausziehen (etcpp.) wollen muß, um sich an einer Schauspielschule zu bewerben und das teilweise knallharte Studium durchzuziehen:
das ist genau die Schwarz-Weiß-Malerei, welche solche "Generaldebatten" immer durchwaltet; Sie werden lachen: zuungunsten aller Grautöne, will sagen: vermutlich auch zu Ungunsten von Regisseuren vom Schlage des Kehlmann-Vaters: der Sohn hat auch solchen einen Bärendienst erwiesen, und ich bin bereit, mich mit Ihnen im besagten Kehlmann-Strang darüber noch einmal auseinanderzusetzen, wenn Sie mögen, in kleinen Häppchen, wenn Sie erlauben.
Sowohl Herr Goergen als auch Stefan sagen es deutlich: Das war keine einfache Meinungsäußerung, und diese war nun auch nicht sonderlich "weich" sowie Herrn Goergens Kommentare ebensowenig "wüst" (ich kann Ihnen da durchaus noch weitere Kommentare heraussuchen- gerade von Herrn Goergen gab es noch Ausführlicheres, das ich nicht sogleich fand ...), es war die Eröffnungsrede in
Salzburg !

Nach "Ihrer Logik" vom Stand des heutigen hiesigen Schauspiels, professionelle Kritiker sind nach Ihnen ja zu bemitleiden (hält sich bei mir in Grenzen), müßte, um wieder ein wenig etwas "Albernes" einzufügen zur Auflockerung, müßte Herr Holz zu Frau Trissenaar beinahe gesagt haben: "Behalte aber die Klamotten an, ausziehen kann sich heute jeder ..." oder Verwandtes (wir wissen es freilich nicht ...).

Warum soll das sinnlos sein, einen der "Kehlmann"-Stränge wiederzubeleben ?,
wenn einem etwas dazu einfällt; das geht mit anderen nachtkritik de.-Strängen
doch ebenso: Manche sehen ein Repertoirestück halt zwei Jahre nach der Premiere.
Gelegentlich entwickeln sich Stückinszenierungen weiter, also kann "man" zum späten Posting doch eigentlich nur ermutigen !

Sie bringen Beispiele aus anderen Künsten (siehe Emerson-Lake & Palmer ...):
das ist eine begrüßenswerte Herangehensweise: Ihre Schlußfolgerungen halte ich für angreifbar: das werde ich bei Gelegenheit auch tun. Angenommen es handelt sich bei den Regisseurstheaterstücken schlicht und ergreifend um ähnliche Entwicklungen wie zB. ELP, so bleibt auf der einen Seite die von Ihnen nachgewiesene Type/Token-Verdrehung, auf der anderen Seite bleibt vehement die Entwicklung der Regiearbeit in Richtung "Stückbefragung, Interpretation, Variation,
Überschreibung": diese Entwicklungsgeschichte bleibt ein harter Fakt, denke ich, oder meinen Sie, das Regisseurstheater oder auch nur das "Regietheater", die Postdramatik etcpp. verschwünden einfach, wenn qua ausbleibendem "Etikettenschwindel" reiner Wein ausgeschenkt würde ?: das bezweifele ich.
Ich halte den Hinweis darauf, daß schon Schiller sehr freizügig anderer Leute Stücke in Szene setzte und Goethe ganz genauso, für durchaus berechtigt, um bei einer freizügigeren Schiller-Fassung der "Räuber" nicht sogleich sonstwelchen Frevel
auszumachen.
Trissenaar / Kehlmann: Provokateur und Lustigmacher
Lieber Herr Stefan,

"Brecht wird gespielt und das könnte man fast schon als inflationär bezeichnen, wenn es nicht gerade jetzt sehr richtig und wichtig wäre ihn zu spielen."

Zustimmung. Beruhigend, daß man ihn noch nicht gegen den Strich spielen oder aktualisieren kann/darf.

"Die Frage ist nicht ob Kehlmann das Regietheater kritisiert, sondern wie und wo er das macht. Nämlich bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele, zu der man ihn eingeladen hatte. Wenn er seine Ausführungen in ein Essay gefasst hätte und das dann einer Zeitung, meinetwegen der FAZ, die freut sich immer wenn sie so was bekommt, gegeben hätte, dann wäre der Aufschrei nur halb so groß gewesen."

Wenn einer was mitteilen will und er hat die Wahl zwischen einem großen und einem kleinen Rahmen, für was würde sich der wohl entscheiden? Kehlmanns Entscheidung ist doch selbstverständlich.

"Nein, er nutzt einen größeren Rahmen um Gehör zu finden, um sich sicher zu sein überhaupt gehört und ernst genommen zu werden, denn ein ausgemachter Experte in Theaterfragen ist er sicher nicht."

Es soll ja Leute geben, die einen Kehlmann-Roman kritisieren, ohne selbst je einen Roman geschrieben, geschweige veröffentlicht zu haben. Der Außenstehende hat in jedem Fall nicht das Problem mit der Betriebsblindheit.

"Er verteidigt seinen persönlichen Geschmack, nach dem ihn eigentlich niemand direkt gefragt hatte."

Bekommt so ein Festredner eigentlich ein bestimmtes Thema als Vorgabe? Oder heißt es eher: "Hörst, Daniel, willst ned die Eröffnungsred in Soizburg hoitn? Sog hoit irgend wos, das Premierenpublikum is eh deppert."

"Das ist letztendlich so, als wenn ich meinem Gastgeber bei einem Essen den Wein ins Gesicht kippe, nur weil er mir nicht schmeckt. Das kann man ja machen, wenn man weiß, was wirklich guter Wein ist."

Auch wenn man ein Kenner ist, wäre das eine Flegelei. Aber der Vergleich mit dem Wein ist ohnehin schief, wenn es ums Theater geht, im speziellen um das Regietheater. Ich habe es in den Diskussionen um das Regietheater jetzt oft genug gehört, daß das Regietheater provozieren und anregen will. "Ha", müßte man sich als Freund des Regietheaters sagen, "endlich gibt mal einer Kontra. Dem werd ich's zeigen!"
Wer provoziert, muß damit rechnen, daß es zu einer Rauferei kommt, das ist beim Oberwirt z'Hiedring nicht anders als in der Kultur. Und eigentlich sollte man sich als streitbarer Geist auf jede Auseinandersetzung freuen. Ein Angriff auf meine Position ist doch eine wunderbare Gelegenheit, mal endlich den anderen (und mir selber, nicht zu vergessen) klarzumachen, was ich eigentlich meine.

Was aber nach Kehlmanns Rede passiert ist, das war ein Reigen beleidigter Leberwürste. Keiner (1) ist wirklich frontal auf Kehlmann losgegangen und hat seine Rede Punkt für Punkt auseinandergenommen, jede Behauptung durch ein Zitat aus der Rede belegt. Was wäre das für eine Gelegenheit gewesen!
In einer Diskussion seinerzeit hier in Nachtkritik (http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=3093, Beiträge 29 - 31) hat Thomaspeter Goergen geschrieben: "Die Rede von Kehlmann im einzelnen brauche ich nicht zu besprechen. Ich finde es unnötig. Ihre Substanz ist dürftig...".
Da macht sich einer über etwas lustig, das dem Herrn Goergen sehr, sehr wichtig ist und was macht er? Nutzt er die Gelegenheit, dem Provokateur vor aller Öffentlichkeit die Hosen runterzuziehen und ihn als substanzlosen Schwätzer zu entlarven? Nein, er behauptet nur, er sei substanzlos und beläßt es dabei.
"Was könnt ich dir für eine Watschn gebn, wenn ich erst mal zuschlagen täterte." Beim Unterwirt z'Hiedring macht einer mit solchen Sprüchen keinen Stich. Dort muß er schon zeigen, was für eine Watschn er drauf hat.
Trissenaar / Kehlmann: Erwin geht ab
"Kehlmann hat sich keinen großen Gefallen mit dieser Rede getan, im Gegenteil, er wird sich noch in Jahren vorwerfen lassen müssen, das er Werktreue mit Kostümzwang verwechselt, Karl Marx für out hält und das Größte am Theater der Kristallluster sei."

Um von hinten anzufangen: Die Geschichte mit dem Kristall-Luster hat er als Vierjähriger erlebt, er ist damals das erste Mal mit den zauberischen Effekten des Theaters in Berührung gekommen und war schwer beeindruckt. Natürlich ist "keine Theateraufführung" mehr (auch keine seines Vaters, notabene) "je an diesen Vormittag heran" gekommen. Diese Sache mit dem Luster kommt ständig und kaum einer scheint jemals die paar Zeilen bei Kehlmann gelesen zu haben.
Und was den Kehlmann'schen Marx betrifft, von dem auch so viel die Rede ist, so schreibt Kehlmann hier:
"Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muß sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich-konservative Parteien wählen, seine Kinder auf Privatschulen schicken und sich dennoch als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil fühlen möchte - was bleibt ihm denn anderes als das Theater? In einer Welt, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Ideologie degeneriert."
Das ist böser Spott, den Kehlmann hier ausgießt und das Ziel seines Spottes ist ganz gewiß nicht Marx. Es ist die bittere Feststellung, daß Marx inzwischen out ist bei Leuten, die ihn einst hochgehalten hatten, inzwischen aber allzu saturiert geworden sind und sich ihren Marx nur noch als Gartenzwerg mit Bart zur Dekoration hinstellen.
Und schließlich: Kehlmann hat nie von Kostümzwang gesprochen, er sprach von einer "historisch akkuraten Inszenierung" und das ist nicht dasselbe wie eine museale Aufführung. Ein Theaterautor hat uns einen Text hinterlassen und diesen Text hat ein Regisseur auf die Bühne zu bringen. Daß dieser Text für jede Aufführung interpretiert werden muß, versteht sich. Wenn da steht "Erwin geht ab", dann wird sich der Regisseur seine Gedanken machen müssen, wie er den Erwin abgehen läßt. Und wenn da steht "Erwin reißt seinen Mantel auf, deutet auf seinen erigierten Schwanz und kichert irr. Neun nackte Nymphen treten aus dem Wandschrank und tanzen wild. Die siebte Nymphe schraubt sich den Kopf ab und aus dem Halsstumpf spritzt ihr Blut und saut die Bühne voll. Angewidert geht Erwin ab", dann wird der Regisseur sich etwas einfallen lassen müssen, dies zu gestalten. Wenn dergleichen aber nicht im Text steht, dann geht Erwin halt einfach nur ab.
Zuviel verlangt? Langweilig? Verstaubt? Geht's denn ohne Bierzelt-Gaudi überhaupt nicht mehr?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich

(1) Ich muß einschränken, daß ich keinen erschöpfenden Überblick über die Diskussion habe, es kann sein, daß mir die eine oder andere Ausnahme schlicht entgangen ist.
Trissenaar / Kehlmann: Bühne im Hirn
Lieber Herr Zarthäuser,

"Richtig, Herr Heinrich, so sagte es Herr Oberender (für mich implizierte das allerdings auch ein wenig, daß SchauspielerInnen, die sich wie Nichterwachsene behandeln lassen, es irgendwie dann auch nicht sind ...),"

Es ist vor allem - fürchte ich - eine Frage der ökonomischen Macht, sprich: Erpreßbarkeit, der Leute. Schauspieler gibt es, wie man bei uns in Bayern sagt, "zum Saufuadan" (zum Schweinefüttern) und wenn man als Schauspieler kein Star ist, dann muß man sich, scheint mir, verdammt oft treten lassen. Man muß essen und wenn man auch in der nächsten Saison noch ein Engagement haben will, dann kann man dem "Großen Diktator" nicht in seine Ideen von einer emanzipatorischen Inszenierung hineinreden, dann muß man halt sein Hoserl ausziehen.

"...gerade im Umfeld all der Theaterschließungsandrohungen, daß sich für mich die, ich muß Stefan beipflichten, vollends deplazierten Aussagen Herrn Kehlmanns dagegen wie Pipifax ausnahmen:"

Diese Drohungen haben aber, soviel ich weiß, wenig mit "Regietheater oder nicht" zu tun. Da geht's um Kohle, schlicht um Kohle.

"Nun ja, wenn sich Ihr Hund losreist von seiner Kette, Herr Heinrich, das ist etwas ganz Anderes..."

Ich glaub, Sie beziehen sich jetzt hier auf einen Blogeintrag von mir (http://derfranzehatgsagt.blogspot.com/2010/08/gehorche-du-hund.html) über Gehorsam und Aufsässigkeit. Ich gebe zum einen zu bedenken, daß hier auch andere Leute mitlesen, welche diese Anspielung nicht verstehen. Zum anderen sollte man auch einem Schauspieler soviel Spielraum lassen, wie meine Hunde sie haben. :o)

"Dabei scheint es für Sie eine ausgemachte Sache zu sein, daß "man" sich heute als Spielerin und Spieler schon ausziehen (etcpp.) wollen muß, um sich an einer Schauspielschule zu bewerben und das teilweise knallharte Studium durchzuziehen:"

Ich hoffe ja nicht, daß es so ist, wie Sie das schildern und ich angeblich will. Ein bisserl mehr als öffentlich kacken sollte ein Schauspieler schon können.

"...und ich bin bereit, mich mit Ihnen im besagten Kehlmann-Strang darüber noch einmal auseinanderzusetzen, wenn Sie mögen, in kleinen Häppchen, wenn Sie erlauben."

Sie brauchen meine Erlaubnis für gar nichts. Machen Sie nur, wie Sie wollen. Ich kenne die Gebräuche hier auf der Website noch nicht so richtig, ist das wirklich comme il faut, wenn wir einen schon längst abgehakten Thread wiederbeleben?

"Sowohl Herr Goergen als auch Stefan sagen es deutlich: Das war keine einfache Meinungsäußerung, und diese war nun auch nicht sonderlich 'weich' (...) es war die Eröffnungsrede in Salzburg!"

Jetzt will ich es aber endlich doch wissen: Was war "hart" an dieser Rede? Kehlmann hat nicht die Austilgung des "Regietheaters" aus der deutschsprachigen Theaterlandschaft gefordert. Er hat das Regietheater kritisiert und er hat es verspottet. Na, ja, nun. Das sollte man aushalten können, bzw. dagegen sollte man sich wehren können.

"...professionelle Kritiker sind nach Ihnen ja zu bemitleiden (hält sich bei mir in Grenzen)"

Ach, na ja, die Freikarten sind natürlich eine feine Sache, unterm Strich beneide ich die Leute aber nicht.

"...oder meinen Sie, das Regisseurstheater oder auch nur das "Regietheater", die Postdramatik etcpp. verschwünden einfach, wenn qua ausbleibendem "Etikettenschwindel" reiner Wein ausgeschenkt würde ?: das bezweifele ich."

Damit wir uns recht verstehen: Ich will nicht, daß das Regietheater verschwindet, ich will auch nicht, daß der "Musikantenstadl" verschwindet. Ich mag beide nicht, Gott sei meiner armen Seele gnädig, aber solange es hinreichend Leute gibt, die sich dergleichen gerne anschauen, sollen sie das tun. Mir persönlich ist es sowieso wurscht, was auf dem Theater passiert. Die nächstgelegenen Theater sind Passau, Eggenfelden, Landshut und Regensburg, um dorthin zu kommen, müßte ich meine beiden Hunde in die Tierpension geben, was mich zusätzlich zu Fahrtkosten und Eintritt nochmal 24,00 EUR kostet.

"Ich halte den Hinweis darauf, daß schon Schiller sehr freizügig anderer Leute Stücke in Szene setzte und Goethe ganz genauso, für durchaus berechtigt, um bei einer freizügigeren Schiller-Fassung der "Räuber" nicht sogleich sonstwelchen Frevel auszumachen."

Ich habe inzwischen meinen Arsch lange genug in die Welt gehalten, um mich bei irgendwelchen persönlichen Marotten auf Altersstarrsinn rausreden zu können. Seien Sie also nachsichtig, ich bin es auch, ich gönne den genialen Regisseuren viele Zuschauer. Klassische Theaterstücke finde ich preisgünstig bei Reclam, neuere Stücke kosten auch nicht viel, wenn man sie sich im Antiquariat ergeiert. Eine so gute Bühne wie die in meinem Hirn gibt es sowieso nirgends.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar / Kehlmann: Welches Regietheater haben Sie gesehen?
Lieber Wolfram Heinrich,

sagen Sie doch mal konkret, da Sie offenbar selbst kaum ins Theater gehen: was meinen Sie denn überhaupt mit Regietheater? Also welche Inszenierungen haben Sie gesehen, die sie mit diesem Wort benennen würden?

Als Stefan sagte, Kehlmann sei nicht gerade "ein ausgemachter Experte in Theaterfragen", meinte er eben dies: dass er bekennenderweise kaum ins Theater geht, sondern es vornehmlich vom Hörensagen kennt. Ist es bei Ihnen ähnlich? Dann sollten Sie die Diskussion hiermit beenden.

Um einen Roman zu kritisieren, muss man keinen geschrieben, aber einen gelesen haben.
Um eine Inszenierung zu kritisieren, muss man nicht inszeniert, aber zugeschaut haben.
Um einen Bäcker zu loben, muss man nicht selbst Brötchen backen, sondern ab und zu welche essen.
D'accord?
Trissenaar / Kehlmann: substanzlose Festrede
Lieber Herr Heinrich, sich weiter über die Rede von Herrn Kehlmann zu ereifern bringt nichts, sie ist deshalb substanzlos, da er pauschal urteilt und keine konkreten Beispiele vorbringt, somit kann man darauf gar nicht im Detail antworten. Es ist eine typische Festrede wie sie in jedem Bierzelt oder auch in gehobenen Kreisen üblich ist, wenn man meint, man ist unter sich und kann es den Anderen mal so richtig zeigen. Kehlmann argumentiert aus einer gesicherten Position, er ist unbeteiligt also nicht direkt angreifbar.
Er schreibt gute Romane, die zu Bestsellern geworden sind und heimst Preise dafür ein. Das sei ihm gegönnt, ich habe seinen Roman über Gauß und Humboldt mit viel Vergnügen gelesen und ich würde ihn mir auch auf der Bühne ansehen. Um Karl Marx dem Vergessen zu entreißen, könnte er ihn ja in einem neuen Roman zum Beispiel mit Ferdinand Lassalle kurzschließen, genügend Berührungs- und Reibungspunkte gäbe es da ja und eine großen Knalleffekt mit viel Dramatik zum Schluss. Man müsste sich nur ernsthaft mit ihnen auseinander setzen und nicht nur Festreden schwingen.
Das „Die Vermessung der Welt“ bereits auf der Bühne zu sehen ist, „Ruhm“ wird folgen, scheint Kehlmann ja nicht zu stören. Da ist er schon mal weiter als Peter Kümmel und Gerhard Stadelmaier. Wenn denn nun endlich sein eigenes echtes Theaterstück 2011 auf die Bretter gelangen wird, spätestens dann kann er wieder über das Regietheater spotten.
Trissenaar / Kehlmann: wehleidig
Lieber Herr Stefan,

"Lieber Herr Heinrich, sich weiter über die Rede von Herrn Kehlmann zu ereifern bringt nichts, sie ist deshalb substanzlos, da er pauschal urteilt und keine konkreten Beispiele vorbringt, somit kann man darauf gar nicht im Detail antworten."

Der Witz ist natürlich, daß man ihm, wenn nicht detailliert, so doch sehr ausführlich, geantwortet hat. Es waren meines Erachtens sehr wehleidige, beleidigte Reaktionen, die bei einigen Anwürfen stehen geblieben sind.
Die große Chance, den substanzlosen Schwätzer öffentlich bloßzustellen, hat keiner genutzt.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar / Kehlmann: bis keiner mehr antwortet
Sehr geehrter Herr Linus,

"sagen Sie doch mal konkret, da Sie offenbar selbst kaum ins Theater gehen: was meinen Sie denn überhaupt mit Regietheater?"

Unter Regietheater verstehe ich das, was alle Welt darunter versteht. Sollte Ihnen dieser Begriff bisher noch nicht untergekommen sein, mögen Sie sich im Internet oder sonstwo kundig machen. Ersatzweise mag auch eine Lektüre dieses Threads hier dienen, ich habe hier einige Dinge sehr konkret und allgemeinverständlich aufgeführt. Sollte das Dreck gewesen sein, bitte ich um Hinweise.

"Als Stefan sagte, Kehlmann sei nicht gerade "ein ausgemachter Experte in Theaterfragen", meinte er eben dies: dass er bekennenderweise kaum ins Theater geht, sondern es vornehmlich vom Hörensagen kennt. Ist es bei Ihnen ähnlich? Dann sollten Sie die Diskussion hiermit beenden."

Ich werde die Diskussion beenden, wenn mir keiner mehr antwortet. Mit Ihnen habe ich ja noch nicht mal zu diskutieren begonnen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar / Kehlmann: fundiert vs. substanzlos
Nachtrag zum Kommentar Nr. 34:
Wenn eine unqualifizierte, substanzlose Stellungnahme von wem auch immer über was auch immer großen öffentlichen Wirbel verursacht, dann sollte die Richtigstellung umso detaillierter und fundierter sein, je substanzloser die anlaßgebende Stellungnahme ist.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar / Kehlmann: Regietheaterbegriff ohne Substanz
"Die große Chance, den substanzlosen Schwätzer öffentlich bloßzustellen, hat keiner genutzt. "

Das verhält sich bei Ihnen ja leider ähnlich, so wie Sie sich jetzt um den Regietheaterbegriff drücken... - schön, dass Sie nun ein Ende finden wollen, viel Glück bei der Suche.
Trissenaar / Kehlmann: Definition Regietheater
@Linus (?)
"'Die große Chance, den substanzlosen Schwätzer öffentlich bloßzustellen, hat keiner genutzt.'

Das verhält sich bei Ihnen ja leider ähnlich, so wie Sie sich jetzt um den Regietheaterbegriff drücken... "

Bitte, keine Komplimente, ich spiele nun wirklich einige Ligen unterhalb von Kehlmann. (Hold errötend)

Mit Begriffen ist das so eine Sache. Jeder weiß, was unter einem bestimmten Begriff zu verstehen ist, dann kommt irgendein gescheiter Mensch daher und definiert den Begriff - und schon geht das (pardon) Theater los.
http://derfranzehatgsagt.blogspot.com/2009/05/schlaue-leute.html

Aber gut, weil Sie es sind werde ich Ihnen eine Definition aufs Brot schmieren, indem ich mich selbst zitiere (http://www.theodor-rieh.de/heinrich/Regietheater2.html). Die Definition ächzt und stöhnt zwar an allen Ecken, aber Sie haben es so gewollt:
"Regietheater ist, wenn Stücke aus dem klassischen Repertoire anders inszeniert werden, als der normale (gern genommen wird auch "bildungsbürgerliche") Theaterbesucher dies erwartet.
- Die Stücke werden - teilweise recht drastisch - gekürzt, an anderer Stelle werden neue, vom Regisseur erfundene Szenen, Balletteinlagen, Gesangsdarbietungen etc. eingefügt.
- Die Handlung wird an einen anderen Ort verlegt, gern auch in eine andere Zeit (häufig die Gegenwart oder die jüngere Vergangenheit).
- Die Schauspieler treten immer wieder mal nackt oder fast nackt auf, Ausscheidungsvorgänge und Kopulationen werden auf offener Bühne simuliert oder es werden drastische Brutalitäten zelebriert, die im Stück selbst entweder gar nicht vorkommen oder von denen nur berichtet wird.
Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, Werke aus alter Zeit neu zu deuten. Das heutige Publikum habe einen anderen Erfahrungshorizont als das Publikum der Uraufführung. Das moderne Publikum müsse also anders angesprochen werden, um denselben Effekt zu erzielen, die oben beschriebenen Stilmittel seien demnach erforderlich."

So, und jetzt dürfen Sie mir nachweisen, daß diese Definition an der Sache "Regietheater" weit vorbeigeht, bzw. daß es Regietheater eigentlich gar nicht gibt. Sie haben freie Hand, nur den uralten Kalauer, es sei schließlich jedes Theater zwangsläufig Regietheater, weil einer ja irgendwie Regie führen müsse, den verbitte ich mir.

"...- schön, dass Sie nun ein Ende finden wollen, viel Glück bei der Suche."

Ich höre auf, wenn die Antworten hier allmählich auströpfeln.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar/Kehlmann: immer dieses Schubladendenken!
@ Wolfram Heinrich
Ich Kalauere aber sehr gerne, Herr Heinrich, und nicht nur weil ich ein waschechter Calauer (liegt in der Niederlausitz) bin. Ihre Sichtweise des Regietheaters ist leider mal wieder eine sehr verkürzte. Sie argumentieren wie Stadelmaier und Co. indem Sie eine Schublade aufmachen, in die annährend nicht mal die Hälfte der vielen Spielarten des sogenannten Regietheaters reinpassen. Es ist bequem solche Stereotypen immer abrufbar irgendwo abgespeichert zu haben, um sie dann gebetsmühlenartig ständig wiedergeben zu können. Man kann zum Beispiel Regietheater mal googlen und was findet man, Kehlmann, Stein, Köhler, etc. Alles erklärte Gegner des Regietheaters. Wikipedia beschreibt den Begriff als von Kritikern in den 70er Jahren geprägtes Schlagwort. Die stereotypen Beschreibungen werden wie bei Ihnen dann auch aufgeführt. Und gegen wen hat sich das damals gewandt, gegen Stein, Peymann, Zadek usw. Das gibt ja Peter Stein auch heute gerne zu, nur hat er eben keine Lust mehr zu wichsen. Muss ja auch keiner, es ist glaube ich noch nicht Lehrfach an den Schauspielschulen.
Leider ist in Deutschland das Listen- und Schubladendenken sehr verbreitet, man vergleicht gerne, wahrscheinlich aus Mangel an eigener Phantasie, mit schon Gesehenem und ordnet somit bewusst oder unbewusst Regisseure in bestimmte Kategorien ein. Sehr schön übrigens der Kategorisierungsversuch von Autor Oliver Bukowski, den ich als alter Lausitzer immer wieder gerne anführe, da er an solche Probleme eher unaufgeregt ran geht, nach zu lesen auf der Website des Goethe-Instituts (ist hier auf der Seite verlinkt). Es sieht 3 Typen von Regisseuren:
Typ 3 nutzt die Textvorlage für sich aus, „Ganz so, als ob er zu faul, zu untalentiert oder zu überambitioniert wäre, ein eigenes Stück zu schreiben.“
Typ 2 „... wäre der Super-Werktreue, wo man sich fragen muss, ob er beim Honorarempfang nicht rot wird.“ und
„Typ 1 wäre die Handvoll Regisseure, die in der Lage sind, dem Text das ihm entsprechende Eigene hinzuzufügen oder vielleicht sogar so souverän sind, sich den Störfaktor "lebender Autor" in die Proben zu laden.“
So lustig aber auch wahr wie das klingt, es ist auch wieder nur ein Versuch etwas zu kategorisieren, was sich nur schwer fassen lässt. Man kann ja jetzt spaßeshalber mal Namen hinter die Typen setzen und das dann diskutieren. Sie sehen aber, so kommen wir dem Begriff Regietheater auch nicht näher. Ich würde ihn daher eher wieder dahin versenken wollen, wo er einmal aufgetaucht ist, in den Schreibstuben und Köpfen von Kritikern, die sich nicht wirklich mit jungem modernem Theater auseinandersetzen wollen.

Es gibt übrigens weitere gute Beiträge zum Thema Werktreue und Regietheater von Katrin Bettina Müller (taz) auf der Website des Goethe-Instituts
Trissenaar/Kehlmann: das Aufeinandertreffen der Bedeutungshorizonte
@ Wolfram Heinrich: Was für eine seltsame Definition "des Regietheaters". Zunächst mal steht der Text spätestens seit den historischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhundert nicht mehr im Mittelpunkt des Theaters. Und zudem ist jeder Lesevorgang bereits ein Interpretationsvorgang. Da treffen zwei Bedeutungshorizonte aufeinander, inklusive Bruch des Verstehens. Wer, wenn nicht Shakespeare, Schiller, Brecht usw. selbst könnte Ihnen mitteilen, was diese mit ihren Texten aussagen wollten? Und auch das könnten Sie wiederum anders verstehen.
Das sinnliche Scheinen der Idee ist - wie noch im Fall der griechischen Götterplastik oder der klassischen Musik - passé, auch "abwesend" genannt. Das heisst, es gibt nicht den einen und einzigen Sinn, welcher aus den Texten nur noch extrahiert und von allen geteilt werden müsste. Was für eine katastrophale Form der Gemeinschaft!
Trissenaar/Kehlmann: das hinkt hinten, das hinkt vorn
Lieber Herr Heinrich,

Ihre Definition hinkt hinten und vorne.

Glauben Sie denn im Ernst, die Erwartungen der "normalen Theaterbesucher" seien derart gleichgeschaltet?

Wie stellen sich solche "normalen Theaterbesucher" denn z.B. die Inszenierung einer antiken Tragödie vor? Im Amphitheater? Auf der Guckkastenbühne? Mit Masken?
Trissenaar/Kehlmann: Antwort I
Lieber Herr Stefan,

"Ich Kalauere aber sehr gerne, Herr Heinrich, und nicht nur weil ich ein waschechter Calauer (liegt in der Niederlausitz) bin."

Da haben wir also eine weitere Gemeinsamkeit. Jetzt fällt mir auf Bestellung natürlich kein guter Kalauer ein.

"Ihre Sichtweise des Regietheaters ist leider mal wieder eine sehr verkürzte."

Ich möchte einmal, ein einziges Mal nur, die Langfassung der Sicht auf das Regietheater kennenlernen.

"Sie argumentieren wie Stadelmaier und Co. indem Sie eine Schublade aufmachen, in die annährend nicht mal die Hälfte der vielen Spielarten des sogenannten Regietheaters reinpassen. Es ist bequem solche Stereotypen immer abrufbar irgendwo abgespeichert zu haben, um sie dann gebetsmühlenartig ständig wiedergeben zu können."

Ach, kommen Sie, wir diskutieren hier jetzt schon eine Weile und womöglich haben Sie auch die nicht direkt an Sie gerichteten Anmerkungen von mir gelesen. Sie müßten also mitbekommen haben, was ich am Regiethe... okay, lassen wir das, ... was ich an bestimmten Theateraufführungen zu bemeckern habe, wobei es mir reichlich wurscht ist, wie man das nennt. Es hat sich halt "Regietheater" eingebürgert, das Wort habe ich vorgefunden und verwende es nun.
Um es nochmal kurz anzureißen, was mich stört:
- Es ist dieser Aktualisierungswahn, bei dem eine Story von einer Zeit, von einer Weltgegend, in eine andere transportiert wird, unerachtet der Binsenweisheit, daß bestimmte Geschichten nur zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Weltgegenden überhaupt laufen.
- Es sind die (mehr als nur behutsamen) Kürzungen und Ergänzungen, die einen gänzlich neuen Text, ein neues Stück entstehen lassen.
- Es ist der damit verbundene Etikettenschwindel, indem man dieses neue Stück weiterhin ungerührt als das ursprüngliche Stück ausgibt, das man lediglich inszeniere.
- Und es ist die Nackedeihuberei, die Kackwut und all die anderen Gaudi-Effekte.

"Und gegen wen hat sich das damals gewandt, gegen Stein, Peymann, Zadek usw. Das gibt ja Peter Stein auch heute gerne zu, nur hat er eben keine Lust mehr zu wichsen."

So wird manchmal aus einem Elch ein Kritiker derselben.

"Sie sehen aber, so kommen wir dem Begriff Regietheater auch nicht näher."

Ich will ihm auch gar nicht näher kommen, ich will das "Regietheater" (was immer nun genau drunter zu verstehen ist) auch nicht abschaffen - wer bin ich denn! Ich wollte eigentlich nur die Bierzeltgaudi-Inszenierungen als Bierzeltgaudi-Inszenierungen darstellen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar/Kehlmann: Antwort II
Sehr geehrte Frau Jones,

"Zunächst mal steht der Text spätestens seit den historischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhundert nicht mehr im Mittelpunkt des Theaters."

Ich weiß ja nicht, Brecht etwa hat sehr lange an seinen Texten gefeilt und sie immer wieder verändert (Extrembeispiel ist vielleicht der "Galilei"), vermutlich deshalb, weil es ihm nicht wurscht war, was ein Schauspieler da vor sich hin brabbelt, während er sich die Hose aufnestelt, um dann in Unterhosen mit einem Teddy-Bären Rock'n Roll zu tanzen.

"Und zudem ist jeder Lesevorgang bereits ein Interpretationsvorgang."

Es ist mir nicht entgangen, Sie werden lachen.

"Wer, wenn nicht Shakespeare, Schiller, Brecht usw. selbst könnte Ihnen mitteilen, was diese mit ihren Texten aussagen wollten?"

Muß ich das wissen, wenn ich ein Stück lese oder gar inszeniere? Shakespeare, Schiller, Brecht usw. haben uns Texte für das Theater hinterlassen, die gilt es, auf die Bühne zu bringen, wobei der Regisseur sehr viel Spielraum hat (besonders bei Shakespeare, der nur recht spärliche Regieanweisungen gegeben hat). Ich wiederhole mich jetzt: Wenn da steht "Erwin geht ab", dann wird sich der Regisseur seine Gedanken machen müssen, wie er den Erwin abgehen läßt. Und wenn da steht "Erwin reißt seinen Mantel auf, deutet auf seinen erigierten Schwanz und kichert irr. Neun nackte Nymphen treten aus dem Wandschrank und tanzen wild. Die siebte Nymphe schraubt sich den Kopf ab und aus dem Halsstumpf spritzt ihr Blut und saut die Bühne voll. Angewidert geht Erwin ab", dann wird der Regisseur sich etwas einfallen lassen müssen, dies zu gestalten. Wenn dergleichen aber nicht im Text steht, dann geht Erwin halt einfach nur ab.

Wenn uns ein Autor ein verstaubtes, langweiliges Stück hinterlassen hat (besser: wenn dieses Stück auf uns Heutige ziemlich verstaubt und langweilig wirkt), dann sollte man es im Bücherschrank des Theater-Museums ruhen lassen. Wenn aber der alte Text heute immer noch frisch und anregend daherkommt, dann sollte man ihn diese Wirkung auch auf der Bühne und nicht nur im gedruckten Text entfalten lassen.

"Das heisst, es gibt nicht den einen und einzigen Sinn, welcher aus den Texten nur noch extrahiert und von allen geteilt werden müsste."

Diesen einen und einzigen Sinn eines Textes hat es noch nie gegeben. Wenn ein Kopf und ein Text zusammenstoßen, so ist das Ergebnis einmalig und unwiederholbar. Ich weiß nicht, wie es anderen geht: Wenn ich mir ein Stück anschaue, von dem ich gehört habe, daß es eine Geschichte erzähle, dann möchte ich diese Geschichte im Theater erzählt bekommen, den Sinn, so einer da ist, pule ich mir dann schon selber raus.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Trissenaar/Kehlmann: Antwort III
Lieber Herr van Pelt, (ich nehme doch an, daß Sie es sind, Linus),

nur eine kleine Bitte: Könnten Sie vielleicht in die Rubrik "Autor" Ihren Namen (der eh bloß ein Nickname ist) eintragen und nicht die von Ihnen gewünschte Überschrift, die Redaktion hält sich, wie gesehen, ohnehin nicht dran, aber ich weiß wenigstens, mit wem ich grad diskutiere.

"Ihre Definition hinkt hinten und vorne."

Und ich habe es noch laut und vernehmlich angekündigt, aber auf mich hört sowieso keiner.

"Glauben Sie denn im Ernst, die Erwartungen der "normalen Theaterbesucher" seien derart gleichgeschaltet?"

Sie haben recht, nach all den Jahrzehnten dürfte das wohl nicht mehr so sein. Der Theaterbesucher, normal oder nicht normal, weiß inzwischen, was ihn erwartet.

"Wie stellen sich solche "normalen Theaterbesucher" denn z.B. die Inszenierung einer antiken Tragödie vor? Im Amphitheater? Auf der Guckkastenbühne? Mit Masken?"

Ich nehme fast mal an, er stellt sich unter einer Inszenierung den auf die Bühne gebrachten Text vor, den uns der Autor hinterlassen hat. Wahrscheinlich möchte dieser gedachte "normale Theaterbesucher" nach dem Verlassen einer Sophokles-Inszenierung den Eindruck haben, er habe gerade ein Stück von Sophokles gesehen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich

P. S.: Das richtet sich jetzt an Sie drei, die Sie mir zuletzt geantwortet haben. Ich habe mir auf Bitten von Herrn Linus eine - versteht sich - unzureichende Definition von "Regietheater" abgequält, die von Ihnen - versteht sich - als unzureichend entlarvt wurde. Wäre es unbescheiden von mir, Sie um eine womöglich stimmigere Definition zu bitten? Oder einigen wir uns drauf, daß es gar kein Regietheater gibt, womöglich überhaupt kein Theater? Schließlich gibt es Pantomime, Tanz, Puppen- und Kasperlspiele, Tragödie, Komödie, Farce etc. und es ist vielleicht vermessen, das alles unter "Theater" laufen zu lassen. Und nicht nur jede Inszenierung, sondern jede Aufführung ist ein einmaliges Ereignis, das wir nicht in irgendwelche Schubläden stecken dürfen.
Trissenaar/ Kehlmann: keine neue Erkenntnis seitdem?
Lieber Herr Heinrich, das ist schon ein wenig gebetsmühlenartig, was sie da nun immerhin schon ein Jahr nach Kehlmanns Rede hier wieder abspulen. Diese Textstücke sind ja zu größten Teil aus Ihrem zugegebener Maßen ganz lustigen Beitrag zum Regietheater von Ihrer eigenen Website. Ist da aber gar keine neue Erkenntnis dazu gekommen? Gerade als Psychologe hätten Sie doch auf Carl Hegemanns Beitrag zur Vater-Sohn-Beziehung bei Kehlmanns aus dem Freitag ganz gut antworten können. Ich gebe Ihnen einen Tipp, gehen Sie ruhig mal wieder ins Theater, die beißen da nicht in echt. Eine endgültige Definition von Regietheater werden Sie von mir auch nicht bekommen. Die gibt es leider nicht wirklich. Selbst Andrea Breth ließe sich mühelos da in eine der Schubladen reinstecken. Wenn in Ihrer Inszenierung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ Jens Harzer als Raskolnikow in abgewetzten Bojarenklamotten mit einer Axt in einer endlosen Aneinanderreihung von Kurzspots über die Bühne latscht und episch lang palavert, ist das Regietheater pur. Da hilft es auch nicht, es einfach „Verbrechen und Strafe“ zu nennen. Außer für den gelangweilten Zuschauer vielleicht. Und was machen Stadelmaier und Kümmel die Roman- und Regietheaterverächter auf deutschen Bühnen, sie jubeln, das verstehe einer. So, ich gehe mir jetzt lieber Spagetti mit Tomatensoße machen, auch so ein beliebter Regietheatereinfall. Na dann Mahlzeit.
Trissenaar/ Kehlmann: Text fächert sich in der Form in verschiedene Diskurse auf
@ Wolfram Heinrich: Vielleicht habe ich mich missverständlich formuliert. Es ging mir darum, dass der Text - anders als im sogenannten bürgerlichen Literaturtheater des 19. Jahrhunderts - nicht mehr als einziges Sinnangebot alle anderen Theatermittel beherrscht und diesen zu dienen hat. Ich bezog mich auf Hans-Thies Lehmanns Begriff des "posdramatischen Theaters", welches dieser folgendermaßen definiert:
"In postdramatischen THEATERformen wird der Text, der (und wenn er) in Szene gesetzt wird, nurmehr als gleichberechtigter Bestandteil eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs begriffen."

Das nun allein auf die Regieanweisungen zu verkürzen, erscheint mir allerdings am Thema vorbei zu gehen.

Zudem zielte ich tatsächlich darauf ab, dass heute niemand mehr wissen kann, wie bereits verstorbene Autoren ihre Texte verstanden wissen wollten. Und das ist auch nicht notwendig. Im Gegenteil, auch im Fall zeitgenössischer Autoren betrachte ich die unterschiedlichen Lesarten eines vorgegebenen Textes durch - bestenfalls - alle am Theater beteiligten Künste und Künstler als produktiven Vorgang des Experimentierens. Dabei steht nicht, nach Brecht, die Fabel im Sinne eines vereindeutigenden (dogmatischen) Sinnzusammmenhangs im Vordergrund. Vielmehr fächert sich der Text auch in der Form in verschiedene Bedeutungsebenen/Diskurse auf, welche sich während des Spielprozesses bzw. im Verlauf der Wahrnehmung durch jeden einzelnen Zuschauer permanent verschieben.

Es reicht meines Erachtens nicht aus, einen Text nur zu lesen und in der Imagination wirken zu lassen. Vielmehr geht es auch um das produktive Unmöglich-Machen bzw. Hinterfragen der in einem Text abgelagerten Diskurse eines bestimmten historischen Kontexts. Zum Beispiel könnte man sich fragen, warum Brecht die Figur des "Guten Menschen von Sezuan" mit einer weiblichen Prostituierten besetzt und nicht mit einem männlichen Stricher.
Trissenaar/ Holz/ Regietheaterdebatte: Breth hat den Theatertext zu Schuld und Sühne selbst geschrieben
Lieber Herr Stefan,

"...das ist schon ein wenig gebetsmühlenartig, was sie da nun immerhin schon ein Jahr nach Kehlmanns Rede hier wieder abspulen."

Pardongnemoa. Herr Zarthäuser hat in diesem Thread das Thema Kehlmann angeschnitten und ich bin lediglich drauf eingegangen.

"Diese Textstücke sind ja zu größten Teil aus Ihrem zugegebener Maßen ganz lustigen Beitrag zum Regietheater von Ihrer eigenen Website."

Ich bitte um Ihr Verständnis, daß ich mir für gleichartige Argumentationen über das gleiche Thema nicht immer wieder neue Formulierungen aus dem Leib quetsche. Ich bin halt auch bloß ein fauler Mensch, der es sich so einfach wie möglich macht.

"Ist da aber gar keine neue Erkenntnis dazu gekommen?"

Ich fürchte nein. Aber da bin ich wohl in guter Gesellschaft, ich habe mir sagen lassen, es gebe Leute, die schon seit zwanzig, dreißig Jahre mit Vergnügen sog. Regietheater-Inszenierungen besuchen, diese gar selber inszenieren.

"Gerade als Psychologe hätten Sie doch auf Carl Hegemanns Beitrag zur Vater-Sohn-Beziehung bei Kehlmanns aus dem Freitag ganz gut antworten können."

Das war ja grad der Trick von Hegemann. Er antwortet vorgeblich auf Kehlmanns Rede und beschäftigt sich in Wirklichkeit fast ausschließlich mit der Person Kehlmann. Mich hat in diesem Zusammenhang nur Kehlmanns Text interessiert, seine Familiengeschichte - so wichtig sie für ihn selber ist - ist für mich nur ein Hintergrundgeräusch.

"Ich gebe Ihnen einen Tipp, gehen Sie ruhig mal wieder ins Theater, die beißen da nicht in echt."

Ich weiß ja nicht, wenn ich Pech habe, gerate ich in eine interaktive Inszenierung und dann hab ich den Salat. Obwohl, die vorderen Plätze kann ich mir eh nicht leisten...
Im Ernst, daß ich so wenig ins Theater komme, hat technische Ursachen, es liegt auch ein bisserl an meiner Trägheit. Wahrscheinlich werde ich in Kürze die Satellitenschüssel anschließen lassen, dann hab ich wenigstens den ZDF-Theaterkanal.

"Eine endgültige Definition von Regietheater werden Sie von mir auch nicht bekommen. Die gibt es leider nicht wirklich."

Das ist wahrscheinlich nicht wirklich ein Schaden. Mit Definitionen ist es so, daß du bei aller Präzision immer wieder das Gschiß mit den Grenzfällen hast. Noch nicht mal die Biologie, weiß so ganz genau, wo die Pflanzen aufhören und die Tiere anfangen.

"Selbst Andrea Breth ließe sich mühelos da in eine der Schubladen reinstecken. Wenn in Ihrer Inszenierung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ Jens Harzer als Raskolnikow in abgewetzten Bojarenklamotten mit einer Axt in einer endlosen Aneinanderreihung von Kurzspots über die Bühne latscht und episch lang palavert, ist das Regietheater pur. (...) Und was machen Stadelmaier und Kümmel die Roman- und Regietheaterverächter auf deutschen Bühnen, sie jubeln, das verstehe einer.

Das scheint mir doch etwas ganz anderes zu sein. "Schuld und Sühne" ist die Theater-Adaption eines Romans, den Theatertext hat Andrea Breth selbst geschrieben. Sie inszenierte nicht Dostojewski, sondern ihr eigenes Stück nach Dostojewski. Damit hat sie alle Freiheiten, die ein Künstler hat, es geht alles auf ihre Kappe. Und wenn es klappt, dann war es gut getan.

"So, ich gehe mir jetzt lieber Spagetti mit Tomatensoße machen, auch so ein beliebter Regietheatereinfall. Na dann Mahlzeit."

Mahlzeit (auch wenn die Wünsche jetzt ein bißchen spät kommen)! Spaghetti mit Tomatensoße sollte ich mir auch bald wieder machen, feine Sache das.
Eine kleine Frage noch: Ist "Spagetti" (ohne "h") nur ein Tippfehler oder benutzen Sie hier die neue Rechtschreibung? Ich war 10 Jahre in Italien und Spadschetti tun mir in der Seele weh... :o)

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Ich möchte in der Shakespeare-Aufführung das Shakespeare-Stück sehen
Liebe Frau Jones,

"Vielleicht habe ich missverständlich formuliert. Es ging mir darum, dass der Text - anders als im sogenannten bürgerlichen Literaturtheater des 19. Jahrhunderts - nicht mehr als einziges Sinnangebot alle anderen Theatermittel beherrscht und diesen zu dienen hat. Ich bezog mich auf Hans-Thies Lehmanns Begriff des 'posdramatischen Theaters', welches dieser folgendermaßen definiert:
'In postdramatischen THEATERformen wird der Text, der (und wenn er) in Szene gesetzt wird, nurmehr als gleichberechtigter Bestandteil eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs begriffen.'"

Gut, das mag man machen. Die Frage bleibt, ob sich dafür nicht am besten jene Stücke eignen, die von vorneherein auf diese Art der Inszenierung hin geschrieben worden sind. Stellen Sie sich ein - im, sagen wir mal, Rokoko spielendes - "konventionelles" Stück mit funkelnden Dialogen vor, bei denen diese Dialoge zu Rockmusik gesungen werden, während die Darsteller in Tarzan-Kostümen an Theaterlianen von hier nach da schwingen (1). Ich fürchte, daß in diesem Falle die funkelnden Dialoge, die womöglich einer der Reize des Stückes sind, ein bißchen leiden.

Ein kulinarischer Vergleich: Ich liebe Eintöpfe (am liebsten sind mir die mit Hülsenfrüchten) und die Zubereitung eines Eintopfes - sei er nachgekocht, sei er aus den gerade vorhandenen Zutaten selbst komponiert - ist mir eine große Freude. Wenn ich mir jetzt aus der Wirtschaft eine Nudelsuppe, sowie einen Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, dazu Weiße-Bohnen-Salat kommen lasse, dies alles fein schneide und daraus einen Eintopf mache, so mag das Ergebnis einigermaßen wohlschmeckend sein. Trotzdem wäre ich ängstlich darauf bedacht, daß die Köchin vom Oberwirt nicht erfährt, was ich mit ihrem Menü angestellt habe. Sie würde mich vermutlich für einen Barbaren halten und ich könnte ihr nicht mal widersprechen.

"Zudem zielte ich tatsächlich darauf ab, dass heute niemand mehr wissen kann, wie bereits verstorbene Autoren ihre Texte verstanden wissen wollten. Und das ist auch nicht notwendig. Im Gegenteil, auch im Fall zeitgenössischer Autoren betrachte ich die unterschiedlichen Lesarten eines vorgegebenen Textes durch - bestenfalls - alle am Theater beteiligten Künste und Künstler als produktiven Vorgang des Experimentierens. Dabei steht nicht, nach Brecht, die Fabel im Sinne eines vereindeutigenden (dogmatischen) Sinnzusammenhangs im Vordergrund. Vielmehr fächert sich der Text auch in der Form in verschiedene Bedeutungsebenen/Diskurse auf, welche sich während des Spielprozesses bzw. im Verlauf der Wahrnehmung durch jeden einzelnen Zuschauer permanent verschieben."

So eindeutig sehe ich das mit der Fabel nicht. Die Fabel ist zunächst mal nichts weiter als eine Story und aus dieser Story hole ich was anderes raus als Sie, wahrscheinlich holen wir beide sogar was anderes raus, als der Autor sich da reingedacht hat. Und der Regisseur sieht wieder was anderes und es ist natürlich okay, daß dies in seiner Inszenierung rüberkommt. Nur: Die Story, die sich der Autor einst ausgedacht, die möchte ich eigentlich auch in einer Theater-Inszenierung noch vor mir haben. Denn - mit Verlaub - ich geh in "Macbeth" weil ich Shakespeare suche. Wenn mir der Regisseur den Shakespeare nicht kaputt macht, dann bin ich schon zufrieden, mehr will ich gar nicht.

"Es reicht meines Erachtens nicht aus, einen Text nur zu lesen und in der Imagination wirken zu lassen. Vielmehr geht es auch um das produktive Unmöglich-Machen bzw. Hinterfragen der in einem Text abgelagerten Diskurse eines bestimmten historischen Kontexts."

Das kann ich aber auch selber. Aber gut, natürlich besteht der Job eines Regisseurs nicht einfach darin, aufzupassen, daß die Schauspieler nicht ständig wirr durcheinanderlaufen. Aber andererseits möchte ich, wenn ich mir den "Hamlet" anschaue, den Eindruck haben, ich schaute mir ein Stück von Shakespeare an. Also Shakespeares Text, vom Regisseur in Szene gesetzt. Punkt. Bei diesem In-Szene-Setzen hat er ohnehin sehr große kreative Freiheiten.
Andere Leute mögen das anders sehen und wenn diesen Leuten eine postdramatische Inszenierung von "Hamlet" gefällt, so mögen sie sich diese anschauen. Bei uns in Bayern sagt man "DKatz mog Mais (Mäuse), i mogs ned."

"Zum Beispiel könnte man sich fragen, warum Brecht die Figur des 'Guten Menschen von Sezuan' mit einer weiblichen Prostituierten besetzt und nicht mit einem männlichen Stricher."

Womöglich, weil die Schwangerschaft Shen Tes eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Story spielt.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich

(1) Ich karikiere, natürlich. Oder hatte - mir gefriert das Blut in den Adern - schon mal jemand diesen... äh,... Einfall?
Regietheater und Romane auf Bühnen: Hauptsache frisch gekocht, nicht aufgewärmt
Lieber Herr Heinrich, das man einen Roman nicht Wort für Wort auf die Bühne bringen kann, (außer man heißt Peter Stein oder Matthias Hartmann) ist doch klar. Frau Breth benutzt eine neue Übersetzung und inszeniert sie dann, ob sie sogar eigene Texte dazu gefügt hat, weiß ich nicht, spielt in dem Fall auch keine Rolle. Frank Castorf hat den Roman auch schon mal dramatisiert, mit einer ganz anderen Lesart. Und wo wir gerade das Theaterkochstudio eröffnet haben, was ich damit sagen wollte, Sie können sich Ihre Suppe kochen wie Sie wollen, es wird immer Leute geben, denen sie nicht schmeckt. Dem einen ist zu viel Salz drin, dem anderen zu wenig Pfeffer. Die Hauptsache ist doch aber, das überhaupt noch jemand kocht und nicht nur aufgewärmt wird. Ob der Theaterkoch nun Breth oder Castorf heißt, ist Wurscht. Genau so ist es mit den Spag(h)ettis mit oder ohne h, beides ist möglich. Übrigens, es hat geschmeckt, danke der Nachfrage.
Romane auf der Regietheaterbühne: noch mehr meinen
Lieber Herr Stefan,

"Lieber Herr Heinrich, das man einen Roman nicht Wort für Wort auf die Bühne bringen kann, (außer man heißt Peter Stein oder Matthias Hartmann) ist doch klar."

Sie rennen offene Scheunentore bei mir ein.

"Frau Breth benutzt eine neue Übersetzung und inszeniert sie dann, ob sie sogar eigene Texte dazu gefügt hat, weiß ich nicht, spielt in dem Fall auch keine Rolle."

Sowieso. Aber ich gehe doch sehr davon aus, daß sie den Roman so umbasteln mußte, daß daraus ein Theaterstück werden konnte, das heißt sie hat letztlich ein eigenes Stück geschrieben, notgedrungen. Daß sie Dialoge übernommen hat, das kann schon sein, aber auch wird sie vermutlich ganz heftig gekürzt und umgestellt haben, anders kann ich mir das nicht vorstellen.

"Die Hauptsache ist doch aber, das überhaupt noch jemand kocht und nicht nur aufgewärmt wird."

Richtig. Und gottlob bin ich nicht Herr Stadelmaier, wegen meiner Meckereien geht weder das Regietheater noch sonst eine Variante des Theaters zugrunde. Ich kann fröhlich und unbeschwert meinen Senf dazu geben.

Ach, übrigens, waren Sie der "Stefan Luk Shakespeare", der so herb und beschwingt über Hamlets Klavier gespottet hat?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Hausaufgaben
@ Heinrich

Lieber Herr Heinrich !

Ja, ich habe das in diesem Thread angeschnitten (wie Sie in § 47 darlegen), freilich,
weil in diesem (damaligen ?) "Trissenhaar"-Thread plötzlich das Nackedeithema an-
hob und sich bei einer Recherche in ihrem Blog herausstellte, daß Sie da offenbar
nicht erst seit gestern, sondern ganz konkret zu Kehlmann, drüber nachgedacht
haben ...; ich selbst hätte es schon favorisiert, gegen Ende Oktober des vergangenen Jahres in den beiden Threads zu Kehlmann (noch unter "Bandido"
postend) weiterzudiskutieren (ich nannte meine Gründe, die ich nicht entkräftet sehe:
Tendenz "Oberenderdebatte" ...), und ich favorisiere es immernoch, diesen Thread zu Frau Trissenaar fortzuführen (was wohl nicht mehr der Fall sein wird), werde mich mit Anmerkungen zu "Kehlmann" bzw. der Regie im Theater demnächst zurückmelden im Thread "Schrumpfform linker Ideologien", wenn nicht bis dahin ein eigener Thread zur "Regie im Theater" aufgemacht worden sein sollte: immerhin sucht der
von mir sowohl gelesene als auch zitierte Günther Rühle im Interview des Theater-Heute-Jahrbuchs schon nach einiger Zeit offenbar vergeblich nach "Erkenntnissen"
im Theater, worauf auch der letzte Artikel aus "Theater unserer Zeit" (2) ausgangs des Werkes "Anarchie in der Regie" schon hinzudeuten scheint: ... ich sehe hier vage Möglichkeiten, bei dem Thema noch einmal ein wenig genauer und schrittweise vorgehend zu verfahren, gemach und nochmals gemach: auch zwischen diesen beiden Rühle-Eckpunkten spannen sich über 30 Jahre Theatergeschichte, und hier sollte es "pfui" sein, ein Jahr nach einer Befragung der Theaterregie anläßlich einer merkwürdig plazierten Rede noch einmal "Hausaufgaben" zu machen ???

Hundertpro, dieser Shakespeare ist "Stefan", jede Wette. Das kann ich Ihnen auch nur wärmstens empfehlen, in Stefans Blog (blog theaternachtgedanken de.) zu wildern, Sie werden voraussichtlich sogar auf weitere Verwandtschaft mit ihm stoßen, Stichwort: Uwe Seeler/Vuvuzela, davon abgesehen, daß Stefan an einem Oberammergau-Stoff gearbeitet hat mit Chören, die in reinstem Sächsisch skandieren (sollen ...): "Greizischt ihn, greizischt ihn !"
Regietheaterdebatte: ideologisch zurück in 18. Jahrhundert
@ Wolfram Heinrich: So war das eher nicht gemeint. Theater ist kein fertiger Eintopf, welcher zum Konsumieren bereit gestellt wird. Ich dachte da eher an die verschiedenen künstlerischen Mittel einer Theateraufführung, welche - analog zum Film bei Godard zum Beispiel - gerade durch ihre Inkohärenz bzw. durch ihren jeweils ganz eigenen Einsatz bzw. ihre ganz eigene Ausagekraft zum Mit-, Weiter- und Nachdenken anregen.
Im Falle Ihrer exemplarischen Rokoko-Inszenierung könnte man sich also fragen, ob und in welcher Art und Weise man die Differenz zwischen gegenwärtigem und historischen (Stück-)Kontext als Bruch mitthematisieren kann und muss.

Zur Frage der Fabel bzw. der story: Da müssten Sie schon konkreter werden. Mir ist es jedenfalls noch nicht vorgekommen, dass die story eines Stücktexts in einer Inszenierung gar nicht mehr erkennbar gewesen wäre. Zudem kann man gerade bei Shakespeare meines Erachtens nicht von "kaputtmachen" sprechen. Vielmehr lassen sich dessen Dramen auf die vielfältigste Art und Weise dekonstruieren, je nachdem, worauf man den thematischen Schwerpunkt legen möchte. Jede Generation hat ihre eigene Perspektive und ihre eigenen Sensibilitäten in Bezug auf den "Hamlet", und das ist auch gut so. Alles andere wäre museal.

Zu Brechts "Gutem Menschen von Sezuan": Es ist eben gerade die Frage, ob der "Gute Mensch" unbedingt eine Frau sein muss, und das nur, weil eine Frau schwanger werden kann. Sicher ist das eine biologische Differenz zwischen den Geschlechtern. Aber das heisst doch noch lange nicht, dass daraus automatisch bestimmte charakterliche bzw. psychologische Eigenschaften folgen müssten. Die französische Philosophin Elisabeth Badinter bemerkte dazu kürzlich in einem "Spiegel"-Interview, dass es den sogenannten "natürlichen Mutterinstinkt" nicht gebe, sondern dass dieser mit einer neu einsetzenden ideologischen Bewegung korrespondiere: "Diese Bewegung ist eine ideologische und führt uns zurück ins 18. Jahrhundert, zu Jean-Jacques Rousseau und seinem Modell von der idealen Mutter. Es ist ein wenig so, als sollte das in der Frau schlummernde Säugetier wieder geweckt werden, aber wir Frauen sind nunmal keine Schimpansen."
Regietheaterdebatte: Berater fürs Bairische
Lieber Herr Zarthäuser,

"Ja, ich habe das in diesem Thread angeschnitten (wie Sie in § 47 darlegen),"

Ich wollte Sie damit nicht verpetzen, so á la "Herr Lehrer, ich war's nicht, der Zarthäuser hat angefangen, mit Papierkugeln zu werfen."

"...sich bei einer Recherche in ihrem Blog herausstellte, daß Sie da offenbar nicht erst seit gestern, sondern ganz konkret zu Kehlmann, drüber nachgedacht haben "

Wollen mal so sagen, die Rede von Kehlmann war für mich der Anlaß, dumpf grollende Gedanken zum Thema zu Papier zu bringen, bzw. das Thema überhaupt erst mal präziser anzudenken.

"Hundertpro, dieser Shakespeare ist "Stefan", jede Wette. Das kann ich Ihnen auch nur wärmstens empfehlen, in Stefans Blog (blog theaternachtgedanken de.) zu wildern, Sie werden voraussichtlich sogar auf weitere Verwandtschaft mit ihm stoßen"

Ich habe jetzt mal dort reingerüsselt, sollte ich öfter machen, Sie haben recht.

"...davon abgesehen, daß Stefan an einem Oberammergau-Stoff gearbeitet hat mit Chören, die in reinstem Sächsisch skandieren (sollen ...): 'Greizischt ihn, greizischt ihn !'"

Das ist ja süß. Bloß gut, daß die Mitwirkenden bei Oberammergau alles seit längerem dort ansässige Leut sein müssen. Profis und andere Sachsen kommen da nicht rein. Und falls Herr Stefan mal einen Dialektberater fürs Bairische braucht...

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Goethe und der Eintopf
Liebe Frau Jones,

"Theater ist kein fertiger Eintopf, welcher zum Konsumieren bereit gestellt wird."

Schon klar. Mein Vergleich von Eintopf-Eintopf (1) und Schweinsbraten-Eintopf zielte eher darauf ab, deutlich zu machen, daß für postdramatisches Theater eher eigens dafür geschriebene Stücke geeignet wären.

"Zur Frage der Fabel bzw. der story: Da müssten Sie schon konkreter werden. Mir ist es jedenfalls noch nicht vorgekommen, dass die story eines Stücktexts in einer Inszenierung gar nicht mehr erkennbar gewesen wäre."

Wenn die Story so eben grade noch erkennbar ist, dann ist das vielleicht doch ein bißchen wenig. So ein vorgefundenes Theaterstück hat ja seinen eigenen Rhythmus, seinen eigenen Spannungsbogen. Das scheint mir ziemlich empfindlich zu sein, da geht schnell der ganze Reiz zum Teufel.
Noch in der Schule habe ich gehört, Goethe hätte seinerzeit Kleist "Zerbrochenen Krug" kaputt inszeniert, allein dadurch, daß er den (zugegeben langen) Einakter mit Pause auf die Bühne brachte. Das verzweifelte Zappeln von Adam im Netz, das sich immer enger um ihn zieht und ihn schließlich zur Strecke bringt, wäre durch die Pause aus dem Rhythmus geraten. Das Publikum konnte sich erholen, es konnte sich also auch Adam erholen und der zweite Teil hätte den Spannungsbogen erst wieder aufbauen müssen, was der Text aber nicht hergegeben habe.

"Zu Brechts "Gutem Menschen von Sezuan": Es ist eben gerade die Frage, ob der "Gute Mensch" unbedingt eine Frau sein muss, und das nur, weil eine Frau schwanger werden kann."

Es ist verdammt lang her, daß ich den "Guten Menschen von Sezuan" gelesen habe, noch in der Schule, ich mußte erst nachschlagen, um mir die Einzelheiten der Story wieder zu vergegenwärtigen. Bei Wikipedia fand ich "Als sie jedoch abermals um ihre Existenz betrogen und zugleich schwanger wird, setzt sie im Interesse des ungeborenen Kindes wieder die Maske des Shui Ta auf". Die Schwangerschaft ist also nicht ein irgendwie dekoratives Ereignis, das ein bißchen Kolorit in die Story bringen soll, sie setzt einen wesentlichen Akzent für die Geschichte.
Die Verwandlung der "guten Shen Te" in den rücksichtslosen Geschäftsmann Shui Ta ist ein noch wichtigerer Bestandteil der Story. Hier die Geschlechter umzudrehen... ich weiß nicht recht.

"...aber wir Frauen sind nunmal keine Schimpansen."

Männer schon, machen Sie sich keine Illusionen. "Alles was ein Mann schöner ist als ein Aff, ist ein Luxus", sagt jedenfalls die Tante Jolesch bei Friedrich Torberg.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich

(1) Das Wort "Eintopf" hat, wenn es nicht konkret auf tatsächlichen Eintopf bezogen ist, im Deutschen einen etwas verächtlichen Beiklang. Das hatte ich nicht bedacht, ich hätte statt von "Eintopf" vielleicht von einer dicken Suppe sprechen sollen.
Regietheaterdebatte: künstliche Grenzen
Letztlich ist doch die Frage, welchem Theaterbegriff man folgt. Ich habe immer ein Problem mit engen Grenzen, die dazu dienen, eine Kunstform zu definieren, von anderen abzugrenzen, aber eben auch einzuengen. In vielen anderen Bereiche der Kunst sind diese Grenzen längst gefallen, warum sollte man sie im Theater künstlich wieder einziehen? Wenn ich ins Theater gehe, möchte ich einen Abend erleben, der mich in irgend einer Weise stimuliert, gesitig, emotional, visuell, gern auch alles zusammen. Mir ist es dabei schlicht egal, ob der Stoff einem Drama, Roman oder Film entstammt, mir ist es auch egal, ob es sich um eine "werkgetreue" Inszenierung oder eine sehr freie Interpretation handelt. Ich habe bereits in beiden Extremen unvergessliche Theaterabende erlebt. Scheuklappen haben im Theater nichts zu suchen. Man solltemüssen auch ganz klar zwischen Drama und Theater unterscheiden. Ein Drama ist ein Stück Text, das zwischen zwei Buchdeckeln steckt. Es ist zwar dazu bestimmt, auf die Bühne gebracht zu werden, Theater ist es aber noch nicht. Dieses entsteht auf der Bühne, live, im laufenden Schaffensprozess. Theater ist etwas endliches und vergängliches, das mit Ende der Aufführung endet. Theater lebt von Freiheit, von der Weigerung, sich von vornherein eingrenzen zu lassen und Optionen von Beginn an auszuschließen. Das mag nicht das Theater des Herrn Stadelmaier sein, aber das tut mir eher für ihn Leid als für das Theater.
Regietheaterdebatte: Tiere, Körper, Handlung
@ Wolfram Heinrich: Sie haben wirklich einen selbstironischen Humor. Da möchte ich ergänzen:
"Ich liebe einen Schimpansen! Na und? Was gibt's da zu glotzen! Du bist ja kein Mensch. Wir Tiere wollen einander verstehen." ("L´Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance.", René Pollesch).
Ja. Und da haben Sie dann auch den in der Form passenden postdramatischen Text.
Zum "Guten Menschen von Sezuan": Natürlich ging meine Frage eher in die übertragene Richtung, und zwar, um das Gender-Thema in den Ring zu werfen. Denn auch auf dem Theater verhält es sich zumeist so, dass Frauen Körper haben und Männer die Rationalität verkörpern. Das heisst, meines Erachtens könnte man in Frage stellen, ob Shen Te hier wirklich eine "Maske" aufsetzt, denn das würde ja bedeuten, das sie eigentlich und wesentlich ganz anders, also immer nur "gut" sei. Kann es demgegenüber nicht auch sein, dass sie einfach nur je nach Situation und Kontext anders handelt? Ohne das gleich ins Moralische zu ziehen?
Regietheaterdebatte: Anarcho-Masche
Lieber Arkadij, danke für die Lobhudelei, vielleicht kann Herr Heinrich mir mal eine korrekte Übersetzung ins Bayrische liefern.
@ Wolfram Heinrich
Aus dem Hamlet ein bayrisches Anarcho-Volksstück zu machen, so in der Art von Herbert Achternbusch wäre eine lohnende Aufgabe. Aus Shakespeare kann man ja so ziemlich alles machen und Hamlet oder Othello bieten sich da immer an. Ich glaube auch, das ihn das nicht weiter stören würde, er hat sich auch überall bedient. Wenn Luk Perceval jetzt im Hamlet ein Klavier, für was auch immer, besetzen will, wird das sicher nicht nur ein blöder Regieeinfall sein. In "Kleiner Mann, was nun" stand ja auch eine große Musikmaschine auf der Bühne, jetzt eben ein Klavier. Kommt immer darauf an, was darauf gespielt wird und ob es nicht einfach nur für eine guten Gag zerkloppt wird. Allerdings könnte Hamlet das Klavier auch als Sinnbild für das Instrument, auf dem alle zu spielen versuchen, einfach mal in einem Anflug von Anarchie zerlegen. Aber bitte nicht als Punk, das ist out. Anna Bergmann spricht in der SZ ja auch von mehr Anarchie am Theater, nur weiß ich nicht, ob sie die nicht lieber direkt auf die Bühne bringen sollte, anstatt in die Intendantenbüros. Anarchie in den Leitungsetagen der Theater stelle ich mir irgendwie so vor, als wenn Claus Peymann zu Hermann Beil sagen würde: "Du Hermann, heute ist mir so nach Revolution, lass uns in die Volksbühne gehen und ordentlich mit den Türen knallen." Aber die siezen sich ja glaube ich immer noch und da kommt das dann ziemlich doof rüber. Anarchie als Masche wird eben schnell zur hohlen Phrase.
So, ich mache jetzt erst mal Urlaub und fahre ins Elbsandsteingebirge, um mein Sächsisch zu kultivieren und um mich an den Stammtischen über genmanipulierte Sarazenen zu unterhalten. Wenn Kuttner am DT die Macht übernommen hat und Frank Castorf die rote Fahne auf der Volksbühne aufzieht, melde ich mich dann wieder.
Regietheaterdebatte: mehr als Wiedererkennung
@ Wolfram Heinrich: Und noch etwas, in Bezug auf den dramatischen Text möchte ich mich Prospero anschließen und hinzufügen, dass ein Text immer nur Material ist, mit welchem und an welchem Regisseur und Schauspieler gemeinsam arbeiten, zu welchem sie Position beziehen, gegenüber welchem sie sich verorten usw. Dagegen erscheint auch mir die Produktion eines einfachen Wiedererkennungseffekts dramatischer Dialoge zu unterkomplex. Theater ist und kann mehr.
Regietheaterdebatte: Klarheit bei der Warendeklaration
Lieber Prospero,

"Letztlich ist doch die Frage, welchem Theaterbegriff man folgt. Ich habe immer ein Problem mit engen Grenzen, die dazu dienen, eine Kunstform zu definieren, von anderen abzugrenzen, aber eben auch einzuengen. In vielen anderen Bereiche der Kunst sind diese Grenzen längst gefallen, warum sollte man sie im Theater künstlich wieder einziehen?"

Ich möchte an dieser Stelle nochmal anmerken, daß ich zu der Definition (was ja auf Deutsch "Abgrenzung" heißt) zu der Definition von Regietheater genötigt worden bin. Das heißt, ich wurde gebeten und einer Bitte kann ich selten widerstehen. Von haus aus habe ich mich zumindest hier um eine Definition rumgedrückt, aus den von Ihnen genannten Gründen und auch wegen meiner mangelnden Kompetenz.

"Wenn ich ins Theater gehe, möchte ich einen Abend erleben, der mich in irgend einer Weise stimuliert, geistig, emotional, visuell, gern auch alles zusammen. Mir ist es dabei schlicht egal, ob der Stoff einem Drama, Roman oder Film entstammt, mir ist es auch egal, ob es sich um eine "werkgetreue" Inszenierung oder eine sehr freie Interpretation handelt."

Das ist der springende Punkt. Wenn Sie schreiben "Mir ist es dabei schlicht egal, ob der Stoff einem Drama (...) entstammt", dann ist klar, daß Sie damit keine "werkgetreue" Inszenierung (natürlich nicht) beschreiben, ja nicht einmal überhaupt eine Inszenierung. Wenn auf der Bühne ein "Hamlet" läuft, bei dem lediglich der Stoff dem gleichnamigen Stück von Shakespeare entstammt, dann wird nicht dieses Stück inszeniert, sondern das Stück wird als eine Art Steinbruch benützt, aus dem sich der Regisseur (oder Bearbeiter) bedient, wo er Teile wegläßt, andere verändert und neue Teile dazu erfindet.
Um es klarzustellen: Dagegen ist - jedenfalls von meiner Seite aus - überhaupt nichts einzuwenden. Wenn es gelingt und ein anregender, spannender Abend dabei rauskommt - fein.
Nur sollte man halt nicht dem Zuschauer einreden, er kaufe Theaterkarten für eine Hamlet-Inszenierung von Hans Müller-Möhrenschneider, wo er sich doch in Wirklichkeit in das Theaterstück "Hamlet" von Hans Müller-Möhrenschneider, nach einer Idee von William Shakespeare einkauft. Soviel Klarheit bei der Warendeklaration sollte auch im Show-Busineß sein, auch wenn diese Branche die Gewerbeaufsicht nicht zu fürchten. Ein Metzger, der seine Thüringer Rotwurst als Leberstreichwurst verkauft, bekäme Ärger, mit der Behörde, mehr noch mit den Kunden. Und dabei sind ja beide Produkte gut, sofern der Metzger sein Handwerk versteht.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Brecht zum Vergleich
Liebe Frau Jones,
"Zum "Guten Menschen von Sezuan": Natürlich ging meine Frage eher in die übertragene Richtung, und zwar, um das Gender-Thema in den Ring zu werfen. Denn auch auf dem Theater verhält es sich zumeist so, dass Frauen Körper haben und Männer die Rationalität verkörpern."

Das ist bei Brecht auf dem Theater (der dem Vernehmen nach im Privatleben weibliche Körper durchaus und das in großer Zahl zu schätzen wußte) nun gerade nicht so. Neben Shen Te fallen mir auf die Schnelle noch "Mutter Courage" und die "Heilige Johanna" ein, die durchaus die Rationalität verkörpern, wenn es auch nicht unbedingt die männliche, technische Rationalität ist.

"Das heisst, meines Erachtens könnte man in Frage stellen, ob Shen Te hier wirklich eine "Maske" aufsetzt, denn das würde ja bedeuten, das sie eigentlich und wesentlich ganz anders, also immer nur "gut" sei. Kann es demgegenüber nicht auch sein, dass sie einfach nur je nach Situation und Kontext anders handelt? Ohne das gleich ins Moralische zu ziehen?"

Mir scheint, Brecht hat in "Der Gute Mensch von Sezuan" dasselbe abgehandelt wie in "Herr Puntila und sein Knecht Matti". Dort ist der Gutsbesitzer Puntila der böse Kapitalist, der seinen Knecht Matti ziemlich schlecht behandelt. Ist Puntila aber besoffen (ist also die Rationalität weitgehend abgeschaltet) ist Puntila ein sehr umgänglicher und freundlicher Mensch. Ich denke, Brecht will damit sagen, daß der böse Kapitalist nicht deshalb böse ist, weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil er eben Kapitalist ist. Er kann in dieser Rolle nicht anders handeln, bei Strafe seines Untergangs, weil er sonst von anderen Kapitalisten gefressen wird, die nicht so zimperlich sind. Und wenn Shen Te als Shui Ta wie ein Kapitalist handelt, handelt sie rücksichtslos, ihrer ökonomischen Rolle gemäß. Das hat in der Tat mit Moral wenig zu tun.
Sie sehen, Brecht handelt dasselbe Dilemma zweimal ab, einmal mit einer Frau, einmal mit einem Mann, beide Male mit demselben Ergebnis.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Hamlet, Beckenbauer, Achternbusch
Lieber Herr Stefan,

"...vielleicht kann Herr Heinrich mir mal eine korrekte Übersetzung ins Bayrische liefern."

Wird gemacht. Ich sags aber gleich, daß ich Niederbayer bin, der kunstsinnige Oberammergauer mag den einen oder anderen Unterschied zu seinem Dialekt erkennen. Aber wenn schon der Chor aus Sachsen kommt, dann kommt halt der Regisseur aus Passau, auch schon wurscht.

"Aus dem Hamlet ein bayrisches Anarcho-Volksstück zu machen, so in der Art von Herbert Achternbusch wäre eine lohnende Aufgabe."

Hört sich verlockend an, ja.

"Aus Shakespeare kann man ja so ziemlich alles machen und Hamlet oder Othello bieten sich da immer an."

Hat sich nicht schon Nestroy an Othello versucht? Ach, nein, les ich grad, "Othellerl, der Mohr von Wien" ist von einem gewissen Karl Meisl, 1806 uraufgeführt.

"Wenn Luk Perceval jetzt im Hamlet ein Klavier, für was auch immer, besetzen will, wird das sicher nicht nur ein blöder Regieeinfall sein."

Schaumermal, na sehma schon", um den Großen Beckenbauer zu zitieren.

"Anna Bergmann spricht in der SZ ja auch von mehr Anarchie am Theater, nur weiß ich nicht, ob sie die nicht lieber direkt auf die Bühne bringen sollte, anstatt in die Intendantenbüros."

Eine bedenkenswerte Anregung.

"So, ich mache jetzt erst mal Urlaub und fahre ins Elbsandsteingebirge, um mein Sächsisch zu kultivieren und um mich an den Stammtischen über genmanipulierte Sarazenen zu unterhalten."

Schöne Tage wünsch ich.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: der Dialog als Dialog
Liebe Frau Jones,

"Dagegen erscheint auch mir die Produktion eines einfachen Wiedererkennungseffekts dramatischer Dialoge zu unterkomplex. Theater ist und kann mehr."

"Unterkomplex" ist noch geschönt. Wenn der Theaterbesucher zu seiner Begleiterin flüstert "Sachma, Traudl, is das nich Hamlet, was wir da sehen?", dann ist das zwar schon mal ganz nett, der Gipfel theatralischer Kunst liegt aber doch woanders.
Ich meinte nur, wenn sich der Autor schon die Mühe gemacht hat, wunderbare dramatische Dialoge zu Papier zu bringen, dann sollte eine Aufführung diese Dialoge nicht verschenken, das heißt mit Zirkuseffekten zumüllen.
Ein Internet-Bekannter hat mir mal - anläßlich einer Auseinandersetzung über, klar, das Regietheater - eine Maria-Stuart-Inszenierung von Stephan Kinnig, Thalia-Theater, empfohlen, die gäbe es als CD, die sollte ich mir mal bestellen. Ich habe mir daraufhin einen Ausschnitt im Internet angeschaut: http://www.theateredition.de/preview/viedeomariastuart.html
Die Szene hat mich zunächst irritiert, da stimmt doch was nicht, sagte ich mir. Ich habe dann im Stücktext nachgeschlagen und dabei bemerkt, daß dieses Regie-Genie doch tatsächlich den letzten Dialog zwischen Maria und Melvil (der ihr quasi die Beichte abnimmt) als Monolog Marias inszeniert hat. Kopf nach links, dann wieder Kopf nach rechts, wie auf der Comedybühne, wo der Alleinunterhalter notgedrungen alles selber machen muß.

Mift. Und dabei ist Susanne Wolff als Maria Stuart wirklich ganz phantastisch und es sind tatsächlich Schillers Worte, die sie spricht. Ist es wirklich so peinigend, einen Dialog als Dialog auf die Bühne zu bringen?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: unnötige Längen
@ Stefan

"Lobhudelei" : warum so ein unschöner Ausdruck, Stefan ?
K. lauert, ...wie kommt er wohl ins Schloß ??
"Uwe Seeler/Vuvuzela", das "Ödipus"-Drama Herrn Heinrichs, Ihr Oberammergaustoff:
die Parallelen lagen und liegen auf der Hand: und das ist auch gut so.
Ja, ins Elbsandsteingebirge fahre ich auch, wenngleich erst am Sonntag in einer
Woche: bin dann in Pirna - ist der richtige Ort, um einerseits nach Dresden andererseits ins Elbsandsteingebirge aufzubrechen: und Sie werden gewiß in Dresden, wo die Spielzeit ja heuer früh beginnt, das Staatsschauspiel aufsuchen.
Ich fahre zunächst nach Chemnitz: die fangen allerdings später an; möglicherweise gibt es einen Abstecher nach Leipzig ... .
Genug der "Privatismen": Es ist doch einfach so, daß ein Blick auf Ihre Seite auch nachtkritik de. - externe Threads ermöglicht, zB. zu Ihrem aufBruch - Stückbericht:
ich sehe darin schlicht und ergreifend eine Chance mehr, über konkrete Aufführungen ins Gespräch zu kommen: Ich wollte Ihnen mit "Lobhudelei" nicht zu
nahe treten; mittlerweile denke ich, angeregt durch Sie und Herrn Heinrich, aber durchaus darüber nach, selbst einen Blog zu starten: ... gelegentlich erspart das der Nachtkritik auch unnötige Längen.

@ Heinrich

Lieber Herr Heinrich !

Freut mich, daß Ihnen der Ausflug auf Stefans Seite Lust auf mehr gemacht hat.
Werde jetzt mit den beiden Bänden von Rühle in meinen Sachsenurlaub fahren, um
dann demnächst in etwa zu "Blut, Zirkus und Einsamkeit" etwas von mir vernehmen zu lassen..
Regietheaterdebatte: moralische Art der Tautologiebildung
@ Wolfram Heinrich: Sie gehen ja schon wieder von einer dualistischen Sicht auf die Geschlechter aus. Wenn Frauen rational sind, dann sind sie nach Ihnen also weiblich rational. Dagegen zielte ich darauf ab, dass sowohl Männer als auch Frauen je nach Situation und Kontext rationaler oder emotionaler handeln können, unabhängig vom Geschlecht.
Zu Ihrer Interpretation von Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" kann ich nur entgegnen, dass Ihre moralische Art der Tautologiebildung mit Sicherheit nicht dem dialektischen Denken Brechts entspricht. "Ich denke, Brecht will damit sagen, daß der böse Kapitalist nicht deshalb böse ist, weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil er eben Kapitalist ist." So so, der Kapitalist ist also böse, weil er eben Kapitalist ist. Wie wunderbar. Da ist er dann ja entschuldigt. Nein, meines Erachtens geht es vielmehr darum, dass die kapitalistische Produktionsweise bzw. der Kapitalismus selbst nach Marx in negativem Sinne anarchisch bzw. in höchstem Maße irrational ist:

"Seine ökonomische Ratio setzt sich - nach einem Wort von Engels - als 'eine Wechselwirkung' einer unendlichen 'Menge von Zufälligkeiten durch', als Resultat vieler Einzelwillen. Heraus kommt etwas, das streng besehen niemand gewollt hat. [...] Er ist, aller Siegeszüge des Rationalismus und der exakten Wissenschaften zum Trotz, eine Ordnung des Irrationalen, er etabliert, wie Marx in den 'Grundrissen' seiner Kritik der politischen Ökonomie notiert, 'die Verrücktheit als ein Moment der Ökonomie.'"
(Robert Misik)

Zum Wiedererkennungseffekt: Ich verstehe Ihre Argumentation nicht. Wenn Sie bloß die Dialoge als Dialoge wieder und wieder hören wollen, dann beschränken Sie sich doch lieber gleich auf das Hörspiel. Das Theater dagegen setzt einen Text ästhetisch in Szene. Eine theatrale Aufführung ist immer schon mehr als die bloße Repräsentation eines abgeschlossenen literarischen Werks.

Zur "Maria Stuart" von Stephan Kimmig: Da zeigt es sich. Für mich geht es im Theater vor allem um die Theatron-Achse, das heisst, um Impulse für eigenständige Denkprozesse durch jeden einzelnen Zuschauer. Ich habe diese "Maria Stuart"-Inszenierung nicht gesehen. Aber könnte es nicht sein, dass Kimmig hier auf einen inneren Dialog verweisen wollte? Könnte es nicht sein, dass durch Maria Stuart hier plötzlich eine innere Stimme des Glaubens spricht, welcher aus einem radikalen Zweifel erwächst? Vielleicht braucht sie dazu keinen "Ersatz-Beichtvater". Zumal aus den sie umgebenden Herren in Schlips und Anzug ja auch eher die personifizierte technokratische Scheinheiligkeit spricht.
Regietheaterdebatte: Lektüre für den Sachsenurlaub
Lieber Herr Zarthäuser,
"K. lauert, ...wie kommt er wohl ins Schloß ??"

Der Franze hat gsagt, bal amal im Schloß ein Prozeß stattfind't, na, sagt er, geht er nach Amerika.

"Werde jetzt mit den beiden Bänden von Rühle in meinen Sachsenurlaub fahren, um
dann demnächst in etwa zu 'Blut, Zirkus und Einsamkeit' etwas von mir vernehmen zu lassen."

Auch Ihnen eine schöne Zeit in Sachsen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: Die Formen der Rationalität
Liebe Frau Jones,

"Sie gehen ja schon wieder von einer dualistischen Sicht auf die Geschlechter aus. Wenn Frauen rational sind, dann sind sie nach Ihnen also weiblich rational."

Ich hatte geschrieben "...die durchaus die Rationalität verkörpern, wenn es auch nicht unbedingt die männliche, technische Rationalität ist." Das heißt, ich hatte den Begriff "männliche Rationalität" schon etwas präzisiert und zwar in Richtung auf technisch-ökonomische Effizienz. Unstreitig dürfte sein, daß diese Art von Rationalität gemeinhin als "männlich" bezeichnet wird. Ob und eventuell wie weit diese Zuschreibung begründet ist, darüber kann man streiten, was aber hier wahrscheinlich den Rahmen sprengen würde.

"Dagegen zielte ich darauf ab, dass sowohl Männer als auch Frauen je nach Situation und Kontext rationaler oder emotionaler handeln können, unabhängig vom Geschlecht."

Da haben Sie sicherlich recht, kein Widerspruch.

"Zu Ihrer Interpretation von Brechts 'Herr Puntila und sein Knecht Matti' kann ich nur entgegnen, dass Ihre moralische Art der Tautologiebildung mit Sicherheit nicht dem dialektischen Denken Brechts entspricht. 'Ich denke, Brecht will damit sagen, daß der böse Kapitalist nicht deshalb böse ist, weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil er eben Kapitalist ist.' So so, der Kapitalist ist also böse, weil er eben Kapitalist ist. Wie wunderbar. Da ist er dann ja entschuldigt."

Sie haben hier einen ganz wichtigen Teil meiner Argumentation weggeschnitten. Ich hatte im Anschluß an die von Ihnen zitierte Passage geschrieben: "Er kann in dieser Rolle nicht anders handeln, bei Strafe seines Untergangs (als Kapitalist; zur Erläuterung jetzt eingefügt), weil er sonst von anderen Kapitalisten gefressen wird, die nicht so zimperlich sind. Und wenn Shen Te als Shui Ta wie ein Kapitalist handelt, handelt sie rücksichtslos, ihrer ökonomischen Rolle gemäß. Das hat in der Tat mit Moral wenig zu tun."
Es geht also gerade nicht um Moral, sondern um ökonomische Zwänge. Stellen Sie sich nur mal einen Vorstandsvorsitzenden vor, der in der Hauptversammlung den Aktionären erzählt, sie bekämen dieses Jahr keine oder nur eine geringe Dividende, weil er in Verhandlungen mit dem Betriebsrat durchgesetzt habe, die Löhne auf 120 % des Tariflohns anzuheben, weil der Tariflohn nun wirklich etwas arg schäbig sei...

"Zum Wiedererkennungseffekt: Ich verstehe Ihre Argumentation nicht. Wenn Sie bloß die Dialoge als Dialoge wieder und wieder hören wollen, dann beschränken Sie sich doch lieber gleich auf das Hörspiel."

Ich will ja nicht nur die Dialoge, sondern das ganze Stück, wovon die Dialoge ein Teil sind. Die "Nachtkritik" hatte im Mai dieses Jahres über eine Inszenierung berichtet, in der diese Dialogstücke vorkamen: "zieh die hose wieder an – deine pussy ist mir zu froschig – schlampe – was willst du tun – ich bin potenter als ein ochse – wenn ich sterb dann zumindest mit meinem schwanz in deiner fotze".
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4331&catid=38&Itemid=40
Es handelte sich um eine "Inszenierung" von Nuran David Calis des Stückes "Die Kindermörderin" von Heinrich Leopold Wagner (1776!). Ich kenne das Stück nicht, verwette aber mein Psychologie-Diplom gegen eine Rolle Klopapier, daß dies weder der Original-Dialog ist, noch eine behutsame Aktualisierung der Sprache H. L. Wagners.

"Aber könnte es nicht sein, dass Kimmig hier auf einen inneren Dialog verweisen wollte?"

Oh ja, das könnte gut sein. Warum aber einen Text, der als Dialog komponiert wurde, als Monolog inszenieren? Bei einem Konzert kommt doch auch kein Dirigent auf die Idee, den Klavier-Part durch eine Trompete (oder auch nur durch ein Cembalo) spielen zu lassen. Ich mein, wenn Emanuel Striese (im "Raub der Sabinerinnen") die Sklavin Tullia aus Personalmangel heraus erst zum Sklaven Tullius machen will, dann, als auch das nicht geht, zum Kind Tullium und schließlich auf die Idee kommt, Titius Tatius einen Brief finden zu lassen, dann tut er das aus der blanken Not heraus, weil sein Schmierentheater nicht mehr an Personal hergibt. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß das Thalia-Theater die Melvil-Rolle nicht mehr besetzen konnte.

"Könnte es nicht sein, dass durch Maria Stuart hier plötzlich eine innere Stimme des Glaubens spricht, welcher aus einem radikalen Zweifel erwächst? Vielleicht braucht sie dazu keinen 'Ersatz-Beichtvater'."

Mag ja sein, aber Schiller hatte die Sache anders gelöst. Ist denn keiner, der ins Theater geht, mehr neugierig auf Schiller?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: pure Vernunft darf niemals siegen!
@ Wolfram Heinrich: Die Frage ist aber doch, ob es tatsächlich "unstreitig" ist, dass die technisch-ökonomische Effizienz männlich kodiert sei. Und die Diskussion darüber kann von mir aus auch gern den (Bühnen-)Rahmen sprengen.

Ebenso mit Skepsis ist meines Erachtens der Begriff der "ökonomischen Zwänge" zu betrachten. Soll das nicht bloß suggerieren, dass es keine Alternative zum oder besser dass es weder strukturelle Reformen noch persönliche Verhaltensänderungen IM Kapitalismus geben kann? Ist das so? Wolfgang Engler hat das im Programmheft zu Nicolas Stemanns "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" am dt folgendermaßen formuliert:
"Weil es diese Alternative gibt, weil Wille, Entscheidung und 'Charakter' eine Rolle spielen, ist das Handeln der ökonomisch Mächtigen kritisierbar. Und weil das Schicksal von Millionen von Menschen in Deutschland wie anderswo absehbar weiterhin vom Tun und Lassen der Reichtumsklasse abhängt, ist eine Kritik, die auf Reflexion und Besserung ihrer Mitglieder zielt, ein Gebot der praktischen Vernunft." Ja. Genau. Pure Vernunft darf niemals siegen! Und weiter bei Engler: "Strikte Verhaltensregeln für den weltweiten Kapitalverkehr, Richter ohne Furcht vor 'großen Tieren', handfeste Gegenwehr der Geprellten und Betrogenen - von Frankreich lernen heißt, sich wehren lernen - : ja, unbedingt."

Zu Nuran David Calis' "Kindermörderin": Was genau Calis dazu bewogen hat, die Dialoge von Heinrich Leopold Wagner auf das Bushido-Rap-Format runterzubrechen, das wird mir zunächst mal auch nicht ganz klar. Zumal dieser klischeehafte Aggro-Jargon der türkischen Unterschicht ja marketingtechnisch bereits voll in den Pop-Kapitalismus integriert ist und längst niemanden mehr provoziert - ausser eben die traditionell orientierten bürgerlichen Mittelschichten, welche ihre Kinder nach wie vor nicht mit einem sogenannten "Proleten" verbandelt sehen wollen. Vielleicht ist also genau das Calis' Thema.

Zu Kimmigs "Maria Stuart": Aber es ist doch immer noch Schiller, nur eben in der Lesart von Kimmig, welcher das Stück vor der Folie des gegenwärtigen Kontexts gelesen hat, in welchem das göttliche Prinzip als autoritär gebietendes und strafendes Prinzip abwesend ist. Dazu fällt mir spontan ein Kommentar der FAZ zu Lars von Triers Film "The Boss of It All" ein, welcher auch ein Kommentar zur Rolle der Religion in der heutigen Zeit sei:
"Denn auch Gott ist ja vielleicht auch nur ein imaginärer Ober-Boss, eine Erfindung von Menschen, um besser über andere herrschen zu können."
Anna Bergmann in der SZ: Nun bin ich aber platt
Liebe Frau Jones,

"Die Frage ist aber doch, ob es tatsächlich "unstreitig" ist, dass die technisch-ökonomische Effizienz männlich kodiert sei."

Ich hatte lediglich geschrieben: "Unstreitig dürfte sein, daß diese Art von Rationalität gemeinhin als 'männlich' *bezeichnet* wird." Um mehr ging's mir gar nicht.

"Und weil das Schicksal von Millionen von Menschen in Deutschland wie anderswo absehbar weiterhin vom Tun und Lassen der Reichtumsklasse abhängt, ist eine Kritik, die auf Reflexion und Besserung ihrer Mitglieder zielt, ein Gebot der praktischen Vernunft.'

Nun bin ich aber platt. Und das im Programmheft zur "Heiligen Johanna der Schlachthöfe"! Das Stück hat Brecht genau deshalb geschrieben, um dies zu widerlegen.

"Zu Nuran David Calis' 'Kindermörderin': Was genau Calis dazu bewogen hat, die Dialoge von Heinrich Leopold Wagner auf das Bushido-Rap-Format runterzubrechen, das wird mir zunächst mal auch nicht ganz klar."

Na, was wohl? Publicity. Wenn ich das Stück eines Dichters aus dem 18. Jahrhundert, den lediglich Spezialisten kennen, auf die Bühne bringe, dann muß ich mir Gedanken machen, wie ich die Bude voll kriege. Es sagt ja keiner "Ah, endlich mal ein Stück von Heinrich Leopold Wagner auf der Bühne!".

"...niemanden mehr provoziert - ausser eben die traditionell orientierten bürgerlichen Mittelschichten, welche ihre Kinder nach wie vor nicht mit einem sogenannten 'Proleten' verbandelt sehen wollen. Vielleicht ist also genau das Calis' Thema."

Wagners Thema ist es jedenfalls nicht. Sein Stück handelt von der Verführung bzw. Vergewaltigung (der Wikipedia-Autor weiß hier selbst nicht so recht) eines Bürgermädchens durch einen Adeligen.

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Regietheaterdebatte: der Wunsch nach Publicity
@ Wolfram Heinrich: Ich verstehe Sie nicht ganz. Was genau will Brecht Ihrer Meinung nach mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" widerlegen?
Zu Calis' Kindermörderin: Ich würde nicht davon ausgehen, dass hinter der Überschreibung von Heinrich Leopold Wagner durch Calis allein der Wunsch nach Publicity stand. Vielmehr ging es Calis möglicherweise auch darum, die Sehnsucht der bürgerlichen Mittelschichten nach einer universalistischen und ganzheitlich abgeschlossenen Perspektive auf "das Menschliche" - auch und gerade auf der Theaterbühne - zu hinterfragen. Ob das Ergebnis dann möglicherweise zu klischeehaft ausgefallen ist, das kann ich nicht weiter beurteilen, da ich die Inszenierung nicht gesehen habe.
Regietheaterdebatte: Beweggründe und Taten
Liebe Frau Jones,

"Ich verstehe Sie nicht ganz. Was genau will Brecht Ihrer Meinung nach mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" widerlegen?"

Er will widerlegen, daß man das Elend der Unterschicht durch eine moralische Besserung der Oberschicht beenden oder auch nur lindern könnte. Das ist eine Facette des Stückes, das Stück ist natürlich vielschichtiger.
Genau deswegen wendet sich Johanna Dark von Schwarzen Strohhüten (sprich: Heilsarmee) an den Fleischkönig Pierpont Mauler, sie will sein Herz rühren und spricht ihm von Gott. Mauler kommt ihr entgegen, seine mildtätigen Handlungen erweisen sich aber letztlich als Börsenmanöver, nach denen die Lage der Arbeiter in der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre noch schlechter ist als zuvor.

"Zu Calis' Kindermörderin: Ich würde nicht davon ausgehen, dass hinter der Überschreibung von Heinrich Leopold Wagner durch Calis allein der Wunsch nach Publicity stand."

Ich weiß nicht, wie prominent und auf dem Markt begehrt Calis ist. Vielleicht ist er noch nicht so weit, daß er sich die Stücke, die er inszeniert, selber aussuchen darf. "Hömma, Nuran, nächste Saison inszenierst du dieses Stück von Wagner", sagt ihm der Intendant und Calis sagt sich: "Was ist denn das für eine Schmonzette..." und richtet sich das Stück so her, daß es ihm paßt.
Ich weiß, ich bin ein Mensch, der hinter Handlungen zunächst mal niedere Beweggründe sucht. :o)

"Vielmehr ging es Calis möglicherweise auch darum, die Sehnsucht der bürgerlichen Mittelschichten nach einer universalistischen und ganzheitlich abgeschlossenen Perspektive auf "das Menschliche" - auch und gerade auf der Theaterbühne - zu hinterfragen."

Möglich. Nix gnaus weiß man nicht. Es wird schon alles einen Sinn haben.

Ciao
Wolfram
Regietheaterdebatte: Johanna Darks Entwicklung
@ Wolfram Heinrich: Danke für die Präzisierung. Ich lese die "Heilige Johanna der Schlachthöfe" von Brecht etwas anders, das heisst dialektisch, ohne am Ende zu einer vereindeutigenden und abgeschlossenen Synthese zu gelangen. Vielmehr bleiben für mich die Widersprüche offen im Raum stehen. Das heisst, den Ausweg im Aufstand der proletarischen Massen zu sehen, das erscheint mir vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse (Stichworte: Moderne Dienstleistungsgesellschaft und Konsum- bzw. Pop-Kapitalismus) eher unrealistisch.
Zudem endet "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" mit folgender Parodierung des Faust-Motivs durch Brecht:
"Mensch, es wohnen dir zwei Seelen / In der Brust! / Such nicht eine auszuwählen / Da du beide haben mußt. / Bleibe stets mit dir im Streite! / Bleib der Eine, stets Entzweite! / Halte die hohe, halte die niedere / Halte die rohe, halte die biedere / Halte sie beide!" Das lese ich so, dass das bürgerliche Individuum einerseits bereit sein muss, sich im Kollektiv aufzulösen, um zur revolutionären Tat durchzudringen, was auf der anderen Seite immer auch die Gefahr der Instrumentalisierung und Vereinnahmung der eigenen durch fremde Interessen nach sich zieht. In diesem Sinne durchläuft Johanna Dark einen widersprüchlichen Entwicklungprozess, wohingegegn dieser im Falle von Mauler längst abgeschlossen ist. Dieser heuchelt zwar Moral, orientiert sich in seinem Handeln aber letztlich allein an den Marktgesetzen des Kapitalismus. Statt zu agieren und sich der Folgen des eigenen Handelns bewusst zu werden bzw. dafür die persönliche Verantwortung zu tragen, reagiert er nur noch auf die Börsennotierungen und Kursschwankungen.
Was also ist zu tun? Meines Erachtens müssten sich gerade die bürgerlichen Mittelschichten als sogenannte "Träger" des aufgeklärten und öffentlichen Bewusstseins wieder mehr für das Ganze des sozialen Zusammenhalts einer politischen Gemeinschaft öffnen und sich mit den unteren sozialen Schichten solidarisieren, anstatt diese durch staatliche Transferleistungen bzw. Almosen und christliche Wohltätigkeit weiterhin unmündig und klein zu halten. Dabei steht für mich auch und gerade das Theater, welches zum großen Teil von ebendiesen bürgerlichen Mittelschichten besucht wird, in der Verantwortung.
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