Theateristische Inszenierung

9. September 2010. Die Politik kommt mal wieder dem Theater als PR-Hilfe entgegen, im vorliegenden Fall dem Schauspiel Hannover. Das Haus, das sich im Untertitel "Deine moralische Anstalt" nennt, plant zum 30. Jahrestag der Anti-Atom-Gründung Republik Freies Wendland ein Revival in Hannovers Innenstadt.

"Ab dem 18.09.2010 wird mitten in Hannovers Altstadt ein eigener Staat entstehen," heißt es in der launigen Ankündigung des Theaters. "Ein Staat nach deinen Vorstellungen! Mit Holz, Hammern und Nägeln erbauen wir ein Hüttendorf und werden neun Tage dort leben, streiten, tanzen, spielen, klettern, clownen, pflanzen und kochen." Sogar die Nachfolger der legendären Band "Ton, Steine, Scherben" werden in Hannover erwartet, um gegen den zweiten, von Angela Merkel in Gang gesetzten Atomfrühling aufzuspielen.

Erlebniscamp Politik ...
Doch regt sich in der niedersächsischen CDU jetzt Protest: "Das Projekt Hüttendorf ist weit entfernt von einer theateristischen Inszenierung, denn Workshops mit gewaltfreiem Widerstand haben kaum etwas mit Schauspielerei oder Theaterpädagogik zu tun," ließ der Landtagsabgeordnete Dirk Toepffer jetzt in einer Erklärung verbreiten. "Es wird eher ein Erlebniscamp Politik errichtet, in dem scheinbar der Nachwuchs an Demonstranten gefördert werden soll. Das belegt auch die Beschreibung zum Projekt Republik freies Wendland, in dem von einer noch zu politisierenden Jugend gesprochen wird. Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines Theaters," so Toepffer.

"Florian Fiedler sollte sich wieder darauf besinnen, dass er als Regisseur für ein Theater arbeitet und nicht vorrangig Mitglied einer Anti-Atom-Organisation ist", heißt es außerdem in Toepffers Erklärung. Der dreiunddreißigjährige Regisseur gehört federführend zum Planungsteam des Projekts, in dessen Kontext auch seine Inszenierung von Ibsens Ökoskandalstück Ein Volksfeind zu sehen sein wird.

... gefördert von der Bundeskulturstiftung
"Wenn man so etwas nachspielt, dann wird es ja Theater, dann wird es Kunst," sagte heute der Dramaturg des Wendlandprojekts, Aljoscha Begrich im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. "Wenn eine Organisation der Atomkraftgegner ihr Widerstandscamp auf dem Ballhofplatz einrichten würde, dann wäre das sicher etwas ganz anderes."

Gefördert wird das Projekt des Schauspiel Hannover vom Heimspielfonds des Kulturstiftung des Bundes. Zu den Partnern des Projekts gehört unter anderem auch die Bürgerinitiative Lüchow Dannenberg e.V., die Stiftung des Landes Niedersachsen "Kinder von Tschernobyl", sowie die Heinrich Böll Stiftung.

(sle)


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Kommentare  
Wendlandprojekt: Kunst!
politisierende performance ist gerade das:
kunst. es ist.
sagt mal jemand den politikern, dass theater nicht
allein nur schauspielerei und theaterpädagogik ist?
nein danke. resist!
Wendlandprojekt in Hannover: Schafft Hüttendörfer
Jawoll, schafft zwei, drei, viele Opern- äh Hüttendörfer.. Die CDU wird die dazugehörigen pawlowschen Reflexe schon liefern.
Wendlandprojekt in Hannover: unangenehm engagiert
wobei theater (wie alles andere auch) ja immer dann am unangenehmsten ist, wenn es sich so ganz und gar offensichtlich "engagiert" ... man schämt sich dann auch immer so schnell, wenn es engagiert zugeht, nicht?!
Wendlandprojekt in Hannover: schade drum
"Der Widerstand des Werkes ist nicht die Rettung der Politik durch die Kunst. Er ist nicht die Imitation oder Antizipation der Politik durch die Kunst. Er ist genau ihre Einheit. Die Kunst IST die Politik." (Jacques Rancière)
Und damit ist eben gerade nicht die traditionelle "politisch engagierte" Kunst gemeint. Ist nicht das Medienecho bzw. der erwartbare Reflex durch die konservative Politik genau das, was diese Form der Projekt-Kunst, schon bevor sie überhaupt begonnen hat, bereits von vornherein voll in das System integriert?
"Die gegenkulturelle Politik der letzten vierzig Jahre - von den Hippies bis zu den Punks - ist eine der wichtigsten Triebkräfte des Konsumkapitalismus gewesen." (Robert Misik)
Schöner Marketing-Gag. Schade drum.
Wendlandprojekt in Hannover: platt und dumm
schade, dass die meinung von Toepffer so platt und dumm ist! Sonst könnte eine Diskussion um Politik und Theater richtig spannend werden. Hauptsache das Schauspiel Hannover lässt sich in seinem Vorhaben nicht beirren.
Wendland in Hannover: mein verstorbener Oheim
Zu diesem Behuf möchte ich feststellen, dass ich derartige Projekte schätze, zu Wasser und zu Lande, sintemal mein verstorbener Oheim, dem das Schicksal verwehrte, nicht an seinem eigenen Grab verweilen zu könnnen, mir dazu angeraten hat.
Wendland in Hannover: was Theater darf und was nicht
Das erste mal seit langem, dass Theater einem seiner wichtigsten Zwecke gerecht wir, nämlich der Politisierung und Sensibilisierung eben des Nachwuchses. Allein die Reaktion Toepffers spricht doch schon für den Umgang von Politikern mit dem Stadttheater und ihrer Erwartungshaltung, was Theater darf und was nicht, oder vielmehr, wieviel gemütliche Kritik, ästhetisch ansprechend verpackt, so ein subventioniertes "Kunsthaus" ausstrahlen soll... An die Arbeit!
Wendland in Hannover: der Beuys-Hase im Pfeffer
äh, aber dufte, das Blöde daran ist jetzt aber doch, dass hier alle schon vorher wissen, was das Schauspiel Hannover machen will bzw. dass es irgendwie voll dagegen ist. Allerdings und natürlich nur "als ob" - also quasi in sozialhygienischer Funktion, als Hofnarren. Na toll, ist das jetzt das Politische bzw. das Widerständige der Kunst? Mm. Das hat Schlingensief doch alles auch schon ausprobiert - unbedingt erfolgreich natürlich, aber am Ende auch selbstkritisch. Und vor allem, Schlingensief hat zum Beispiel selbst eine Partei gegründet und sich nicht der Grünen-nahen Heinrich Böll-Stiftung angedient. Wendland, Ökobewegung und Die Grünen, na, da liegt doch der Beuys-Hase im Pfeffer, oder? Ist das noch autonome Kunst?
Wendland in Hannover: Schaden minimiert?
Darf, teurer Klaus vom Felde, ich deine Worte so deuten, daß solange ein Theater derartige Projekte durchzieht statt Theater zu machen, der Schaden minimiert bleibt?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Wendland in Hannover: entmündigender Blick auf die Jugend
und komisch finde ich auch, wie die Theatermacher darauf kommen, dass "die Jugend" erst noch zu politisieren sei. Ist das nicht ein selbst-herrlicher und entmündigender Blick von oben auf "die Jugend", welcher irrigerweise zunächst mal an Sarrazins These von der drohenden "Verdummung" der Deutschen denken lässt? Stattdessen verweise ich auf folgendes Zitat aus Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands":
"Immer sollten den Arbeitenden von ihren Parteien der Stoff und die Themen gegeben werden, immer sollten sie, bei scheinbar brachliegendem Bewußtsein, die Entgegennehmenden sein, nie wandten sich die Funktionäre fragend an sie, bereit, von ihnen zu hören, was sie empfanden und dachten. Nur bei Luxemburg hatte er diese Offenheit und Vorbehaltlosigkeit gefunden, diesen tatsächlichen Sinn für demokratisches Betragen."
Man könnte Dinge in den falschen Hals bekommen.
Wendland in Hannover: Schlafen Sie gut!
"Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines Theaters." (Toepffer)
Er scheint zu wissen, was die Aufgabe des Theaters ist - na dann PROUST. Im Theater soll wohl nur der rote Vorhang rauf- und wieder runter gehen und schön gesprochen werden und möglichst alles schön so als ob.
Wenn Ihnen, Herr Toepffer, ein Fischstäbchen genug Fisch ist, ist die Nordsee noch in Ordnung. Schlafen Sie gut, Herr Toepffer, und träumen sie schön.
Wendland in Hannover: miefige Welt der Eltern
der rote Vorhang oder der Lüster. Ja. Genau. Die Schwierigkeit liegt möglicherweise darin, auch und vor allem die nicht von vornherein schon Agitierten mit ins politisch-kritische Boot zu bekommen. Wie einst ja schon "Ton Steine Scherben" feststellten.

Liest man nun von einer von Ikea (sic!) gesponserten Studie zur Jugendkultur des Marktforschungsinstituts Rheingold, erscheint die "Politisierung der Jugend" - von unten - dringend notwendig. Einer der Autoren dieser Studie, der Psychologe Stephan Grünewald, formuliert das laut dieser Statistik bei den 18- bis 24-Jährigen vorherrschende Lebensgefühl folgendermaßen:
"Das Lebensgefühl hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Von den Rebellen der 68er-Jahre, die sich vehement gegen die miefige Welt der Eltern stemmten, keine Spur. Die Jugend ist zielstrebig. Bildung, Karriere und ein gutes Einkommen stehen hoch im Kurs. Ein kleines Haus mit Garten oder eine Eigentumswohnung, gern. Aus allen Lebensentwürfen schimmert eine Biedermeierwelt. Die Angst vor dem Absturz ist zum zentralen Lebensgefühl geworden." (Quelle: SZ vom 11./12.9.2010)
Oh Gott. Nee nee nee. Keine Rundumsorglos-Logik, bitte. Wenn sich, laut dieser Studie, jetzt sogar die für solidarisch und eher links haltenden Jugendlichen als Sieger von den sogenannten gesellschaftlichen Verlierern abgrenzen, dann stimmt hier etwas ganz grundsätzlich nicht.
Hannover in Wendland: Zwischenstation
Vielleicht mache ich auch mal eine Zwischenstation im freien Wendland.
Wendland in Hannover: es hat den Klang von Utopie
"Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines Theaters:" - das ist ein wunderbarer Satz, denn er gesteht dem Projekt des freien Wendlandes ja letztlich das Potential zu, die Jugend zu politisieren, und das ist wiederum ein derart hehres Ziel, dass ein jeder Künstler es wohl kaum auszusprechen wagen würde: Es hat den Klang von Utopie; und nun spricht Herr Toepffer davon, dass dies NICHT Ziel des Theaters sein kann! Ja, was um alles in der Welt sollte es denn dann sein? Zumal mit einem Projekt, das ja offenbar das Zeug dazu hat? Womit man wiederum im ersten Teil des Toepfferschen Denkkonstruktes angelangt wäre. Und so kann man sich dann herrlich gedanklich im Kreis drehen: Ein Satz von oxymoronischen Auswüchsen. Danke!
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