Der Kampf gegen das Verschwinden des Menschen in Dir

von Caren Pfeil

Dresden, 11. September 2010. Der Zuschauerraum im Kleinen Haus des Staatsschauspiels blieb ungenutzt, dafür war die Bühne freigegeben fürs Volk. Unter einem Bierzeltrahmen aus Neonleuchten standen lange Reihen von Biertischgarnituren, etwas erhöht rechts und links an den Wänden noch zusätzliche Zuschauerbänke. Ein frisch gezapftes Bier bekam hier jeder, ob er nun unten saß oder oben.

Erika ist unten. Ganz unten. Sie kellnert in der Kellerbar, und ab und an hilft sie beim Direktor im Haushalt. Viel mehr passiert nicht in ihrem Leben. Erika lebt am Rand der Stadt, irgendwo auf dem Land eben, wo alle sich kennen, weil sie in eine Schule gingen und hier hängengeblieben sind, wo aber keiner mit dem anderen wirklich etwas zu tun hat. Nur gemeinsam schimpfen, das geht: auf die beschissene Versicherung, wenn sie nicht zahlt, auf das beschissene Geld, das man nicht hat, auf das ganze beschissene Leben eben. Einmal unten immer unten.

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Cathleen Baumann als Erika in Palmetshofers "tier. man wird doch bitte unterschicht" © David Baltzer

Das Tier zerfrisst, was Mensch war

Ob diese Gesellschaft vom Rand her oder vom Kern aus fault, dazu ist eine Kommission aufs Land gekommen. Beamte in Schutzanzügen – komfortabel im Dienstwagen – wollen sie das Leben auf dem Land untersuchen, soziale Forschung betreiben, ihr Objekt ist Erika.

Diese Frau Erika ist sprachlos. Wenn sie redet, redet sie über es, das Mädchen, das sie einmal war. Über das Mädchen, das sich im Schulklo versteckte, und das missbraucht wurde vom Sohn des Direktors. Seitdem zerfrisst das Tier in ihr, was Mensch war. Aber Erika kämpft gegen das Verschwinden des Menschen in sich, indem sie die Sprache, die die anderen sprechen, verweigert. Sie sucht, sie stottert, sie distanziert sich mit ihrem Sprechen von dem, was sie sein soll aber nicht sein will, sucht mit der Sprache das Eigene, das Menschsein in sich.

Sezierendes, provozierendes Denken
Ewald Palmetshofers Text, den das Programmheft komplett abdruckt, ist auch ein wunderbarer Lesetext, mit dem der junge Autor ein weiteres Mal seine enorme Sprachkraft, sein vielschichtiges, sezierendes und provozierendes Denken unter Beweis stellt. Das Theater war in dieser Uraufführung noch auf der Suche nach Mitteln, diese Sprache theatralisch aufzuladen oder besser: zu entladen. Denn deren Dichte und Sprengkraft bedarf verschiedener Einfallstüren, um die Untiefen wahrnehmen zu können, den Kosmos von Menschen, wenn sie fast keine mehr sind.

Cathleen Baumann als Erika machte sich die sowohl dramatischen als auch reflektierenden Ebenen des Textes auf beindruckende Weise zu eigen und schuf ein Wesen zwischen Mädchen und Frau und stumpfem Tier, dessen Brüchigkeit, dessen Naivität und Kraft, gepaart mit äußerster Präsenz plötzlich umschlägt in eine Urgewalt, die tötet. Sie rächt sich am Direktor, der die Tat seines Sohnes gedeckt hatte, – animalischer Ausbruch aus der Seelennot.

Die Sprache mit Genuss zerkauen
Der inzwischen pflegebedürftige und sich mit Alkohol betäubende ehemalige Schuldirektor, der seine Energie hauptsächlich aus dem Demütigen von Schülern bezogen hatte, wurde von Albrecht Goette mit widerlicher Larmoyanz gezeigt. Mit Genuss schien der Schauspieler die Sprache zu zerkauen, bis ihre Bruchstücke, seinen Sprecher entlarvend, ausgebreitet vor ihm lagen. Ihm gelang es ebenso wie Cathleen Baumann, aus Figur und Sprache zusammen mehr zu machen als die einfache Summe aus Spielen und Sprechen. Hier wurde das Thema Palmetshofers zur theatralen Wirklichkeit: der Mensch ist das Tier und umgekehrt.

Die anderen Figuren, von den Choristen wechselweise dargestellt, gewannen kaum Format, was weniger an den Schauspielern als am zu zaghaften Zugriff der Regie lag. Die Gewaltorgie im Haus des Direktors, präsentiert als gemeinsames Bierzeltgegröle, prägte sich ein, ebenso die Vergewaltigung als ein kollektives Verbrechen. Insgesamt aber entstand zu wenig Assoziationsraum für einen Text, dessen messerscharfe Gesellschaftsanalyse wie ein Spiegel ist, durch den man hindurchtreten möchte, um wieder Luft zu bekommen.

Heiß und zerstörerisch
Der Chor bei Palmetshofer ist mehr als nur Masse, die chorisch denkt und spricht. Er handelt durch Sprache. Lediglich chorisches Sprechen in mehr oder weniger aussagekräftigen Arrangements muss flaches Beiwerk bleiben in einer extrem zugespitzten Geschichte.

Am Schluss steht Erika mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Kühlschrank, der vorher eiskalter Zufluchtsort und Gefängnis gewesen war, und es brennt, heiß und zerstörerisch. Sie spricht zum ersten Mal von der Frau, die sie ist, und scheint dennoch das unerfüllte Wesen zu bleiben, das zwar töten, aber nicht aufstehen kann von ganz unten, mit erhobenem Kopf.

Raus aus der Unterschicht.

 

tier. man wird doch bitte unterschicht (UA)
von Ewald Palmetshofer
Regie: Simone Blattner, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Nadine Grellinger.
Mit: Cathleen Baumann, Picco von Groote, Sophia Löffler, Stefko Hanushevsky, Thomas Eisen, Thomas Braungardt, Albrecht Goette.

http://staatsschauspiel-dresden.de

 

Alles über Ewald Palmetshofer im nachtkritik-Lexikon. Zwei mal war der Zweiunddreißigjährige schon für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert: 2008 mit hamlet ist tot. keine schwerkraft und 2010 mit faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. Und hier spricht Palmetshofer selbst.

 

Kritikenrundschau

Palmetshofer vermeide dieser auch in "tier. man wird doch bitte unterschicht" "sozialkritische Eindeutigkeiten und politische Inkriminierungen, um lieber Fragen, Zweifel, Erzählfragmente zu einem kunstvoll raffinierten Textgeflecht zu verknüpfen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (13.9.2010). Indem sich Simone Blattner jedoch "durch das platte Einheitsbühnenbild derart auf ein ländliches Sauf- und Schunkelklischee festlegt", werde die Geschichte "kleiner gemacht, als sie geschrieben ist". Die "Tragödie des missbrauchten Kindes, das nicht aus seinem Milieu herausfindet und, ständig konfrontiert mit der eigenen Ohnmacht und der Macht der anderen, von Selbsthass, Ekel und Rachegedanken zerfressen wird", ziele eigentlich auf "eine größere, allgemeinere Umsetzung". Immerhin blättere das "leidenschaftliche Ensemble" Palmetshofers "komplexe Partitur" "so komödiantisch schwungvoll wie bitterbös' gallig auf" und bringe sie "zum Klingen, Singen, Strahlen". Cathleen Baumann gebe ihrer Erika "die kalte Verzweiflung der zu lang unterdrückten Kreatur und die überzeugende Härte der zu oft gescheiterten Freiheits-, Wärme- und Glückssucherin".

Es brauche "keine Sarrazin-Debatte, um zu begreifen", dass "generalisierende Zuschreibungen" wie "die Unterschicht" "falsch, grob und zynisch sind", meint Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (13.9.2010). Es brauche aber einen wie Palmetshofer, "um zu erahnen, dass es nicht nur Denk- und Wahrnehmungsfaulheit", sondern "unser Sprechen, (...) das menschliche Welterfassungsbesteck" ist, "das uns in die Ecke der billigen Verallgemeinerungen treibt". Deshalb kämpfe sich Palmetshofer durch die Sprache, "um Wege zum Andersdenken, zum Anderssprechen zu finden". Diesmal begegne man bei ihm weniger "philosophiegesättigten Monologblöcken" als "einer radikal rhythmisierten Sprache, die mit jeder Silbe gegen ihren Zerfall anrennt". Es gehe immer so um Armut, Gewalt und Missbrauch, "dass vor allem das Sprechen davon die Figuren in Konflikte stürzt" - "ein böses, scharfes Stück Sprach-, und Gesellschaftskritik, das nicht so tut, als ließe sich von der Bühne herab geradewegs Sprach- und Gesellschaftskritik betreiben". Blattner wolle ihm allerdings das Gegenteil beweisen und vereindeutige alles in einem "Stück saftiger Sozialkritik, das die Zuschauer zwingen will, auf 'die da unten' zu schauen."

"Wie stellt man die Realität dar, ohne sie auszustellen? Wie macht man das sogenannte Prekariat (...) zum Thema, ohne sich in Sozialkitsch zu verstolpern?", fragt auch Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (13.9.2010). Die Schauspieler könnten die "Unterschicht" "nur spielen, imitieren, nachmachen". Was in Dresden so aussehe: Bierkrüge hoch, Hüfte vorgeschieben, laut sprechen - "So lange, bis man bei jener soziologischen Recherche angekommen ist, die das Stück ankreidet." Die Inszenierung kapituliere letztlich "vor der Größe dieses Stücks, die gerade in dem Gegenteil von Randgruppenromantik liegt". Auch wenn immer dann "durchaus lohnendes Theater" daraus werde, wenn sich Blattner "von der psychologisierenden Darstellungs löst": "Die im Chor gesprochenen Abhandlungen (...) erzwingen Gänsehaut, die Choreografie ist lückenlos. Hätte man weniger versucht, 'echt' sein zu willen, es wäre großes Theater dabei herausgekommen."

Interessant erscheint Bistra Klunker von den Dresdner Neuesten Nachrichten (13.9.2010) die "eigenwillige Mischung aus 'volkstümlich' und 'artifiziell'", die einem im Bierzelt-Bühnenbild präsentiert werde. Das Ganze sei "mehr Sprach- als Schauspiel". Der Regie gelinge es mit dem "freifachen Figuren-Kern" Erika/Direktor/Sohn "am besten, sozialkritische Assoziationen in Bühnensprache umzusetzen". Ob dieser Text tatsächlich "gut zu hören" ist, wie die Dramaturgen meinen? "Ja, irgendwie schon - auch wenn er (...) eine Idee zu oft gebrüllt wurde, die Chor-Auftritt recht eintönig wirken und pfiffige Regieeinfälle für eine 'Übersetzung' in Bilder vermissen lassen." Schließlich könne Palmetshofers Sprache "aus Stottersätzen Bilder malen", habe einen "mitreißenden Rhythmus" und überrasche "mit konsequentem Weiterdenken von Klischees". Auch "poetische Kreationen" seien zu entdecken, ebenso wie des Autors "Hang zum Philosophieren". Und selbst wenn man den "tiefen Sinn" seiner Überlegungen nicht verstehen wolle, könne man "trotzdem Spaß an dieser Realität vorgaukelnden Wortspielerei" haben.

Palmetshofer möchte hier nach Ansicht Till Brieglebs von der Süddeutschen Zeitung (15.9.2010) "gesellschaftliche Problemzonen der Gegenwart befühlen, wählt dafür aber eine Geschichte über Rache und Zorn von antiker Grundsätzlichkeit". Blattner mache aus der "Textcollage aus pseudowissenschaftlicher Poesie, Reflexionen über das Tierische im Menschen und Handlungsfetzen aus verschiedenen Zeitfenstern der Tragödie" eine "Wirtshausveranstaltung mit alkoholfreiem Bier", bei der Erika als "Magd des gelebten Zorns" einem "Chor der personifizierten Verdrängung" gegenübersteht. Obwohl das Stück "kunstvoll montiert" und von der Regie "konsequent ausagiert wird", hinterlässt das Resultat bei Briegleb "das leichte Unbehagen, das oft entsteht, wenn Intellektuelle sich über die niederen Leut hermachen". So entwickle "die Lokalisierung des latent Brutalen in den Bier- und Heizungskellern der 'Unterschicht' (...) schnell etwas Denunziatorisches", und da Palmetshofer die Unterschicht im Chor arrangiert, nähere er sich "manchmal gefährlich der moralischen Verallgemeinerung". Dennoch: "ein diskussionswürdiger Versuch, mit struktureller Gewalt in jenen Gegenden der Gesellschaft umzugehen, wo man Stücke wie die von Palmetshofer nicht versteht".

 

Kommentare  
Palmetshofer-UA in Dresden: von Herrchen und Hunden
"Messerscharfe Gesellschaftskritik , zu klein gewählter Rahmen ??"

Nun, ich sah das Stück, das gestern zum zweiten Mal gegeben wurde,
und kann mich, die versammelten Kritiken hier lesend, im wesentlichen
den Ausführungen Herrn Brieglebs anschließen.
Erika als "Magd des gelebten Zorns" , "eine Geschichte über Rache und
Zorn von antiker Grundsätzlichkeit": ja !

Als Gesellschaftsanalyse taugt das ganz gewiß keinen Funken, eher
schon als Befragung der Möglichkeit einer solchen und wie "man" die sich so vorstellt.
Denn freilich sind die "Kernphysiker des Sozialen" ein provozierendes Bild von "Vernaturwissenschatlichung der Sozial-
wissenschaften" (diese Tendenzen, bzw. die BILD-Redeweisen in der-
lei Richtung gibts ja sehr wohl), und der Chor fungiert demgemäß
nicht nur als "Instrument der personifizierten Verdrängung", und es wird da auch nicht nur "Unterschicht" verortet; das Gegenspiel ist, daß dort auch die "Wissenschaft", die öffentliche Sprache verortet wird, daß der Chor halt aus einem "Gesellschaftspool"
kommt.

Mich überzeugen vielmehr gerade die Bilder vom Tier als "Nullstelle im Menschen", mich überzeugt das Beobachtertum dieser
merkwürdigen Fahrenheit 451-Gelbmanngruppe nicht, ja, wie ihr Forschungsgegenstand eingeführt wird: Schnell ist der Verdacht da,
"man" sagt hier "Tier" und "Unterschicht", und schon ist die geneigte Leserin, der geneigte Leser beim Googeln fündig: das Stück kommt dann in der "Tier-Top-Ten" vor und in der "Unter-
schichten-Top-Ten": dabei hätte es eingangs auch heißen können:
Dies ist Butter, dies ein Nagel, dann folgen Konkretisierungen zu Nagel und Butter: letztlich wird versucht, die Butter als Hammer für den Nagel zu benutzen, weil "man" prüfen wollte, ob die Butter sich auch dazu eignet, Nägel in Wände zu hauen: man stellt fest, daß es so nicht läuft; das kommt beim Stück rum im Grunde.
Hätte man nur sogleich, als die Butter noch fest und aus dem Kühlschrank kam, bevor der zu brennen begann, zu Beginn das Paketchen Viertelpfund angesetzt, aber so: Butter ungeeignet.

Täglich belästigt nun das Vergewaligungs- und Dorfgesellschaftsrandstandopfer der allein im Haus verbliebene
Hund; der wird offenbar täglich sehr rusch angefaßt, bleibt geil und lernt nicht: Palmetshofer weiß zu erklären, daß nur Menschen sich entwickeln: das Tier, diese Hunde, dieser Hund: eine Nullstelle so, im Menschen erst recht.
Nun, einem Hund, der so sträflich allein gelassen wird, bringe ich da schon ein gewisses Verständnis entgegen ...; freilich entwickeln sich auch Tiere: ich sehe das sehr deutlich schon in unserem Stadtteilwald, wie Wildtiere da immer mehr vorrücken, bekannt sind die rumänischen Stadtbären, die beinahe schon mit dem Einkaufswagen durch Penny laufen, und in Dresden faszienieren die Spatzen beim Bäcker "Richter" gegenüber der neuen Shopping-Mall.
Gerade diese ganze pseudowissenschaftliche Brambadisiererei nimmt
dem Stück, glaube ich, auch die Möglichkeit, in einem anderen Inszenierungsrahmen viel weiter auszugreifen: das Wort "Zwang" liegt in der Luft, das Dirk Pilz in seiner Kritik auf die Inszenierung bezog, ich sehe diesen Zwang eher im Text selbst angelegt, bezweifle die teilweise doch sehr hoch gelobte Qualität
dieses Textes, der nicht umsonst in der Inszenierung viel zu oft-
in der Tat- gebrüllt wurde.
Dieser merkwürdige Ort: Bierzelttische in U-Form gruppiert, zum Tresen hin offen, drumherum ein weiteres U mit Zuschauern, ein Ort,
wo nur noch die Geißlerin ihr Geschäft offen und ihr Auskommen hat,
ein Ort mit so vielen Gästen auf der anderen Hand; selten gab es so viele alkoholfreie Biere der "Mittelschicht", die parallel zueinander schal und schaler wurden ..., ein INSTALLATIONSORT,
ein RETORTENORT, ein LABORORT !!
Was ich damit sagen will, eigentlich derjenige Ort, der wohl auch mir vorschweben würde als genuiner für das Palmetshoferstück:
Gelegentlich wird der eine oder andere aus dem "inneren U" angebrüllt: Herrchen: Gelbrock, ich: Hund. Ich, auch sonst Hund: weil, Tiere entwickeln sich nicht, und am wenigsten ja das Publikum an jenem Bierzelt-U: siehe das schal werdende Bier.
Schal auch der spätere Applaus ..
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