Spiel mir das Lied vom Südpol-Tod

von Rainer Petto

Saarbrücken, 12. September 2010. Was war das? Die Aufführung eines Stücks von Vladimir Nabokov oder ein Country-Song-Konzert mit Zwischentexten von Nabokov und anderen?

Nach unvorstellbaren Strapazen erreicht der Engländer Robert F. Scott mit seiner Expedition am 18. Januar 1912 den Südpol – um festzustellen, dass er der Verlierer ist im Wettlauf mit dem Norweger Roald Amundsen, der hier vier Wochen zuvor die Fahne seines Landes aufgesteckt hat. Die geschlagene Mannschaft macht sich auf den Rückweg, wird aber nie mehr nach Hause kommen. Die Männer verhungern und erfrieren in der antarktischen Schneewüste. Von ihren letzten Momenten handelt das Stück "Der Pol", das Nabokov 1923 in Berlin geschrieben hat.

Der lange Weg zu Nabokov

Als der Saarbrücker Regisseur Christoph Diem und der Dramaturg Holger Schroeder sich dem "Pol" näherten, wussten sie, dass da schon ein andrer dran gewesen war: Klaus Michael Grüber hat das bis dahin ungespielte Stück 1996 an der Berliner Schaubühne herausgebracht, mit Bruno Ganz als Kapitän Scott; danach ist es wieder von den Bühnen verschwunden. Was dem Saarbrücker Team aber erst bei der konkreten Arbeit klar geworden zu sein scheint: Das in jeder Hinsicht schmale Werk reicht kaum für einen ganzen Theaterabend.

Also bastelten sie aus Materialien wie Scotts Tagebüchern und einem Hörspiel von Wolfgang Weyrauch aus den 50er Jahren eine Art Vorspiel, das die Geschehnisse vom Erreichen des Pols bis zum letzten Tag darstellt. Das geht chronologisch nahtlos in das Nabokovs Drama über, die Stelle wird durch Projektion von Autorname und Stücktitel markiert. Außerdem wurde der Text – wie schon bei Grüber, aber ganz anders – musikalisch aufgepeppt. Allerdings: Was heißt hier "Vorspiel"? Es dauert eine von insgesamt anderthalb Stunden, bis wir zu Nabokov gelangen.

Verpatztes Heldentum

Vier Gestalten tappen auf die Bühne, in authentischer Wintersportbekleidung aus der Vor-High-Tech-Faser-Epoche (Bühne und Kostüme: Karina Nölp). So weit alles ganz naturalistisch, auch die Maskenbildnerin hat ganze Arbeit getan, allen sind Bärte gewachsen, die Gesichtshaut ist verbrannt. Die Expedition betritt einen weiß ausgeschlagenen Raum ohne Requisiten, außer einem schneeweißen Sitzsack, so wie auch die Sitzsäcke fürs Publikum weiß ummantelt sind. Aber es steht da eine Menge anderes Zeug auf der engen Bühne, das eigentlich nicht zu einer Südpol-Expedition gehört: Mikrofonständer, Musikinstrumente, Soundtechnik. Für die Schauspieler bleibt da nicht viel Raum.

derpol-3Nabokovs selten gespieltes Stück "Der Pol" am Staatstheater Saarbrücken © Björn Hickmann.

Schon beim Auftritt der Darsteller gibt es vereinzelte Lacher. Aber das Lachen wird sich, trotz gelegentlichen Aufflackerns, nicht durchsetzen – man weiß bis zum Schluss nicht so recht, was dieser Aufführung gegenüber die angebrachte Haltung wäre. Bei aller Tragik absurd und lächerlich ist ja schon das verpatzte Heldentum von Scott und seinen Mannen, aber wenn sie in Saarbrücken nun mit Gitarren die Bühne betreten, diese Bühne eine Showbühne ist und ihre Finger mit dicken Fellhandschuhen bewehrt die Saiten anschlagen – dann ist das vor allem komisch. Die existenzielle Situation, in die sich die Männer hineinmanövriert hatten, sieht hier aus wie eine Bühnenshow unter dem Motto "Antarktis". Da mag es ihnen noch so dreckig gehen, ihre Worte mögen verzweifelt, ihre Blicke ersterbend sein, ein großer Unernst schwebt immer über der Szenerie.

Konzert mit Zwischenansagen

Zunächst einmal nehmen die klammen Gestalten Aufstellung hinter den Mikroständern und singen einen Song, Death take your fiddle von der britische Rockband Spiritualized, und das ist nur der erste von acht Songs, die über den Abend verteilt sind. Es sind Titel von britischen, US-amerikanischen und skandinavischen Bands und Singer-Songwritern, meist Richtung Country-Rock, und sie handeln von Tod, Einsamkeit, Verzweiflung und ähnlich düsteren Dingen. Durch die hohe Schlagzahl der Songs wirkt der Stücktext beinahe wie eine Art Zwischenansage – als warte man auf den nächsten Musiktitel und der Band gerate die Ansage zu lang. Ein richtiges Konzert ist es trotzdem nicht, keiner traut sich nach den Songs zu klatschen.

Im ersten Teil des Abends haben die Schauspieler eher nüchterne Protokollsätze zu sprechen. Scotts Tagebuchnotizen sind auf die vier Mann verteilt, und sie versuchen, ihnen inmitten der kargen Schnee- und Mikrofonlandschaft die nötige Dramatik zu geben, da hat einer einen rechthaberischen Ausbruch, da dreht ein anderer durch. Im Schlussdrittel dann, also bei Nabokov, haben wir es mit reimlosen Jamben zu tun (Übersetzung aus dem Russischen: Rosemarie Tietze). Hier erhebt der Text sich übers Faktisch-Protokollierende, formuliert Sehnsüchte, Fieberträume, Todesgedanken.

Käpt'n mit Mutti-Ton

Gertrud Kohl als Kapitän Scott versucht, den hohen Ton durch eingeschobene "Mmhs", "Ehs" und "Achs" zu durchbrechen, und nachdem sie bis dahin die körperliche und seelische Erstarrung des Expeditionsleiters verkörpert hat, schlägt sie jetzt einen besorgten Mutti-Ton an. Johannes Quester ist der im Prinzip gutmütige, ruhige, Scott ergebene Wilson. Boris Pietsch versucht aus seiner Rolle des sterbend zurückgelassenen, aber sich noch als Toter einmischenden Evans schauspielerisch das meiste herauszuholen, aber wirklich ergreifend kann es bei der vorgegebenen Stimmungslage nicht mehr werden. Oliver Ziegler, der den Abend gekonnt musikalisch leitet, wird als Darsteller klugerweise sehr zurückgehalten.

Westernsongs am Südpol? Das geht stimmungsmäßig erstaunlich gut zusammen, der schleppende Rhythmus, die melancholischen Texte, der ehrliche Sound elektrischer Gitarren. Die Wieder-Wiederentdeckung eines Bühnenstücks von Nabokov? Kann man vergessen. Kritik an Extremsport mit inbegriffenem Heldentod? Nicht wirklich. Dennoch war's ein stimmiger Abend mit einem gewissen, nicht unangenehmen elegischen Grundton. Das leicht Unausgegorene des Unternehmens passt gut zum Charakter der Sparte 4, der Experimentierbühne des Saarländischen Staatstheaters. Wir haben gute Songs kennen gelernt und ein erstaunlich musikalisches Ensemble erlebt. Nur die Zwischentexte, die waren ein bisschen zu lang.

 

Der Pol
von Vladimir Nabokov
Aus dem Russischen: Rosemarie Tietze
Regie: Christoph Diem, Bühnenbild und Kostüme: Karina Nölp, Musikalische Leitung: Oliver Ziegler, Dramaturgie: Holger Schröder.
Mit: Gertrud Kohl, Boris Pietsch, Johannes Quester, Oliver Ziegler.

www.theater-saarbruecken.de

 

Auf der Saarbrücker Experimentierbühne Sparte 4 wurde im November 2009, in der Regie von Antje Thoms, auch Jelineks Kontrakte des Kaufmanns aufgeführt.

 

Kritikenrundschau

Christoph Schreiner (Saarbrücker Zeitung, 14.9.2010) hat einen "schlüssigen Theater- & Liederabend" gesehen. "Dafür sorgen – das ist keine Selbstverständlichkeit – die Darsteller Gertrud Kohl, Boris Pietsch, Johannes Quester und Oliver Ziegler (...) – auch wenn sie (ausgenommen die fabulös immer neue Facetten entfaltende Gertrud Kohl) nicht in erster Linie schauspielerisch, denn musikalisch glänzen." Es gehöre dabei zu "den Qualitäten von Diems protokollartiger Szenenfolge, dass sie das in jeder Hinsicht Existenzielle ihres Themas mitunter im Zeichen äußerster Lakonie noch situationskomisch aufbricht, ohne ins Gaghafte abzurutschen". Wie zweigeteilt der Abend ist, erweise sich aber "an der textlichen Schnittstelle zwischen Scotts (von allen vier gesprochenen) Tagesprotokollen und Nabokovs kurzer Geschichte vom Sterben, die den zweiten Teil des Abend einnimmt: Auf einmal fällt hier – und dann immer wieder – das Wort Ich."

 

Kommentare  
Der Pol in Saarbrücken: Hinweis
und auch Zellers "Kaspar Häuser Meer" fand in der Sparte4 statt: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=2507&Itemid=40
Der Pol in Saarbrücken: so geht es nicht
Irgendwie hat man den Eindruck, der Krtitiker weiß auch nicht mehr, was er eigentlich vom Theater will. Gute Songs habe er kennengelernt und über ein musikalisches Ensemble muss er sich in Saarbrücken heutzutage wohl auch schon freuen. Dann hat er es mit reimlosen Jamben zu tun, und schon assoziiert er Fieber und Sehnsucht. Das sind vor allem die erwähnten Leistungen eines Theaterabends, der sich immerhin mit einem Stück von Nabokov auseinandersetzt. Liebe Nachtkritik, so geht es nicht, da muss ich mir bald leider doch wieder die Printmedien kaufen, um intellektuell einigermaßen gefordert zu werden. (...)
Der Pol in Saarbrücken: ironische Lesart
Lieber Kümmerlich,
man kann das Ende der Kritik durchaus ironisch lesen. Immerhin wird der Stücktext, die vermeintliche Hauptsache, dort als "Zwischentext" bezeichnet. Davon ist ja auch bereits vorher die Rede (der Stücktext wirke "beinahe wie eine Art Zwischenansage").
Ich würde die Kritik also in der Konsequenz so lesen und finde darin gar keine Unentschiedenheit: Als Konzert funktioniert der Abend gut. Die "Zwischentexte" (also Nabokov und Co.) waren zu lang bzw. geraten in den Hintergrund. So löst der Abend zwar überhaupt nicht das ein, was er verspricht. Was aber stattdessen geboten wird (das Konzert) hat durchaus seine Qualitäten.
Dass die Nabokov-Auseinandersetzung (die Sie ja auch einfordern) im Grunde nicht stattfindet, wird im letzten Absatz deutlich gesagt: "Die Wieder-Wiederentdeckung eines Bühnenstücks von Nabokov? Kann man vergessen. Kritik an Extremsport mit inbegriffenem Heldentod? Nicht wirklich."
Der Pol in Saarbrücken: hingerotzt
@ anne peter
Ach ja, "kann man vergessen" habe ich überlesen! Das ist natürlich eine profunde Argumentation. Ich habe die Nase voll, von solchen dahingerotzen Aussagen eines Kritikers, die nicht mehr sagen, als dass man es vergessen kann. Was soll ich damit? Ganz ehrlich, was sagt das über einen Theaterabend aus?

(Nun, werter Herr/Frau Kümmerlich, da haben Sie recht: die profunde Argumentation ist wünschenswert. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und lassen Sie uns, in einer profunden Argumentation, doch wissen, was Sie von dieser Inszenierung halten. Denn das bloß "Dahingerotzte" lässt auch Kommentare recht kümmerlich erscheinen. Mit Grüßen: die Redaktion/Dirk Pilz.)
Der Pol in Saarbrücken: man muss nicht immer konstruktiv sein
Ich habe den Abend ja leider nicht gesehen! Ich interessiere mich für die Aufführung, weil ich den Pol für aufführungswert halte. Ich dachte, die profunde Argumentation überlasse ich ihnen. Ist das nicht ihr Job? Es ist übrigens ganz legitim, hier auch mal seinen Unmut rauszulassen. Man muss nicht immer konstruktiv sein, wenn einem etwas auf die Nerven geht. Und das Niveau der Kritik geht mir hier - und auch anderswo - so manches mal auf die Nerven.
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