Am Abgrund der Resterampe

von Ulrich Schmidt

Bielefeld, 17. September 2010. Ach, die Geschäfte, sie laufen nicht mehr: An seinem 60. Geburtstag will der Teppichhändler Hartmut Wildermann sein Unternehmen an den Ziehsohn Sven übergeben. Doch der lehnt ab, denn er weiß, dass die fetten Jahre längst vorbei sind. Nach der Wende in den Westen gekommen, hatte er mit seinen Russischkenntnissen lukrative Verhandlungen in den einstigen Sowjetstaaten ermöglicht. Wildermanns Ziehsohn wurde Sven aber auch, weil Wildermanns Ehe kinderlos blieb und seine Frau Maria den Jungen zum Liebhaber machte. Nun aber ist Sven in Nadine verliebt, die wiederum – Parallelität der Verhältnisse – ihrerseits vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen.

Krise allerorten also, wirtschaftlich wie privat, die Björn Bicker in seinem neuen Stück "Mein Teppich ist mein Orient" walten lässt. Und zuspitzt: Als Sven die Geschäftsübernahme ablehnt, erleidet Wildermann einen Herzinfarkt, den er nicht überlebt. Jetzt tritt der Insolvenzverwalter Herr Yildiz auf, der den Laden "geordnet" auflösen soll und wird. Herr Yildiz hat türkische Vorfahren, ist freilich deutscher als mancher Deutsche.

Afghanistan und das Geld

Das wäre an und für sich ein guter Plot: Der Deutsche richtet seinen Laden zugrunde und ein assimilierter Türke übernimmt die Verschrottung. Leider bleibt die Idee in Ansätzen stecken. Das beginnt damit, dass Herr Yildiz zu Beginn das Publikum anspricht und erklärt, dass er später noch einmal auftritt. Viel zu ausführlich erklärt er, wie er wurde, was er ist, nur um später seinen Assimilationsdrang in anderen Worten zu wiederholen.

Auch der Teppichhändler darf seine Genese als Geschäftsmann aufrollen: Als Arabistik-Student reiste Hartmut mit Maria auf einem obligaten Hippietrip nach Afghanistan, entdeckte dort das Geld als wahre Bestimmung und verscherbelte von nun an das bewunderte Kulturgut – Schmuck und Teppiche – in Europa.

Auf Platten geklebte Teppichderivate

Für die unendliche Geschwätzigkeit dieses Stücks findet Regisseur Orazio Zambelletti im Theater am Alten Markt in Bielefeld kein Konzept. Darunter leiden die Schauspieler, die sich nicht nur Sätze, sondern gelegentlich nur einzelne Worte als Dialog zuwerfen. Ein Spiel entwickelt sich so nicht, zumal die Regie Ausdruck mit Lautstärke verwechselt: Bei Erregung drehen alle Akteure auf.

Auch gelegentliche Soli, wie der überzeugende Auftritt Harald Gieches als Teppichhändler, der seine Geburtstagsrede mit einem Popsong beginnt, verpuffen in Jürgen Höths minimalistischem Bühnenbild: Der Raum bleibt leer bis auf einen Teppichboden, dessen Hässlichkeit sich erst zum Schluss erschließt. Als Yildiz den Ausverkauf anleiert, fragt man sich bei den auf Platten geklebten Teppichderivaten, mit welchen Exponaten Wildermann seinen Traum eines Orientteppichmuseums eigentlich verwirklicht hätte.

Und sonst? Bicker reißt Themen an, ohne sie auszuführen. Verödung der Innenstädte, Untergang des Mittelstands, Geburtenrückgang? Verschenkt. Und die Regie übt sich in Zurückhaltung, statt beherzt einzugreifen. So erfasst die Krise auch das Publikum: lustloser Beifall.

 

Mein Teppich ist mein Orient (UA)
von Björn Bicker
Regie: Orazio Zambelletti, Bühne und Kostüme: Jürgen Höth, Dramaturgie: Bernhard Krebs.
Mit: Harald Gieche, Therese Berger, Georg Böhm, Nicole Lippold, Stefan Imholz.

www.theater-bielefeld.de

 

Alles zu Björn Bicker auf nachtkritik.de im lexikon.

 

Kritikenrundschau

In der Neuen Westfälischen (20.9.2010) schreibt Johannes Vetter: "Fünf verdiente Mimen des Bielefelder Theaters, unter denen Stefan Imholz herausragte; ein sichtlich aufgeschlossenes Publikum, sensibilisiert durch die Einlassungen eines Ex-Bundesbank-Vorstandes. Doch wie in Sprintwettbewerben vereitelt auch im Theater ein misslungener Start alle Siegeschancen. Der Prolog des Herrn Yildiz (Stefan Imholz), obwohl mimisch und gestisch recht effektvoll, erwies sich als verunglücktes Entrée: Über den 'Migrationshintergrund' des deutschen Staatsbürgers hätte knapper und pointierter monologisiert werden können, und es stellt sich die Frage, ob dem Stück ohne Prolog Entscheidendes gefehlt hätte." Doch auch wenn Stefan Imholz das Glück habe, "in einer Rolle zu glänzen, die ihm auf den Leib geschrieben ist", bleibe die Inszenierung ansonsten inkonsequent.