Abendklang und Wolgastrand

von Hartmut Krug

Senftenberg, 17. September 2010. Vor dem Theater erhebt sich ein russisches Dorf mit Holzhäusern und einem mit Zwiebeltürmen versehenen Festhaus. Bedienstete in russischen Kostümen laufen herum, und in einer Feldküche auf dem Vorplatz, in einem Kiosk im unteren und einem Zarenzimmer im oberen Theaterfoyer werden allerlei russische Speisen und Getränke angeboten. Schließlich ist ein Glückauffest in Senftenberg ein lang andauerndes Vergnügen: Von achtzehn Uhr bis nach Mitternacht geht es in drei Theateretappen, unterbrochen von langen Pausen. Drei der insgesamt sieben Inszenierungen kann der Zuschauer an einem Abend sehen, denn im Mittelteil laufen vier von ihnen parallel.

Ein russisches Wortungetüm steht als Motto über dem 7. Glückauffest: "Dostoprimetschatelnosti" – Sehenswürdigkeiten. Die Glückauffeste in Senftenberg, bei denen an einem Abend zahlreiche Stücke zu einem Thema gezeigt werden, sieht das Publikum mittlerweile als so sehenswert an, dass in diesem Jahr bereits 12 der 15 angesetzten Vorstellungsabende vor der Premiere ausverkauft waren. Obwohl es doch nur russische Stücke sind: Nach der Wende wurde der Blick zunächst in unbekannte Theatergefilde gelenkt, man holte Stücke der klassischen Moderne nach, spielte Nach-Wende- Befindlichkeits-Dramatik, entdeckte die Aktualität mancher Klassiker und setzte sich zuweilen im Rückblick mit dem realen Sozialismus auseinander.

Zwischen den Akten: Tee mit Warenje, Kwas und Wodka

Ein rein russischer Theaterabend mit fünf Stücken und einem Liederabend hätte es an der Neuen Bühne, die einst Theater der Bergarbeiter hieß und auf Befehl eines sowjetischen Kulturoffiziers nach dem Krieg gegründet wurde, nach der Wende bei einem Publikum schwer gehabt, das zu DDR-Zeiten oft bis zum Überdruss mit verordneter sowjetischer Dramatik versorgt worden war. Doch nachdem im vergangenen Jahr eine Schauspielerin, die eine von Tschechows "Drei Schwestern" spielen sollte, wegen eines Fernsehserien-Angebots vertragsbrüchig geworden war und das Theater verlassen hatte, musste die Inszenierung verschoben werden. Nun steht Tschechows Stück am Anfang und im Zentrum dieses russischen Theaterabends.

Der große Saal wurde von Bühnenbildner Tobias Wartenberg zum Wohnzimmer umgebaut. In der Mitte ein kreuzförmiger, großer Tisch, das Publikum sitzt an allen vier Seiten um ihn herum und kann zwischen den Sitzen ablegen, was ihm zwischen den Akten des pausenlosen dreistündigen Abends serviert wird: Tee mit Warenje, Kwas und Wodka.

Eine russische Seele zwischen Komik und Sehnsucht

Intendant Sewan Latchinian hat nicht versucht, Tschechows Stück neu zu erfinden, sondern entwickelt es aus der Bewegung der in ihren Sehnsüchten feststeckenden Figuren. Sein Frauentrio ist auch äußerlich sehr unterschiedlich. Neben Irina (Maria Prüstel), einer kleinen Blondine ganz in Weiß, die ihre Lebenslust in zappeliger Munterkeit auslebt, wirkt die kräftige Eva Kammigan als Olga eher resolut und realistisch, während die schwarz gewandete Mascha der Juschka Spitzer in ihrer Traurigkeit schier ertrinkt. Nach dem Erscheinen des Batteriechefs aber blüht sie auf, und wie Spitzer diese Mascha vom Trauerkloß in eine Frau mit neuer Liebe und Lebenslust verwandelt, ist berührend anzusehen.

Ohnehin zeigt Latchinians Inszenierung wenig traurig russische Seele, sondern führt sehr direkt Menschen zwischen Komik und Sehnsucht, Stagnation und scheiterndem Aufbruch vor. Wolfgang Schmitz lässt den Bruder der drei Schwestern in seiner anschwellenden Körperfülle resignieren, Inga Wolff strafft sich als seine Verlobte und spätere Frau ganz beiläufig in die Konzentration einer Herrscherin im Haus hinein (wie viel plakativen Aufwand treibt dagegen Frank Castorf in seiner Inszenierung, um diesen Vorgang herauszuarbeiten).

Bei Latchinian sind alle Figuren im guten Sinne einfach und schmal konturiert. Wenn Soljonin und Irina über Liebe reden, tanzen sie miteinander, sind sich nah und doch fern, und wie der nickelbebrillte Mann Maschas von sich erzählt, enthüllt zugleich die Komik wie die Trauer seiner Figur. Beim Fasching finden sich alle in einer herrlichen Szene bunt kostümiert auf dem Tisch zum Reisespiel nach Moskau zusammen – und dieser lustvolle Höhe- und Hoffnungspunkt wird zum deutlichen Beginn eines Scheiterns aller Lebensentwürfe. Wenn auch im letzten Teil die Bühnenkostruktion zu einem umständlichen Auftritt-Abgangs-Spiel verleitet und der Abend etwas seine Spannkraft verliert, ist dies doch eine ungemein sehenswerte Ensemblearbeit.

Happy End mit Rückverwandlung

Für den zweiten Durchgang entschied ich mich für Sergej Medwedjews "Die Kröte", einer Groteske, in der sich eine von ihrem nur an Fußball interessierten Mann schlecht behandelte Frau, nachdem er sie als Kröte bezeichnet hat, in eben eine solche verwandelt. Alle Besucher, ob Mutter, Arzt oder Polizist, gehen grob und bösartig mit der nur noch Quakenden um. In diesem im Juni in Tübingen erstmals auf deutsch gespielten russischen Gegenwartsstück sind alle Menschen mit ihrem Leben unzufrieden. Doch der Ehemann beginnt, weil er jetzt mehr auf seine Frau achtet, achten muss, sie genauer wahr zu nehmen und es kommt zu einem Happy End mit Rückverwandlung. Christoph Schroth hat diese Groteske nicht spielerisch überdreht, sondern mit einem sichtlich animierten Ensemble als eine kurios-realistische Begebenheit inszeniert, als Menschen-Theater.

Kurz vor Mitternacht dann "Na Sdorowje!", ein Programm mit russischen Liedern. Dabei wurde viel geprostet und getrunken, das Publikum klatschte nicht nur mit, sondern sang auch mit und ließ sich zu Sportübungen animieren. Das Trio Wallahalla, das rund ein Dutzend unterschiedlichste Instrumente anstimmte, trieb die Schauspieler mächtig an, und so wurde es mit Abendklang und Wolgastrand, mit Wiegenlied und Gesang zu Gott ein heftig bejubelter Abschluss eines gelungenen 7. Glückauffestes.

7. Glückauffest
Drei Schwestern
von Anton Tschechow
Die Kröte
von Sergej Medwedjew
Zwanzig Minuten mit einem Engel
von Alexander Wampilow
Der Selbstmörder
von Nikolai Erdman
Nächtliche Stimmen
von Nikolaj Schmeljow
Na Sdorowje!
ein Programm mit Liedern

Regie: Sewan Latchinian, Christoph Schroth, Esther Undisz, Justus Carrière, Peter Schroth, Bühne: Tobias Wartenberg, Stephan Fernau, Helga Leue, Kostüme: Maria Frenzel, Helga Leue Dramaturgie: Gisela Kahl, Igor Holland-Moritz, Live-Musik: Wallahalla.
Mit: Marco Matthes, Hanka Mark, Catharina Struwe, Daniel Borgwardt, Bernd Färber, Vivian Saleh, Heidrun Gork, Ulrich Münzberg, Frank Köckritz, Reino Pösch, Wolfgang Schmitz, Eva Kammigan, Juschka Spitzer, Maria Prüstel, Till Demuth, Alexander Wulke, Roland Kurzweg, Heinz Klevenow, Lutz Schneider, Sibylle Böversen, Benjamin Schaup, Friedrich Rößiger, Mirko Warnatz, Falk Schuster, Ursula Memmert-Gerlach, Ingo Zeising, Inga Wolff.

www.theater-senftenberg.de

 

Mehr zur Neuen Bühne Senftenberg? Im vergangenen Jahr feierte das 6. Glückauffest Christian Dietrich Grabbe, und im Juli sorgte Senftenbergs Intendant Sewan Latchinian mit einem Patenmodell für eine angeregte Diskussion in den Kommentaren.


Kritikenrundschau

Angetan berichtet Martin Steffke in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (20.9.2010) vom 7. GlückAufFest "Dostoprimetschatelnosti". Senftenberg beweise damit, "dass die russische Kultur weit mehr zu bieten hat, als jene in der DDR politisch korrekt verordneten 'Sehenswürdigkeiten' des großen Bruderlandes – die Kulturhäuser namens Lenin, das Mausoleum auf dem Roten Platz oder die Moskauer Allunions-Ausstellung." In der Auftaktinszenierung "Drei Schwestern" lasse Regisseur Sewan Latchinian sein Ensemble "das Spiel ganz aus dem Text entwickeln". Er biete "keine aufgesetzten Regieeinfälle", sondern überzeuge vielmehr durch die "stillen Szenen". So lägen in den Sätzen des Armeearztes Tschebutykin, wie ihn Heinz Klevenow vorstellt, "die enttäuschten Hoffnungen, die Angst vor dem Tod und der Kummer über die große, aber ungelebte Liebe: der ganze Tschechow also."