Die Liebe in Zeiten der Ex-und-Hopp-Mentalität

von Anne Peter

Berlin, 19. September 2010. Würstchen im Allerwertesten. Das hatten wir so noch nicht. Lars Eidinger, der an der Schaubühne als Experte fürs Maßlose ja schon einige Matsch-und-Pansch-Aktionen bewältigt hat, hält sein Lebensmittel-bewehrtes Hinterteil in die Kamera. Zuvor hat er auf Haupt und Haaren bereits Schokosoße, Sahnetorte und Spaghetti verteilt. So inszeniert, so zelebriert dieser Alceste seinen Weltekel, sein Scheiß-auf-alle. So suhlt er sich in seinem Anders-Sein, das vom Heucheln und Schmeicheln der Mitmenschen nichts wissen will. Schließlich steckt Eidinger sich noch ein ordentlich phallisches Baguette in die Hose – ist Molières "Menschenfeind" doch beides: Ehrlichkeits-Extremist ebenso wie Trieb-Getriebener, radikaler Idealist und unvernünftig Verliebter.

© Jan Versweyveld
Judith Rosmair und Lars Eidinger
© Jan Versweyveld

Und kann man's ihm verdenken? Wer würde dieser Frau nicht verfallen? Judith Rosmairs Célimène gehört wohl zum Erotischsten, das derzeit im Theater zu haben ist. Wenn diese zarte Person in der Inszenierung Ivo van Hoves im kurzen Rotkleid über die Bühne wirbelt, Alceste mit Küssen überfällt, ihm auf den Arm springt, ihre Haare schüttelt und plötzlich von verführerischem Lächeln in verächtliches Lachen fällt, von Koseworten in amüsierte Lästereien, erzählt das auch vom Sprunghaften und Ruhelosen ihrer Figur, die von Vergnügen zu Vergnügen stürzt. Und verkörpert dabei eine sehr heutige Bindungsskepsis, von der Scheidungsstatistiken ebenso wie Single-Börsen-Zulauf und "Lebensabschnittsgefährten" zeugen können.

Mann-Sein heißt Schwach-Sein

Dass Alceste diese Célimène liebt, obwohl er sie seinen Prinzipien nach verachten müsste, kann man also bestens nachvollziehen. Überhaupt gelingt es van Hove, dem zum ersten Mal in Berlin inszenierenden Leiter der Amsterdamer Toneelgroep, aus den Molière'schen Typen vollblütige Menschen zu machen, die über die Reime lässig hinwegschnurren und weniger als Träger von Grundsätzen denn als fühlende und vor allem fehlbare Wesen daherkommen.

Van Hove treibt das Ensemble, aus dem neben Rosmair und Eidinger besonders Corinna Kirchhoff (als wohltuend wehrhafte Arsinoé) und Sebastian Schwarz (als berührend gutherziger Philinte) herausstechen, zu sehr direkt-körperlichem Spiel, in einen sinnlichkeitsgesättigten Realismus, der um die "Natur" des Menschen weiß. Dass "Mensch-Sein" und "Mann-Sein ja doch nur Schwach-Sein heißt", schickt Alceste kurz vor Schluss als Erkenntnis über die Rampe. Und anders als bei Molière wird er nicht einsam in seine Wüste abziehen, sondern sich dreingeben. Er wird Célimènes besudeltes Videobild mit dem Gartenschlauch sauber spritzen und ihre Umarmung genießen, solange sie dauert.

Liebkosungen auf unappetitlichem Boden

Rosmair spielt dabei nicht etwa das sich willig als Objekt darbietende Flittchen, sondern die selbstbestimmte Hedonistin. Eine souveräne Männer-Jongleuse, die jederzeit furchterregend fauchen oder mit Stöckelschuhen werfen kann. Und nicht zuletzt ihr Humor bewahrt sie vor der Vereinnahmung durch den sexistischen Blick. Mit einem rotzig-arglosen "Hääh?!" goutiert ihre Célimène anfangs Alcestes eifersüchtige Vorhaltungen. "Spielst du jetzt den Othello oder was?", fragt sie später entnervt, nachdem der sie beinahe erwürgt und mit seinen destruktiven Besitzansprüchen bis auf die Straße, hier konkret: den Ku'damm, getrieben hat.

Sie ruft "Taxi!", während er ihrem Videostandbild den Inhalt dreier Müllsäcke entgegenschleudert, was einen eher unappetitlichen Boden für die natürlich kurz darauf erfolgenden Liebkosungen bereitet – so geht Liebe in Zeiten der Ex-und-Hopp-Mentalität, wo nicht nur die Zweisamkeit immer seltener auf Dauer eingestellt ist und jemand wie Alceste, der auf verbindliche Werte pocht, hoffnungslos anachronistisch wirkt.

Das i-Pad ist auch dabei

Durch die dunkelgetönten Seitenscheiben des schicken Bühnenlofts begleiten zwei Kameramänner von rechts und links das Geschehen. So wird nahezu jede Szene auch für eine Kamera gespielt, vor der sich die Schauspieler mal mehr, mal weniger bewusst in Szene setzen – ein schlüssiges, wenn auch sehr nahe liegendes Bild für die allüberall herrschende "Verstellungskunst", gegen die Alceste wütet. Ebenso schlüssig, dass hinter der Rollladen-Tür in der Rückwand immer wieder die mitbespielten Theatergarderoben sichtbar werden, der Ort, wo jeder sich seine Maske zurechtschminkt – Selbstinszenierer in der Facebook-Chat-Skype-iPhone-Welt, die hier entsprechend auch technisch vertreten ist.

Zwar nervt das penetrante Apple-Product-Placement, die Ersetzung der Brief-Enthüllungen durch ein kompromittierendes iPad-Video trägt jedoch zur sinnfällig zeitgemäßen Anmutung der Veranstaltung durchaus bei. Und dass die meisten Gespräche irgendwann von einem Handyklingeln durchkreuzt werden, entspricht ebenfalls nicht nur ziemlich genau unserer technisch zerstreuten Gegenwart, sondern ist wiederum Sinnbild der flüchtig von einem Gegenstand zum nächsten hüpfenden Aufmerksamkeit, der von einem Objekt zum nächsten schweifenden Begierde.

 

Der Menschenfeind
von Molière
Deutsch von Hans Weigel
Regie: Ivo van Hove, Bühne / Licht: Jan Versweyveld, Kostüme: An d'Huys, Video: Tal Yarden, Dramaturgie: Maja Zade, Mitarbeit Musik & Komposition: Daniel Freitag.
Mit: Lars Eidinger, Sebastian Schwarz, David Ruland, Judith Rosmair, Lea Draeger, Corinna Kirchhoff, Franz Hartwig, Nico Selbach

www.schaubuehne.de

 

Auch Andreas Kriegenburg arbeitete bei seiner Hamburger Menschenfeind-Inszenierung massiv mit Videoeinsatz. Von dem Regisseur Ivo van Hove hat nachtkritik.de bereits die Shakespeare-Installation Römische Tragödien sowie die Film-Adaptionen Rocco und seine Brüder (nach Visconti) und Teorema (nach Pasolini) besprochen.

 

Kritikenrundschau

Als "Molière aus der analen Konsum-Perspektive" beschreibt Peter Hans Göpfert van Hoves "Menschenfeind"-Inszenierung auf rbb Kultur (20.9.2010). Der "Mordsklamauk" findet seine Zustimmung nicht: "Als hemmungsloser Jokus kann die Sache durchgehen. Einen wirklich aktuellen Bezug lässt die Regie aber nicht erkennen. Und darstellerisch zeigt sich die Schaubühne hier ohnehin eher auf sehr bescheidenem, wenn nicht sogar bedenklichem Niveau." Allein Schaubühnen-Altstar Corinna Kirchhoff findet seine Gnade. Fazit: "Die tiefere Tragik in dieser Komödie bleibt auf der Strecke."

Wesentlich angetaner zeigt sich sein Radiokollege Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (20.9.2010). Neben Kirchhoff preist der die "Ausnahmeakteurin Judith Rosmair", die "ungehemmt die beiden Passionen ihrer Figur" spiele: "Den Genuss, vielfach begehrt zu werden und den Spaß an der Herrschaft über die Neigungen der Herzen." Auch der "den Text klug umsetzenden" Inszenierung kann Spreng einiges abgewinnen: "Sehr kunstvoll schieben sich auch für den Zuschauer die Bilder der beiden hinter den Glasflächen versteckten Kameras immer wieder vor die Wahrnehmung des ursprünglichen Bühnenspiels. Damit das künstliche Auge nicht geblendet wird, kommt alles Licht ausschließlich wie eine kalte Dusche von zahlreichen Neonkästen über der Bühne." Sprengs Fazit: "Das Herz des über 340 Jahre alten Stücks schlägt immer noch kräftig."

In seiner als Glosse getarnten Kritik greift Manuel Brug in der Welt (21.9.2010) das Apple-Product-Placement auf: "Gestochen scharf das Bild, fast rauschfrei der Ton. Klasse! Produktpremiere bestanden." Brug vermutet, "Ivo van Hove habe sich in seiner allzu glatten, vorhersehbaren 'Menschenfeind'-Inszenierung mehr für die schöne neue Technikwelt als für die alte Ära der Charakterkomik interessiert." Ansonsten verneigt er sich vor dem Zauber der "gleich drei virtuelle Schranken" durchbrechenden Judith Rosmair und der "Peter-Stein-Diva" Corinna Kirchhoff, die mit dem Wortflorett souverän "durch die krakeelende, ihren Ennui pflegende oder eben zugesaute Spielerschar" schneide: "Ein Triumph der alten Schaubühne über die neue. Und ganz ohne iPad."

Gegen eine Art teflonbeschichtete Moderne läuft dieser Menschenfeind an, schreibt Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung (21.9.2010). "Sie ist abwaschbar und lässt alles, was nicht von ihrer Art ist, gnadenlos abperlen." Aber, so fragt Müller: "Was ist eigentlich in der Welt dieses modernen Menschenfeindes aus dem Machtzentrum geworden, um das in Molières Komödie die Figuren herumscharwenzelten, aus dem Hof und seinem Cliquenwesen?" Und antwortet: "Anders als in Hans Magnus Enzensbergers Übersetzung aus dem Jahre 1979, in der die Upper Class der alten Bundesrepublik sich in witzigen Endreimen porträtiert fand, bleibt die Gesellschaft, außer dass sie Kommunikationsgesellschaft ist, hier seltsam vage. Der Prozess, bei Molière eine ernsthafte Gefahr für den Außenseiter, bleibt weitgehend Gerücht."

Ulrich Seidler erlebte trotz Tortenschlacht und Müllorgie, auch trotz Lars Eidinger, "der mit dem rückhaltlosen Einsatz seines Genitals schon so einige theaterästhetische Maßstäbe gesetzt hat", einen "Abend von eisiger Asepsis - einer Asepsis, die typisch ist für die Schaubühne", wie er in der Berliner Zeitung (21.9.2010) schreibt. "Molière und sein Alceste hackten auf der einen dünnen, undurchdringlichen Schicht zwischen Schein und Sein, zwischen Wort und Tat, zwischen Koketterie und Liebe herum. Van Hove aber bleibt wie bei der Wiener-Würstchen-Nummer seinem Prinzip der Deutlichkeit durch Massierung treu und schiebt lauter Schein-Ebenen ein, die dem Grundproblem kein Jota an Brisanz hinzufügen, sondern es bloß illustrieren." Immerhin: "Großartig sind die langen, eisblauen, bohrenden Blicke, mit denen Alceste versucht, durch die von stählernen Nachtfaltern verschlossenen Seelenfenster Célimènes zu stoßen. Solche von energiegeladenen Augenpaaren getauschte Blickwechsel hätten auch ohne Schokogesicht und Videoverdopplungen funktioniert, andererseits ergeben sich so schöne Kontraste."

In der Neuen Zürcher Zeitung (22.9.2010) schreibt Dirk Pilz, Ivo van Hoves Menschenfeind führe explizites Regietheater" vor, allerdings setze er auf "den äusserlichen Effekt". Van Hove inszeniere Molière "als eine Video-, Sprach- und Technikschlacht". Die Figuren seien vor allem "Schein-Spieler". Die Sprache: "eine Wahrhaftigkeitsgaukelei". Die Szenen: "immer Seelentäuschungsmanöver". In aller Eifersuchtsgetriebenheit und allem Liebeskampf, gedoppelt auf der Bühne und im Video, sähen die Zuschauer alle Schauspieler den "psychologischen Gesetzen der Glaubwürdigkeitsproduktion folgen". Glaubwürdigkeit aber, erzähle dieser Abend, sei Schein, ein medial hergestellter Effekt. "Es gibt keine echten Gefühle, es gibt nur aufgekratzte Künstlichkeit. So beeindruckend die Schauspieler" auch seien.

 

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