Im Dickicht der Marionetten

von Andreas Schnell

Oldenburg, 21. September 2010. Baal ist ein Gott. Baal schnitzt. Schon während wir den Saal betreten. Wie besessen arbeitet er an einer Büste. Baal erschafft. Das ist der zentrale Ansatz von Jan-Christoph Gockels Oldenburger Inszenierung des Brecht-Stücks. Wo Brechts Baal als anarchistischer Künstler aus Fleisch und Blut seine Kreise zieht, findet die "rasende Ekstase" bei Gockel als Spiel statt, in dem Baal, ein soziophobes Muttersöhnchen, sich verwirklicht.

Seine Fehden mit der Welt der Kritiker, der Bewunderer und empörten Bürger - sie führt er als Puppentheater vor. Die Episoden, in denen er erst die Frau seines Mäzens und später Johanna, die Freundin seines getreuen Freundes und Bewunderers Ekart, verführt, während der seinem Puppen-Ich die Augen zuhält - nur Spiel. Baals Sehnsucht, nach Frühling, Sommer, Liebe, ist echt, aber leben kann er sie nicht, weil er erschrocken innehält, wenn seine Mutter ihm und Ekart Apfelschnitze bringt - was Ekart genervt kommentiert: "Jetzt kommt die mit die Äppel..." Erst, als Baal Sophie kennen lernt, verlässt er seine Puppenwelt.

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© Andreas J. Etter

Kuschelhase als Erfolgsgarant

Bevor es aber soweit ist, kommt Baal nach der Pause mit einer neuen Puppe, einem Hasen, mit dem er im Publikum auf Brautschau geht: "Sie sehen aber hübsch aus, wollen wir vielleicht einen Tee zusammen trinken?" Oder ob ihr das zu "puppenpornös" oder "marionettallastig" sei? Baal braucht seine Puppen, um mit der Welt zu kommunizieren. Und er hat zunächst Erfolg damit. Sophie liebt ihn, er bekommt ein Engagement mit seiner Michael-Jackson-Nummer, inklusive Moonwalk.

Doch auch das hält Baal nicht lange aus. Er flieht, die Geliebte lässt er bei Ekart. Als er zurückkehrt, um mit Ekart weiterzuziehen, eskaliert die Situation. Nicht nur Baal verliert den Boden unter den Füßen: Wütend reißt er die Bühnenbretter los, Sophie und Ekart springen ins Nichts, am Ende ist Baal allein - mit dem Puppen-Baal, während aus der verwüsteten Bühne fahler Nebel aufsteigt.

Auferstanden aus dem Boden

Es ist schon ein ziemlich kluger Kniff, diese Sache mit den Puppen. Baal ist nach innen tatsächlich Gott, schafft sich seine eigene Welt. Nach außen aber ist er ein armes Würstchen, wie es wohl nicht wenige geben mag in der virtuellen Welt, in denen sich jeder, geschützt durch die vermeintliche Anonymität des Internet, eine neue Identität zurechtbasteln kann. Allerdings ergibt sich hieraus auch ein Problem: Im zweiten Teil des Abends verlässt Baal seine Parallelwelt, hat, recht unvermittelt, im wirklichen Leben Erfolg und zieht in echt durch die Lande, um erst zum Schluss in sein eigentümliches Zuhause zurückzukehren, wo er, dann wieder nur als Puppe, um seine Mutter trauert.

Nichts lenkt dabei von den Figuren ab: Auf der Bühne stehen lediglich ein Sessel, ein Sofa, ein Kleiderständer und ein Fernseher. Hier setzt sich die Doppelbödigkeit der Inszenierung fort: Durch den Boden kommt das deutlich reduzierte Personal auf die Bühne, durch den Boden gehen sie ab, und aus dem Boden bricht das blaue Licht, das die Inszenierung gegen Ende mit einem surrealistischen Hauch überzieht.

Asozialer Flüchtling in eine virtuelle Welt

Es ist neben diesem genial simplen Bühnenbild Julia Kurzwegs nicht zuletzt Michael Pietsch zu verdanken, dass der Abend fesselt, bewegt, zusammenhält, und zwar nicht nur, weil er selbst die Puppen gebaut hat: In einer regelrechten Tour de force lässt er den rasenden Baal als autistischen, aber durchaus anrührenden Psychopathen zugrunde gehen. Weniger als genialischen Künstler, der an einer ganz bestimmten Gesellschaftsform und deren Sitten verzweifelt, sondern als "asozialen" Flüchtling in eine virtuelle Welt.

Seine Kollegen machen ihre Sache sehr ordentlich bis gut. Jutta Garbe gibt Baals Mutter eindrucksvoll verhärmt, Thomas Birklein überzeugt in mehreren Rollen. Sebastian Brandes als Ekart schreit ein bisschen viel und Eva-Maria Pichler als Sophie bleibt eher blass. Aber das Regiekonzept ist stark genug, um auch das ohne weiteres zu verkraften. Denn Jan-Christoph Gockel gelingt es, das rare Kunststück einer grundlegenden Neudeutung zu unterziehen, ohne dem Stück Gewalt anzutun, ja, ihm geradezu ein wenig von jener Weisheit zu einzuhauchen, die Brecht in der Rückschau in seinem Frühwerk vermisste.

 

Baal
von Bertolt Brecht
Regie: Jan-Christoph Gockel, Ausstattung: Julia Kurzweg, Puppen: Michael Pietsch, Musik: Matthias Grübel, Dramaturgie: Johanna Wall.
Mit: Michael Pietsch, Sebastian Brandes, Eva-Maria Pichler, Jutta Garbe, Thomas Birklein.

www.staatstheater.de

 

Mehr zu Jan-Christoph Gockel? Das Lexikon gibt Auskunft.

Kritikenrundschau

Einen "kurzweiligen Abend" hat Reinhard Tschapke gesehen, wie er in der Nordwestzeitung (23.7.2010) schreibt. "Brecht stammt zwar aus Augsburg, die Puppenkiste hat er aber nicht erfunden. Er hätte jedoch seine Freude an dieser frechen Puppen-Regie mit Distanz und Nähe gehabt, an dem mal huschigen, oft komischen Baal von Pietsch", vermutet der Kritiker. Zwar fragt er: "Wirkt das Hin und Her zwischen Puppe und Mensch, Spiel und Ernst zuweilen beliebig?" und antwortet:  "Ja, aber es schadet nicht. Denn diese Inszenierung eines gerade mal 28-Jährigen ist, um ein Lieblingswort von Bertolt Brecht zu gebrauchen, vernünftig."

Begeistert äußert sich Johannes Bruggaler in der Kreiszeitung (23.9.2010): "Gockel kehrt die tradierte Lesart des Dramas um, zeigt Baal nicht als Abbild seines vermeintlich heroischen Schöpfers, sondern als Projektionsfläche für dessen verborgene Sehnsüchte." Brechts Drama erweise sich "vor diesem Hintergrund als Ausflucht vor dem Scheitern an der Wirklichkeit: Wer die tatsächliche Welt nicht erobern kann, der begibt sich eben in das umso größere fiktive, ja göttliche Leben. Das gilt für die Dichtung wie für Puppenspiele und nicht zuletzt die digitalen Weiten des Internets." Beeindruckend findetBruggaler, "wie Michael Pietsch in diesem Pseudo-Gott das Bewusstsein um seine Isolation mit der geistigen Expansion in die Gefilde der Fantasie vereint. Dieser Baal ist ein an Ausbruch gar nicht mehr interessierter Charakter, einer, der sein Heil in der Flucht nach innen sucht. Großartig ist Sebastian Brandes‘ Ekart in seinem weitaus simpleren Strickmuster. Anders als sein Freund weiß er nichts von einer Welt da draußen, das Marionettenspiel ist für ihn Anfang und Ende aller Erfahrung." Sein Fazit: "Mit seinem Stück war Brecht bis zuletzt unzufrieden. Sogar eine Warnung sprach er einmal aus. Dem Text, so grämte er sich, mangele es an Weisheit. Vielleicht mangelte es einfach nur an Marionetten: Die Augsburger Puppenkiste entstand erst 30 Jahre später."

 

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