Abgebrühter Engel, säuselndes Kind

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 25. September 2010. Minna von Barnhelm ist in Frankfurt eine Zockerin im Glücksspiel Liebe. Alles setzt sie auf eine gezinkte Karte, um ihre große Liebe, den Major von Tellheim zu gewinnen. Der, entlassen und seiner Ehre entledigt, ist gerade dabei, sich vor der Welt zu verkriechen. Kein Major mehr, sondern ein Würstchen.

Der Schauspieler Marc Oliver Schulze, der im vergangenen Jahr an gleicher Stelle in seiner Doppelrolle als Ödipus und Kreon seinen Einstand gab, verkörpert ihn mit ramponiertem Rückgrat, schlaffen Schultern, fettigen Haaren und Dreitagebart im traurigen Gesicht. Mit seinem Bedienten Just (umwerfend: Sascha Nathan) ist er in einem Wirtshaus abgestiegen, und der Zufall beziehungsweise Lessing will es so, dass Minna mit ihrem Mädchen Franziska im selben Wirtshaus logiert. Bald bemerken sie einander, und das Spiel kann beginnen.

Viele Türen, hingetupfte Tangomelodien
Die 1976 geborene Regisseurin Jorinde Dröse inszeniert Lessings "Minna" als ebenso heiteres wie cooles Lustspiel. Julia Scholz hat die Drehbühne mit vielen grotesk schmalen und hohen Türen vollgestellt, deren Klinken sich in unangemessenen Positionen befinden, mal zu weit oben, mal zu weit unten und selten da, wo sie hingehören. Wer so viele Türen auf einer Bühne sieht, denkt an Boulevardtheater und so ganz falsch ist der Eindruck nicht, schließlich wusste schon Lessing, die raschen Auf- und Abgänge seiner Figuren geschickt zu inszenieren. Jorinde Dröse setzt noch einen drauf, indem sie ganz bewusst mit der Tür-auf-Tür-zu-Mechanik spielt. Dabei läuft sie in keinem Moment Gefahr, das Ganze auf dem Trottoir der Unterhaltsamkeiten platt zu walzen. Vielmehr gelingt ihr für die Inszenierung ein eigener Ton.

Ohne Musik geht das nicht vonstatten und der gebührt allerhöchstes Lob. Sie überführt die Aufgekratztheit in die chill-out-zone, verbreitet Lounge-Lässigkeit und konzentriert den Geschlechterkampf später in ironisch hingetupften Tangomelodien. Die Kostüme von Barbara Drosihn unterstreichen die schicke Coolness noch. Nicht einmal zwei Stunden nimmt sich Dröse Zeit, um ihre Liebeswirren zum schneewittchenhaften Ende zu führen. Das ist nicht gerade viel, weswegen viele Sätze des Stückes nicht mehr vorkommen.

Eiskaltes Spielkind mit Gefühl
Die Inszenierung konzentriert sich auf das Liebesspiel und lässt die politischen und zeitgeschichtlichen Konnotationen außen vor, wogegen nichts einzuwenden ist, zumindest nicht von hier aus. Natürlich lebt der Abend auch von seinen zwei Protagonistinnen. In Frankfurt stecken sie in irgendwie zeitlosen Blumenkleidchen, wobei das von Minna schon Fäden zieht und eher an das Negligé erinnert, das sie bei Lessing im ersten Auftritt trägt. Claude De Demo, die in all jenen Rollen brilliert, die nach eiskalten Engeln mit Gefühl verlangen, gibt Minna als abgebrühtes Spielkind, das so laut brüllen wie zart säuseln kann.

Ihre Wortgefechte mit Tellheim sind für die Zuschauer der reinste Spaß. Die Szene, in der sie das Spiel dann überreizt, und niemand – diejenigen, die das Stück gelesen haben einmal ausgenommen – wissen kann, wie Tellheim reagiert und die Komödie in eine Tragödie zu sinken droht, kostet die Inszenierung mit viel Gespür für diesen besonderen Kippmoment aus. Doch keine Minna ohne Franziska, und die gibt Sandra Gerling als wunderbaren Bühnenclown. Hand in Hand mit Minna, an diesem Abend beste Freundinnen, glotzt sie komische Löcher in die Luft und gibt Worte und Sätze von sich wie ein Glücksspielautomat Münzen. Sie ist die Nettere von beiden; während Minna richtig zockt, foppt Franziska die anderen bloß. Gerlings zeitgenössische Gesten und Augenblicke holen Franziska dabei ins Heute.

Des drögen Majors lustige Idee
Auch der Text wurde von manch sprachlicher Altmodischkeit bereinigt, manch ein Kalauer im Gegenzug dazugedichtet. Selbst mit seinem verwundeten Arm treibt Major von Tellheim in Frankfurt Schabernack: Schulze gibt dem Ding einfach einen Klaps und schon schwingt es sich einmal um die eigene Achsel. Das sieht nur ein bisschen nach Rückenschule, in seinem scheinbar fremdgesteuerten Schwung aber vor allem hochgradig komisch aus.

Wahr ist aber auch: Lessings dröger Major wäre im ganzen Leben nicht auf eine solch' lustige Idee gekommen.


Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Julia Scholz, Kostüme: Barbara Drosihn, Licht: Johan Delaere, Musik: Roderik Vanderstraeten, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Michael Abendroth, Michael Benthin, Claude De Demo, Sandra Gerling, Sascha Nathan, Marc Oliver Schulze, Roderik Vanderstraeten und Till Weinheimer.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Die Regisseurin Jorinde Dröse, 1976 in Hanau geboren, arbeitete bisher unter anderem in Bochum, am Thalia Theater in Hamburg und dem Maxim Gorki Theater Berlin. Zuletzt inszenierte sie im Juni 2010 an den Kammerspielen von Berlins Deutschem Theater Anja Hillings Stück Schwarzes Tier Traurigkeit. Mehr im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Man schlampere sich in der Frankfurter "Minna" "gemütlich durch die Anachronismen. Und delegiert das historische Bewusstsein an die Gegenwartsgarderobenrumpelkammer", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (27.9.2010). Von Minnas Intelligenz sei bei Claude de Demo "keine Minute etwas zu spüren. Keine Vernunftgeilheit. Eher ein froh krähendes, ziemlich unaufgeklärtes, in Neckischkeiten und Nettheitsgebrüll sich ergehendes Gänschen, dauerstrahlend, postpubertär." Wo Lessing "ein Lustspiel aus dem Geist des Widerstreits zweier Sprach- und Sprechweisen, der tragisch kalten (Tellheim) und der komödiantisch warmen (Minna)", zaubere, da machten "sie in Frankfurt, ohne dem Lessing auch nur ein Wort nachsprechen zu können, aus dem komplexen Sprachspiel eine unterkomplexe Situationsklamotte." Die Regisseurin Jorinde Dröse scheine "doch offenbar etwas zu unterbelichtet für Lessings Intelligenz, der sie nichts als ein rotzig neutheaterdeutsches Grundmisstrauen entgegenzusetzen hat".

"Schwappender Schnaps, ein schlackernder Gürtel: Insignien der Verkommenheit." Es sei ein "famoses Bild, mit dem die junge Regisseurin Jorinde Dröse ihre 'Minna von Barnhelm' am Frankfurter Schauspiel beginnen" lasse, meint Jan Küveler in der Welt (27.9.2010). Und zum Schluss tanze "ein reanimierter Tellheim Tango. Ein Tanz, so präzise wie leidenschaftlich - und damit dieses Abends und seines Ensembles (...) - wunderbar würdig." Dazwischen aber klappten die "vielen überlebenshohen und unterlebensniedrigen Türen im Hintergrund auf und zu wie in einer Slapstick-Komödie, die Lessing ja durchaus geschrieben hat".

Jorinde Dröse mache "gar keinen Hehl daraus, dass sie sich mit Tellheims skrupulösen Ehrbegriffen und schnurrigen Tugenddebatten nicht lange aufhalten will", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (27.9.2010). "Es ist höchste Lustspielzeit: Auch Lessing ist für Dröse ein Feydeau, vielleicht mit ein bisschen viel ollen Moral-Flöhen im Ohr." Dröse blase "alle Staubwolken von der 'Minna' und findet darunter das TV-Vorabendserien-Motiv: schlaues, beherztes Mädel knackt hölzern-verkniffenen Typen. Dem zuzuschauen, macht erst so richtig nach gut der Hälfte Spaß, da man schon fast das Gefühl verspürt, das werde sich noch hinziehen." Fazit: "Lustspiel-Lessing light: Das geht ganz gut, das ist muntere Unterhaltung. Theater muss dieser Tage ja vor allem lustig sein."

Dröse kitzle "erstaunlich viel Witz aus Lessings verhinderter Komödie" und steuere "in Richtung Boulevard", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2010). "Das könnte man ihr vorwerfen, schüttelte sie mit ihrer Komik-Offensive nicht den Staub all jener Inszenierungen ab, die immer nur die Tragödie des Tellheim suchen und übersehen, wie berechenbar komisch solche Männer sind." Mit feinem musikalischen Gespür rhythmisiere sie die Inszenierung, während Marc Oliver Schulze den lahmen Arm des Tellheim immer mal wieder wie eine Windmühle kreisen lässt. Da steht der ramponierte Don Quichotte dann in der Gegend und bekämpft die Geister preußischer Sekundärtugenden, die er wohl nie mehr los wird."

 

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