Der Mensch in der Mission Impossible

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 26. September 2010. Barka tanzt. Mit seiner Schubkarre, als wäre sie eine Braut. Einhändig, beidhändig, er führt sie souverän, und lässt sie durch die Luft schwirren, ganz leicht. Dieser Brigadier mag den Geruch von Stahl und Beton, er hat Kraft im drahtigen Leib, er ist ein Mann, der seine Arbeit liebt, weil sie ihm Lust verschafft. Und dann, wenn Barka nicht mehr weiß wohin mit sich und seiner Proletarierpotenz, legt er sich einfach vor den Augen seiner grienenden Arbeiter auf die geklauten Zementsäcke und lässt die Hüften kreisen.

Widerstand gegen die Funktionäre
Heiner Müllers Stück "Der Bau" ist auf deutschen Bühnen so selten wie ein hochmotivierter Angestellter in unserer ausgebrannten Dienstleistungsgesellschaft, in der ein Querdenker wie Barka genauso zerrieben würde wie einst im real existierenden Sozialismus. Seine Unabhängigkeit von der Partei und ihren Zielen ist nur von kurzer Dauer, die Entfremdung Barkas programmiert. Zunächst von den Gremien in der DDR verboten, fand die Uraufführung von "Der Bau" doch noch 1980 unter der Regie von Fritz Marquardt an der Berliner Volksbühne statt. Das Stück handelt von einem Bautrupp, der sich den veränderten Plänen der Bauleitung bei der Projektierung eines Wasserwerkes widersetzt, illegal Zement beschafft, eigenmächtig Dreischichtsysteme und die Fließfertigung einführt, um schließlich unter dem Druck der Funktionäre auseinandergesprengt zu werden.

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Jan Krauter in Müllers "Bau" © Matthias Dreher

Heiner Müller schrieb den Text nach Motiven von Erik Neutschs Roman "Spur der Steine" und fängt die Zeit des Aufbruchs ein, die auch in anderen Staaten des Ostblocks euphorisierend wirkte. Nicht weniger als die Schaffung des Neuen Menschen stand auf dem Plan. Belfert, der Oberbauleiter, hat für den Auftrag ein schönes Bild parat: "Ein Auto und ein Fahrrad in ein Flugzeug umbaun während der Fahrt, das ist ungefähr unsre Aufgabe." Mit anderen Worten: Mission impossible.

Ein ideologiefreier Wille, der verändern könnte

Hasko Webers Eröffnung der neuen Spielzeit mit Heiner Müllers Fabel vom gescheiterten Individuum im perfiden System mutet zunächst museal an. Die von der Geschichte ausgehöhlten Vokabeln wie Brigadier, Politbüro oder Kaderakte sorgen für Heiterkeit ebenso wie die eingeflochtenen Seitenhiebe zu Stuttgart 21, etwa wenn Ingenieurin Schlee (Minna Wündrich) den Weg nicht findet, weil ihr der Orientierungspunkt, der Bahnhof, abhanden gekommen ist. Doch Hasko Weber und sein Dramaturg Jörg Bochow ignorieren die Patina, vertrauen auf den Reiz der Müllerschen Sprachartistik, streichen wenig und konzentrieren sich im ersten Teil des Abends auf Barka, den Jonas Fürstenau stimmgewaltig und mit einer überzeugenden körperlichen Präsenz gibt.

Weil sein Handeln weder psychologisch noch politisch motiviert wird, erscheint der Besessene wie eine Leerstelle, die unkontrollierbare Antimaterie in den bürokratischen Weiten des Parteiuniversums. Barka besitzt einen blinden Willen zur Aktion, der tatsächlich Veränderung bewirken könnte. Fürstenaus Spiel ist frei von Idealisierungen, sein Barka taugt nicht zum Helden, er verschafft sich intuitiv Raum. Den er auch bekommt.

Ausweichspielstätte im ehemaligen Autohaus

Die Bühne der Übergangsspielstätte Arena ist ein ehemaliges Autohaus, zwischen Stahlträgern ist reichlich Hallenplatz für einen schwarzen, vor sich hinsprotzenden Wolga, Holzpaletten, Zementsäcke, ein Klavier, Bakelitplatten, eine große rote Fahne. Ein luftiges Paradies für Tatmenschen. So wie Barka, dessen Energie auch Donat mitreißt, den Parteisekretär, den Markus Lerch als lächelnden, allzu milden Karrieristen im Büroanzug spielt. Ein vernunftbegabter Krawattenmensch, der Barka gewähren lässt, selbst das Plansoll in Frage stellt und dafür eine Rüge kassiert.

Ähnlich ergeht es Ingenieur Hasselbein, einem vor sich hinphilosophierenden Faktotum mit Aktentasche und Strickweste. Immerhin fordert er Sebastian Kowskis Belfert mit Fausthieben heraus, den feisten und um so komischeren Opportunisten. Doch was im ersten Teil vor der Pause gut gelingt, nämlich der inszenatorische Zugriff auf das Individuum, verliert sich gegen Ende des Abends zusehends im ausufernden dialektischen Diskurs-Pingpong, der müde macht. Der Kommunismus frisst seine eigenen Kinder, und Barka träumt mit einer Schwangeren im Arm von einer besseren Zukunft. Mehr nicht. Die Baustellen ruhen. Die Gegenwart war einmal.

Globalisierungsgegnerin meets Gastrokritiker

Wer aber wissen wollte, was aus den Zukunftsträumen eines Brigadiers geworden ist, konnte einige Stunden zuvor im Kammertheater auf der Projektionswand in die türkisenen Augen einer wütenden, zu allem entschlossenen Frau schauen. Schweißperlen auf den Wangen, eine Strähne in der Stirn - Neles Blick ist eine einzige Kampfansage. Im Berlin unserer Tage sabotiert die Studentin mit einer Gruppe Globalisierungsgegnern Überwachungskameras, attackiert sprayend die Schaufenster von Großkonzernen, geht auf Demos in den schwarzen Block und zündet Einsatzfahrzeuge der Polizei an. Und verliebt sich in Christian, einen schlurfigen Journalisten, der alles ist, sympathisch, pleite, fleißig, links, nur eines nicht: ein Mensch in der Revolte.

Nele und Christian, das sind die Helden in Ulrich Peltzers Stadtroman "Teil der Lösung", den nun die Regisseurin Seraina Maria Sievi in einer Adaption von Alexander Seibt auf die Bühne brachte. Zwischen Bäumen, Campingstühlen, einem Bierkiosk und einer Boccia-Bahn entfaltet sich ein putziges Hinterhof-Idyll (Bühne: Susanne Hiller), in dem vergessene Utopien wieder aufleben. Bijan Zamani verpasst seinem Christian den Charme eines Jungen, dem Stephanie Schönfelds Nele nicht widerstehen kann, obwohl er sein Geld unter anderem mit PR-Gastrokritiken verdient. Da er aber auch eine Geschichte zu den Roten Brigaden recherchiert, werden sie ein Paar, zwei politisierte Menschen, die nicht akzeptieren wollen, dass sie in der besten aller Welten leben.

Niemand weiß, was richtig ist

Sievis Regie lässt sich Zeit, das flirrende Tempo des Romans nimmt sie völlig heraus, ein Verlust, gewiss. Doch arbeitet sie dafür stärker ein ausbalanciertes Beziehungsgeflecht der Charaktere heraus. Während die Nele im Roman aggressiv ihre Position einer radikalisierten Klassenkämpferin gegenüber dem laschen Mitläufer Christian behauptet, verliert sie unter Sievis Regie ihre Gewissheit, im alleinigen Recht zu sein. Stephanie Schönfeld verleiht ihrer Figur etwas Zärtliches, Zweifelndes. Auch Michael Stiller als Mann vom Verfassungsschutz brilliert in der Rolle des verständigen Terrorfahnders, der den Furor dieser jugendlichen Revoluzzer durchaus versteht und sie dennoch unerbittlich jagt. Niemand weiß, was richtig ist. In beiden Stücken dieses langen Stuttgarter Premierentages siegt am Ende die Utopie der Liebe, der Zweiheit. Immerhin das.

 

Der Bau
von Heiner Müller
Regie: Hasko Weber, Dramaturgie: Jörg Bochow, Bühne: Hannes Hartmann, Kostüme: Ute Noack. Mit: Jonas Fürstenau, Matthias Kelle, Anna Windmüller, Berhard Baier, Jan Krauter, Markus Lerch, Sebastian Kowski, Minna Wündrich, Christian Schmidt, Anja Brünglinghaus.

Teil der Lösung
nach dem Roman von Ulrich Peltzer, Adaption von Alexander Seibt
Regie: Seraina Maria Sievi, Bühne: Susanne Hiller, Kostüme: Vânia Oliveira, Dramaturgie: Kekke Schmidt. Mit: Bijan Zamani, Sebastian Röhrle, Stephanie Schönfeld, Jens Winterstein, Boris Burgstaller, Michael Stiller, Dorothea Arnold, Sebastian Schwab.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr zu Hasko Weber und Seraina Maria Sievi gibt's im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

In der Stuttgarter Zeitung (27.9.2010) schreibt Adrienne Braun über Heiner Müllers Der Bau: "Weber arbeitet gegen diese bleierne Bedeutsamkeit an mit Tempo, Witz und Wut. Er überzeichnet die Figuren ins Groteske und nutzt Müllers Zynismus für gallige Komik. Aber auch Weber neigt dazu, immer wieder wie endgültig wirkende Tableaus zu schaffen, das Geschehen ästhetisch in diesem endlosen Brachland der Bühne zu arrangieren." Begeistert ist Braun von den Schauspielern: "Wütend feuert das äußerst präsente Ensemble seine Texte ab, die Worte werden oft hasserfüllt ausgespuckt."

Ein "großer, wenn auch gegen Ende etwas zäh werdender Wurf", konstatiert Otto Paul Burkhart in der Südwestpresse (27.9.2010). Weber belasse Müllers Stück mit allen Ecken und Kanten. "Doch gleichzeitig hievt er es mit gezielten Verfremdungen ins Heute und verschärft es so zur postsozialistischen Groteske." Zudem deute er "Müllers ätzende DDR-Aufbau-Kritik" um: "zu einem großen, spektakulären Abgesang auf verblichene Utopien, der stellenweise wie ein gespenstischer Totentanz wirkt. Dabei setzt er den Text so vieldeutig in Szene, dass er durchaus auch als böse Parabel auf heutige Bau- und Fortschrittseuphorien gelesen werden kann - Stuttgart 21 inklusive."

"Weber und sein Ensemble lassen sich über allzu weite Strecken vom historischen Material verführen, das Müllers Text reichlich liefert", findet hingegen Elisabeth Maier in der Esslinger Zeitung (27.9.2010). "Die Clowns des Sozialismus, die Weber und sein Ensemble da vorführen, scheinen vergilbten Filmrollen entschlüpft zu sein. Oft lassen die alten DEFA-Streifen grüßen." Erst am Ende gelinge Weber "ein starker Kunstgriff", wenn er Anja Brünglinghaus "kalt und distanziert" Sätze aus Müllers Wolokolamsker Chaussee IV sprechen lässt.

Heiner Müllers letztes Produktionsdrama erscheine uns heute "so fremd und fern wie ein Stück vom Mars", findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2010). "Um Müllers Beton-und-Brüste-Metaphysik zu brechen, lässt Weber Parolenputzer, Wolga-Limousinen und sowjetische Spielzeugpanzer aufmarschieren; die Bezirkssekretärin trällert als leibhaftige Allegorie des Kommunismus im knallroten Abendkleid Kampflieder ("Schalalala, très rouge, die Fahne"), bis selbst Donat das selige Parteisoldatengrinsen zur Grimasse gefriert. So schaffen und schwitzen Webers Pioniere drei Stunden lang ernsthaft für eine bessere Welt, ohne den Nachweis erbringen zu können, dass der frühe Müller mehr als der Shakespeare der Betonfraktion war."

Über den Teil der Lösung schreibt Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (27.9.2010): "Im Kammertheater sieht man ein Stück mit jeder Menge Peripherie, aber ohne Zentrum." Er kritisiert generell den Trend, Romane auf die Bühne zu bringen und diese Fassung insbesondere. "Am Ende schält sich eine Fragestellung heraus, für die man sich schon zuvor interessiert hätte. Nele wirft Christian vor: Du machst dir nicht die Finger schmutzig. Die Parole von Holger Meins im Heute. Aber dann ist das Stück auch schon aus."

In der Esslinger Zeitung (27.9.2010) merkt Petra Bail an: "Seibt hat den knapp 500 Seiten starken Text auf zwei Stunden Spieldauer verdichtet. Szenen wurden gestrichen, Geschichten, Ereignisse nur angerissen, was ein weitgehend ratloses Publikum hinterließ, das sich mit Fragmenten einer verknäuelten Erzählung konfrontiert sah." Mit hohem Tempo erzähle Sievi die Geschichte "in vielen kurzen Sequenzen, die in abrupten Schnitten ständig zwischen romantischer Liebessehnsucht und politischem Anspruch wechseln."

"Vergleichsweise gemütlich" komme "Teil der Lösung" daher, schreibt Otto Paul Burkhart in der Südwestpresse (27.9.2010). Übrig bleibe vom Roman "nur eine nette, aber auch harmlose Lovestory in Zeitlupe".

Ein "Gripstheater-taugliches Stück" mache die Fassung aus dem Roman, moniert Kathrin Bettina Müller in der tageszeitung (29.9.2010), die in ihrem Artikel auch generell mit Romanadaptionen hadert: "Vor allem aber bleibt ein Protagonist auf der Strecke, und das ist die Stadt selbst, um die es doch gerade gehen sollte. Fassbar wird sie in der Inszenierung bloß als Schauplatz verschiedener Rendezvous, aber nicht als Raum, um dessen Definition gestritten wird."

 

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