Der lange Schatten der Lüge

von Dina Netz

Bochum, 26. September 2010. Fünf Premieren an vier Tagen hat der neue Bochumer Intendant Anselm Weber zur Spielzeiteröffnung gezeigt – fünf sehr verschiedene ästhetische Zugriffe –, den letzten Abend aber hatte er für sich selbst aufgehoben: Weber brachte "Eisenstein" von Christoph Nußbaumeder an den Bochumer Kammerspielen zur Uraufführung.

"Eisenstein" ist eine Familiengeschichte der Bundesrepublik. Und es ist vor allem die Geschichte einer kleinen Lüge – und dabei so vertrackt (viel komplizierter als Nußbaumeders bisherige Stücke), dass der Plot sich nur in groben Zügen nacherzählen lässt. Erna Schatzschneider flieht am Ende des Zweiten Weltkriegs vor den Russen auf den Hof der Familie Hufnagel, wo ihr Onkel Knecht ist. Während der Flucht hat ein kurzzeitiger Begleiter sie geschwängert, aber sie schiebt das Kind dem Familienvater Josef Hufnagel unter, weil sie fürchtet, dass es sonst den Winter nicht überstehen wird. Josef verspricht, für Georg zu sorgen, wenn er und sie nach außen behaupten, das Kind sei von ihrem auf der Flucht gestorbenen Verlobten.

Drama mit allen Mitteln

Diese doppelte Lüge hat verheerende Konsequenzen: "Eisenstein" (so heißt der Ort im Bayerischen Wald, von dem das Drama seinen Ausgang nimmt) springt in der Zeit um einige Jahre, was in Anselm Webers Inszenierung dadurch angezeigt wird, dass im Bühnenhintergrund riesengroße Jahreszahlen ausgetauscht werden. Georg und die eheliche Tochter Josefs, Gerlinde, verlieben sich. Der Vater verbietet Gerlinde diese Verbindung, weil er sie ja für Georgs Halbschwester hält.

Gerlinde trennt sich von Georg, ohne ihm aber die Wahrheit zu sagen – Lügen scheint in diesem Stück ansteckend zu sein. Auch dass sie ein Kind von Georg erwartet, verschweigt sie. Gerlinde heiratet jemand anderen, Georg heiratet Gerlindes Schwester. Als Georgs Mutter stirbt, kommt zumindest die eine Wahrheit ans Licht, nämlich dass Georg und Gerlinde keine Geschwister sind. Sie finden einander doch noch, und hier könnte das Stück glücklich enden. Aber Nußbaumeder setzt sein Drama mit allen Mitteln immer wieder neu in Bewegung (diesmal schreibt Georg Gerlinde eine Mitschuld am Tod seines Sohnes zu), so dass erst die Enkel überhaupt eine Chance bekommen, dem Lügen-Teufelskreis zu entkommen.

Prototypen bundesdeutscher Familien

Während "Eisenstein" im ersten Teil durchaus Züge einer antiken Tragödie hat, in der sich alle immer hoffnungsloser im Lügengespinst verstricken, schwächelt das Stück im zweiten Teil deutlich: Der neue Konflikt um Georgs Sohn wirkt ziemlich konstruiert, außerdem fangen die Figuren auf einmal an zu räsonieren. Das kommt etwas unvermittelt und steht ihnen auch nicht besonders gut.

Anselm Webers Inszenierung stellt sich ganz hinter das Stück: Dreieinhalb Stunden lang spielt das nicht optimal engagierte Bochumer Ensemble "Eisenstein" von A bis Z, und der Regisseur arbeitet mit ganz reduzierten Mitteln: Hinter den hereingeschobenen Jahreszahlen signalisieren Fernsehbilder aus der jeweiligen Zeit, dass die Familien Hufnagel und Schatzschneider Prototypen für bundesdeutsche Familien sind. Das wird auch dadurch angezeigt, dass alle mehrere Rollen spielen – Maja Beckmann ist Frau Hufnagel, später dann ihre Tochter Gerlinde. Bettina Engelhardt spielt Erna Schatzschneider und später die ältere Gerlinde usw.

Was die Großeltern taten

Die vielen Ortswechsel, die mit den Zeitwechseln einhergehen, werden nur mit ganz wenig Mobiliar bewerkstelligt, eigentlich nur mit Tisch und Stühlen, die im Laufe der Jahrzehnte moderner werden: von Holz über Plastik zu Chrom (Bühne: Patrick Bannwart). Wenn mal wieder einer stirbt, nimmt er ein Kleidungsstück und legt es auf einen Haufen am vorderen Bühnenrand. Die unterschnittene Aufführung verstärkt das Gefühl des Bedrohlichen und Unsagbaren, das zwischen Nußbaumeders knappen Sätzen lauert. Und sie kitzelt sogar die wenigen komischen Passagen heraus – ein Glück, sonst würde einen die Tragik dieser bundesrepublikanischen Familiensaga glatt erdrücken.

"Eisenstein" ist die Geschichte zweier Familien zwischen 1945 und 2008. Eine kleine Lüge hat darin die allergrößten Folgen, und vermutlich ist das die Quintessenz von Nußbaumeders Stück: Was die Großeltern im Krieg taten, ob aus Angst, Not, Bequemlichkeit oder Feigheit, wirkt sich auf das Leben ihrer Nachkommen aus, bis heute. Das ist sozialpsychologisch keine neue Erkenntnis, aber als Thema eines 1978 geborenen Dramatikers dann doch originell.

 

Eisenstein (UA)
von Christoph Nußbaumeder
Regie: Anselm Weber, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik: Cornelius Borgolte, Video: Bibi Abel, Dramaturgie: Thomas Laue, Sabine Reich.
Mit: Krunoslav Šebrek, Kristina-Maria Peters, Karolina Horster, Roland Bayer, Jonas Gruber, Sierk Radzei, Maja Beckmann, Bettina Engelhardt, Anne-Marie Bubke, Andreas Grothgar, Dietmar Bär, Martin Horn.

www.schauspielhausbochum.de


Mehr zum neuen Bochumer Intendanten Anselm Weber finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

Mehr vom Bochumer Eröffnungswochenende: Der Sturm in der Regie von David Bösch und Candide von Paul Koek.

 

Kritikenrundschau

Der neue Intendant Anselm Weber verstehe sich nicht als erster Regisseur des Hauses und habe in den Kammerspielen, im kleinen Haus, "Eisenstein" von Christoph Nußbaumeder uraufgeführt, so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.9.2010). "Es ist das bisher größte, ehrgeizigste Stück des jungen Dramatikers, das eine große Zeitreise unternimmt und von 1945 über drei Generationen bis 2008 reicht." Der tragische Ausgangspunkt liege kurz vor Kriegsende an der böhmisch-bayerischen Grenze. Die junge Erna flieht auf einen Hof bei Eisenstein, das Kind in ihrem Bauch ist von ihrem gefallenen Verlobten, doch der Gutsbesitzer Josef soll glauben, er sei der Vater. "Eine Familiensaga zwischen Atriden und Dallas, die deutsche Nachkriegsgeschichte erzählt." Nussbaumeders Stück sei allerdings so deutlich überschätzt, dass es einbreche. "Die Figuren können die ihnen aufgegebene Repräsentanz nicht halten, und Anselm Webers Inszenierung, die Patrick Bannwarts Bühne mit Jahreszahlen und Wochenschauzitaten hinterlegt, spielt das Melodram nur solide und allzu breit aus." Fazit nach den ersten Premieren: "Ein vielversprechender Anfang sieht anders aus".

Mehr als drei Stunden daure der Abend, "aber er vergeht wie ein Traum", schreibt dagegen Gudrun Norbisrath im WAZ-Portal Der Westen (28.9.2010). "Wunderbare Schauspieler gestalten in klug abstrahierender Regie etwas, das an Volkstheater grenzt, mit kühnen Mitteln; sie zeigen das Leben in seinen furchtbaren Verstrickungen." Das Stück entwirre sich auf der Bühne und werde einfach, klar, traurig, sentimental, witzig, spannend. "Das Schauspielhaus Bochum hat mit Anselm Weber einen faszinierenden neuen Weg eingeschlagen. Diese Intendanz wird kein Deckchensticken - das Publikum weiß es. Und ist begeistert."

Hausherr Anselm Weber stellt sich in Bochum mit der genau erzählten Uraufführung der Familiensaga "Eisenstein" vor, so schreibt Stefan Keim knapp in der Welt (28.9.2010) über den Auftakt in Bochum. "Christoph Nussbaumeder entwirft ein großes Melodram vor historischem Hintergrund, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Im ausgezeichneten Ensemble sorgt Dietmar Bär als Ruhrpöttler im bayrischen Exil für Glanzlichter der Komik. Alles in allem: Ein kreativer Kraftakt."


Und in der Frankfurter Rundschau (29.9.2010) legt Keim nach: "Natürlich ist ein Prominenter im Eröffnungsreigen gut fürs Image, aber es geht Weber nicht um ein Startheater, wie es seine Vorgänger Matthias Hartmann und Elmar Goerden mit unterschiedlichem Erfolg pflegten. Bär ist Teil eines ausgezeichneten Ensembles, dem Maja Beckmann, Bettina Engelhardt und Andreas Grothgar Glanzpunkte aufsetzen."

Ein "ausgesprochen solides, braves, um nicht zu sagen: biederes Nacherzähltheater" hat Christine Dössel gesehen, wie sie in der Süddeutschen Zeitung (30.9.2010) schreibt. Es bürde Nussbaumeders weitschweifigem Stück mehr Bedeutung auf, als es zu tragen imstande sei: "'Eisenstein' erzählt über drei Generationen hinweg, von 1945 bis 2008, die Geschichte zweier niederbayerischer Familien, die durch eine Ur-Lüge der schwangeren Magd Erna bezüglich der Vaterschaft ihres Kindes schicksalhaft miteinander verkettet sind. Es ist das totale Kontrastprogramm, und man mag sich wundern über die konventionelle Machart und diese bayerische Note. Das Bochumer Publikum aber war begeistert", berichtet Dössel, und resümiert: "Webers vielsträngiges Ästhetikangebot scheint anzukommen".

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