Fünf Personen suchen (k)eine Sprache

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 26. September 2010. Woody Allens 1997 gedrehter Kinofilm "Deconstructing Harry" erzählt von einem Mann, der von anderen Menschen nur noch "unscharf" wahrgenommen wird. Die Filmkamera macht das Spiel mit. Was bei Woody Allen visuell geschieht, lässt René Pollesch in seinem neuen Stück "Drei Western", das gestern – wie immer in eigener Regie – in der Interimsspielstätte "Werkhalle" des sich gerade im Umbau befindenden Stuttgarter Staatsschauspiels seine Uraufführung erlebte, der Sprache angedeihen: Sie ergießt sich orgiastisch, fließt und sprießt, wie Öl aus der Quelle spritzt, aber der Gedanke mag sich noch so sehr an die Buchstaben klammern: Die Sprache bleibt unscharf – ein Jargon der eigentlichen Uneigentlichkeit, oder umgekehrt.

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Harald Schmidt ist obenauf. © Cecilia Gläsker

"Fünf Personen suchen (k)eine Sprache", könnte das Stück auch heißen. Wie Pollesch-üblich muss die Souffleuse (Laura Tetzlaff) den Schauspielern auf der Bühne sichtbar zur Seite stehen, wenn sich die Protagonisten den Text in einer solch barbarischen Geschwindigkeit um die Ohren hauen, dass fast niemand ohne Aussetzer durchkommt. Der formidable, charismatische Christian Brey schafft's. Harald Schmidt nicht so ganz. Auch Florian von Manteuffel nicht. Ob Silja Bächli und Lily Marie Tschörtner textsicher bleiben, ist in diesem Tempo nicht so recht zu beurteilen: Sie setzen sich von der Stimme der Souffleuse naturgemäß weniger ab als die Männer.

"Wir hören uns nicht"

Ein Sinn lässt sich nicht wirklich herausquetschen aus dieser quecksilbrigen, vagen Masse an Worten: Die beruhigende Kadenz des Descartes'schen "Also bin ich" bleibt die Zunge dem Gehirn bis zum Ende schuldig. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, ohne beides wirklich zu meinen. Vage oder paradoxe Verläufe, schwammiges Wuchern der Vokabeln, zunächst lapidare Assoziationsketten, die plötzlich beiläufig in das Auschwitz-Grauen stolpern: Man verirrt sich in den Worten, bewusstlos, tumb. Es geht ums Theater, um den Rundfunk, aber auch irgendwie um alles, was uns betrifft.

Natürlich meint der Titel "Drei Western" ja Tschechows "Drei Schwestern", hätte da nicht irgendjemand der fünf Protagonisten etwas falsch verstanden: "Wir hören uns nicht, obwohl wir uns hören". Man paddelt im Nonsens, ohne es zu wollen: "Nettigkeit kittet, dass wir überhaupt nichts miteinander zu tun haben!", "Der Kapitalismus kann verstanden werden, wir nicht!" oder "Liebe und Tod ist das, was wir nicht teilen können!"

"Sätze erfinden, damit sie was zu sagen haben"

Die wuchernden Wortkaskaden lassen sich nicht kontrollieren und erst recht nicht steuern. Alles Lüge, oder was? "Die Wahrheit ist das Schlachtfeld. Und nicht die Lügen. Wir müssen gegen die Wahrheit kämpfen. Gegen die Lüge, wahr sein zu müssen. Das müssen wir gar nicht. Wir haben es hier mit einer Verkennung des Kampfplatzes zu tun", heißt es an zentraler Stelle – und dem Zuschauer wird's ganz schwindelig.

Nein, "man hört sich nicht", obwohl man andauernd quasselt. Fünf Personen umrunden sich misstrauisch, laufen kopflos nach unten statt nach oben. Wenn sie nicht quatschen, schleichen sie ängstlich den vagen Kopfandeutungen eines selbsternannten Führers hinterher. Oder verheddern sich im Schlaf in den Gliedmaßen des anderen. Pantomime scheint eindeutiger als die Sprache. Man will "Sätze erfinden, damit sie was zu sagen haben". Unmöglich. "Verstanden hab ich ja schon, ich hab bloß nix gehört." Es geht um eine Rundfunkpantomime namens "Stille Stunde", bis jemand es herausschreit: "Ich kann sie nicht mehr hören, diese Pantomime". Und immer wieder bettelt einer: "Wir müssen konkret werden!"

Hummelflug und Schicksalssinfonie

Von Rollenidentität kann keine Rede sein. Jeder ist jeder oder niemand. "Wenn man seinen Körper will, ist das der Tod!" Wo lassen sich solche Sinn umgehenden Dauerwortkanonaden verorten? Bei Pollesch zwischen Westernsaloon und Kronleuchter, zwischen Barhocker, Klavier und Schaukelstuhl und waldigem Wandgemälde mit Einhorn in der Mitte (Bühne/Kostüme: Anette Hachmann/Elisa Limberg): Eben vage, irgendwo, irgendwie, irgendwann. Auch musikalisch: Die revueartig geschnittenen Szenen werden aufgepeppt durch "White Sandy Beach Of Hawaii", Hummelflug, Schicksalssinfonie oder Lindenstraßen-Schlussemblem. Das ist unterhaltsam, aber warum bloß muss mittlerweile jede Inszenierung belanglos illustrierende Live-Video-Verdopplung erleben?

Seit Hugo von Hofmannsthal zerfallen Worte im Mund "wie modrige Pilze". In unserer Welt des "irgendwie", der zwangsweise mitgehörten Handynichtigkeiten, der unreflektierten Fernsehschwatzereien, der "Wir wollen doch nicht an dem Ast sägen, auf dem unser Wohlstand sitzt"-Phrasen gewisser Politiker fragt man sich: Wird unsere Sprache jemals wieder etwas bedeuten? Bei Pollesch und in den "Drei Western" hat sie sich soweit vom Menschen entfernt, dass dieser verschwindet. Übrig bleibt ein sich selbst beständig regenerierendes Wortmonster. Zum Glück ist nach 70 Minuten Schluss. Der Kopf würde einem sonst zerplatzen von all dem Dauergelabere, und irgendwann würde es auch langweilig werden. Trotz des phänomenalen Ensembles.

 

Drei Western
von René Pollesch
Uraufführung
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Anette Hachmann und Elisa Limberg, Dramaturgie: Frederik Zeugke, Live-Video: Alexander Schmidt.
Mit: Silja Bächli, Christian Brey, Florian von Manteuffel, Harald Schmidt, Lilly Marie Tschörtner.

www.staatstheater.stuttgart.de/schauspiel/

 

Alle auf nachtkritik.de besprochenen Polleschiaden finden Sie im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Eine subversive, fundamentalkritische, die Schauspieler zur Geltung bringende Maschine fürs deutsche Theater - "Diese Maschine ist bereits erfunden. Sie heißt René Pollesch und arbeitet immer besser", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (28.9.2010). Harald Schmidt, "der in Stuttgart immer mehr zum allernormalsten Ensemblemitglied wird", spiele den Pollesch so wie seine vier Mitspieler Silja Bächli, Christian Brey, Florian von Manteuffel und Lilly Marie Tschörtner. "Manchmal meine man, dass die Maschine etwas stottert", das seien die Momente, in denen die besten Kalauer rauskommen, wie etwa etwa jetzt in "Drei Western". Wobei der Theatermensch nicht an John Wayne oder die Winchester denke, sondern an Anton Tschechow und die "Drei Schwestern". Leider habe das Stücke mit diesen Titeln dann nicht mehr viel zu tun. "Später fällt Schnee, unsere fünf Sprecher und Spieler tragen Fellmützen, man sieht eine orthodoxe Kirche und Birken. So viel Russland muss dann doch sein."

Auf diesen Regisseur sei Verlass, schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (28.9.2010). Sein siebtes für Stuttgart geschriebenes Stück unterscheide sich kaum von den anderen, bediene sich wieder der "rasanten Montagetechnik von Videoclips, um von einem Szenen- und Dialogschnipsel wieselflink zum anderen zu springen". Neben Harald Schmidt, dem Mann in Lila, und Silja Bächli, der Frau in Kuhfarben, gehören Lilly Marie Tschörtner, Florian von Manteuffel und Christian Brey abermals dieser durchgeknallten Familie an. "Und Brey, vor allem er, hat Polleschs Theaterverfahren mittlerweile kongenial drauf." Sich von Denkern wie Agamben, Foucault und Marx den Geist durchströmen lassen, den Körper aber dem Klamauk der Marx-Brothers ausliefern, "das muss der ideale Polleschianer, als den man Brey bezeichnen kann, schon können. Ihn bei der Arbeit zu sehen, ist vergnüglich." Sei das aber auch erhellend? "Pollesch ist zu einer Marke im postdramatischen Theater geworden, der mit jeder Inszenierung seinen Markenkern noch weiter schärft. Dazu gehöre auch die systematische Überforderung des Publikums. "'Sie hören nur, was für sie nachvollziehbar ist', sagt da irgendwann noch Lilly Marie Tschörtner zu irgendwem. Stimmt. Nachvollziehbarkeit macht das Zuhören leichter. Vielleicht sollte Pollesch seinen Markenkern doch ein wenig korrigieren."

"René Polleschs neues Stück unterscheidet sich von seinen Vorgängern hauptsächlich durch die Kürze seines Titels", merkt Martin Halter süffisant in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2010) an. Und haut auch sonst feste druff: "Das Beste sind aber doch die Pantomimen: zu Laokoonskulpturen verschlungene Männer, Gruppenbilder mit Pelzmützen und Damen im fahrbaren Kupferkessel, Schlussapplaus-Verbeugungen mitten im Stück. Wenn Pollesch auf sein Theoriegefasel verzichtet hätte, wäre der Abend vielleicht eine stille Sternstunde des postdramatischen Theaters geworden. So war es wieder mal nur eine Verwechslung der Situation mit autistischer Gruppentherapie und höheren Theaterbetriebswitzchen."

 

Kommentare  
Polleschs Drei Western: durchtrieben
dies ist eine durchtriebene kritik, die vom anfang bis zum ende ideologisch aufgeladen ist und nichts anderes will, als polleschs theater einen auf den deckel zu geben.
aus dem dieser kritik geht nicht hervor, dass frau großkreutz interesse daran gehabt hätte, sich inhaltlich mit dem text der inszenierung, der spielweise etc zu beschäftigen. stattdessen steht das urteil schon vorher fest: dieses theater wiederholt sich ständig nur und erzeugt dadurch redundanzen – was hanebüchener unfug ist.
übrig bleibt mir als leser einzig der eindruck, dass ein verstärktes interesse daran besteht, mit dieser kritik dem autor/regisseur eins überzubraten und eigentlich hätte man es sich auch sparen können, die vorstellung zu sehen, denn diese tendenziösität stand schon vorher fest.

das ist hässlich und soll meinetwegen in irgendeinem blog stattfinden, hat aber nichts mit kritischer journalistischer berichterstattung zu tun. bitte aufhören.
Polleschs Drei Western: Was ist kritische Berichterstattung?
Und das, kleinkreuz, wollen Sie verbieten? Polleschs Theater einen auf den Deckel zu geben? Oder wie ist Ihre Einlassung hier zu verstehen? Nur Affirmatives lassen Sie gelten, wenn es Pollesch betrifft? Ist es das, Sie unter kritischer journalististischer Berichterstattung verstehen? Bitte erklären Sie sich...
Polleschs Drei Western: Sehnsucht nach Indianerromantik
Entschuldigung, aber das ist für mich bei bestem Willen keine Theaterkritik, sondern klingt nach sentimentaler bürgerlicher Angst vor Geschwindigkeit und Realität. "Wird unsere Sprache jemals wieder etwas bedeuten?" - was ist denn das für ein Paradigma. "Was bedeutet der denn, dieser Körper hier, und wie bedeutet der nichts?"- ist die Frage, die Polleschs Schreib- und Inszenierungsgeschwindigkeit seit Jahren elektrifiziert, und damit Bühnen schafft, die Werkstatt und Werkschau unserer modernen theatralen Realität sind. Das kann man kritisieren, attakieren, weiterdenken, umdenken, aber wenigstens müsste man sich dafür auf den Rhythmus von Polleschs (Denk-)Figuritäten einlassen, um da greifen und auch angreifen zu können. Die Rückbesinnung auf die Ruhe einer bedeutsamen Sprache außerhalb des Körpers ist Indianerromantik, Dampfeisenbahn.
Polleschs Drei Western: Sauerstoff-Einfuhr
Ich finde es toll, wenn immer wieder neue Rezensenten sich mit Polleschs Werken auseinandersetzen und durchaus auch ein wenig das Gefühl der Erstbegegnung mitvermitteln. Wieso müssen eigentlich immer die hinlänglich Eingeweihten ran, um "den Rhythmus von Polleschs (Denk-)Figuren" nachzuvollziehen? Der fremde Zugriff bringt Sauerstoff ins Zelt, Freunde. Dass sich hier offenkundige Pollesch-Verfechter darin überbieten, Gegenstimmen zu "neutralisieren", betrübt mich.
Polleschs Drei Western: Erstbegegnung nicht offen reflektiert
@4 Bin eigentlich ihrer Meinung, bin auch gar nicht unbedingt Pollesch-Fan, es ging mir um den Text-Stil und den Ort, wo er erscheint. "Nachtkritik" ist ja kein offener Blog, sondern ein Zusammenschluss von anspruchsvollen Theaterkritikern. Vorsicht: Anspruch ist auch sehr relativ. Aber ich, der nicht in Stuttgart war, habe einfach ein Interesse zu wissen, was auf der Bühne bei dieser Premiere passiert ist, gern auch aus subjektiver Perspektive. Nach dieser Kritik weiß ich (vielleicht auch ich subjektiv)gar nichts über die Premiere, ich habe nur über das Stuttgarter intelektuelle Bürgertum und die Ressentiments zu Stuttgart 21 nachgedacht.
Das "Gefühl einer Erstbegegnung" kann man gerne mitreflektieren, auch (bitte gerade) als Profi. Das ist aber hier nicht offen passiert. Ich lese aber Nachtkritik, weil ich ein Niveau, eine Erfahrung, und eine Werkzeugbandbreite der Beobachtungs- und Sprachkriterien für Theater und theatrale Prozesse schätze. Die Kritiker von Nachtkritik werden ja auch für ihre Arbeit bezahlt. Wenn sich Kritik-, Leserkritik und Kommentarebene vermengen, wird das Portal einfach uninteressanter.
Polleschs Drei Western: Orte spielen keine Rolle
@rapid h.: ob sie einen big mäc in stuttgart, freiburg oder peking essen, es macht keinen unterschied.
Drei Western in Stuttgart: ein unverschämter Salat!
das stück ist eine pausenlose zumutung für den zuschauer und wie man als zahlender kunde am ende noch die willenskraft aufbringen kann seine handinnenflächen auch nur ein einzige mal zusammenzuschlagen, um diesen betrügern tribut zu zollen, bleibt mir auf ewig ein rätsel.
gegen solche leute wie pollesch müsste man strafrechtlich vorgehen, denn mein geld kann ich auch die toilette herunterspülen.
dieser salat ist eine unverschämtheit und dreistigkeit, die seines gleichen vergeblich sucht!!!
Pollesch in Stuttgart: er verbrennt sich
Der Kerl verbrennt sich, ob in Stuttgart oder nun in Frankfurt oder sonstwo, in 20 Jahren kräht kein Hahn mehr danach. Bei aller Großoffensive ist und bleibt es zu kleinspurig, leider. Oder: vielleicht auch gut so.
Pollesch in Stuttgart: selber ideologisch und zwar heftigst
och das ist ja süss jetzt weint ihr und schreit aufhören,findets hässlich wenn mal jemand sagt das es redundiert.
das tuts doch.und schon ziemlich lang.an nahezu jedem haus in deutschland.
und ausserdem:selber ideologisch und zwar heftigst.
möge sich der diskurskrampf langsam legen-in gottes namen.
Pollesch in Stuttgart: wonach krähen die Hähne in 20 Jahren?
Verehrter Stoiker, wer kräht noch nach dem Living Theatre oder nach Tadeusz Kantor, und doch gehörten sie zum Aufregendsten im Theater ihrer Zeit. Wonach werden die Hähne nach Ihrer Prognose in 20 Jahren krähen? Bitte um eine Festlegung. Wir melden uns dann. Und bitte, danke, welches Theater wäre ideologiefrei? Sie haben ja einen eigenen Kopf, um sich zur Ideologie auf der Bühne zu positionieren. Schließlich: sind Fußball, Western und Commedia dell'arte nicht "redundant"? Wer ihre Spielregeln kennt, erfreut sich an den kleinen Unterschieden. Gönnen Sie uns doch dieses Vergnügen, wo jedes Jahr neue nicht redundante Schuhe, Kleider und Getränke auf den Markt kommen.
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