Till Eulenspiegels Erbe

von Esther Boldt

29. September 2010. Einen "provokativen Zweifler" und "unterhaltsamen Intellektuellen" nannte ihn die taz, die New York Times betrauerte ihn als "Filmemacher, Theaterregisseur und politischen Störenfried". Matthias Lilienthal, der Christoph Schlingensief einst an die Volksbühne holte, sagte dem ZDF nach seinem Tod, Schlingensief sei "der einzige Mensch aus dem deutschen Theater, mit dem man nicht unerkannt auf die Straße gehen konnte." Seine Ästhetik des "gesellschaftlichen Denkens in einem Gesamtkunstwerk", werde niemand weiterführen. Zeit seines Lebens war Schlingensief eine umstrittene Figur, deren Sein und Wirken sich Festlegungen und Definitionen entzog und der Boulevardblätter ebenso in Aufregung versetzte wie linke Popmagazine.

Annäherungen an seine künstlerische Arbeit, die im Rückbezug auf die ästhetischen Avantgarden Kunst und Leben mutwillig verschmolz und stets vielgestaltig zwischen Ästhetik und Politik, Kindergeburtstag und Alp schillerte, unternimmt nun ein neues Buch. "Christoph Schlingensief. Art Without Borders", kurz vor seinem Tod erschienen, ist die erste englischsprachige Monographie über diesen deutschen Verausgabungskünstler. Herausgegeben haben sie die Kulturwissenschaftlerin Tara Forrest und die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Anna Teresa Scheer. Sie verstehen ihr Buch als Grundlagenarbeit, es soll eine Einführung in Christoph Schlingensiefs Werk geben und seine Schlüsselthemen abbilden.

Vom Trash-Filmemacher zum Bayreuth-Regisseur

Aus dem bescheiden klingenden Unternehmen ist ein schöner und reicher Band geworden, der unfreiwillig und vor der Zeit zur Nachschrift wird – und wie nebenbei beweist, dass Schlingensiefs Projekte, so sehr sie sich an der deutschen Geschichte abarbeiteten, über Ländergrenzen hinweg relevant sind. Wie der Titel verspricht, werden auch Schlingensiefs Werk und Wirken gattungs- und grenzübergreifend abgebildet in Analysen seiner bekanntesten Arbeiten aus über 25 Jahren: Frühe, wilde Filme wie "Tunguska – die Kisten sind da" und die "Deutschlandtrilogie", Aktionen wie "Chance 2000" und TV-Shows wie "Freakstars 3000", aber auch seine jüngsten Produktionen auf der Schwelle von Theater und Oper.

Chronologisch zeichnen die Beiträge die ungewöhnliche Karriere des Apothekersohns nach, wie der Dramaturg und Autor Florian Malzacher sie in seinem Text über die letzten Theaterstücke beschreibt: Das Enfant terrible als Trash-Filmemacher, Skandalperformer und TV-Provokateur kommt schließlich im Herzen der bürgerlichen Hochkultur an, auf dem Grünen Hügel von Bayreuth, wo Schlingensief 2004 "Parsifal" inszeniert. Und sich, so die Interpretation des Künstlers selbst, bei Wagner den Krebs holt. Abgeschlossen wird der Band von einem Interview mit dem Künstler selbst.

Springlebendiger Widerstand gegen das Sterben

Die Autorschaft ist international, Film- und Theaterwissenschaftler, Dramaturgen und Kuratoren entwerfen durchweg interessante Perspektiven. Es entsteht ein vielfältiges Portrait des Künstlers und seiner drängenden, kompromisslosen, begeisterten und bisweilen auch verzweifelten Suche mit den Mitteln von Kunst, Politik und Eulenspiegelei. So schlägt es zumindest Alexander Kluge in seinem ebenso knappen wie schönen Vorwort vor: Schon immer sei das Thema Tod in Schlingensiefs Arbeiten zentral gewesen, schreibt Kluge, nicht erst seit seiner Krebserkrankung. In den 29 gemeinsam produzierten Filmen und Fernsehformaten sei es stets darum gegangen, dass "wir mitten im Leben vom Tod umgeben" seien – und springlebendig Widerstand gegen das Sterben übten.

Denn Schlingensief begegne ihm nicht mit Pathos, sondern mit Groteske und Dada. Nach Kluges zugeneigt-pointierter Einschätzung steht er nicht nur in die Tradition eines Joseph Beuys, sondern auch eines Till Eulenspiegel. Er habe sein eigenes neues Medium kreiert, in dessen Zentrum konservative Werte und Wünsche stünden, das keine Grenzen zwischen den Genres kenne, Musik zum essentiellen dramaturgischen Mittel mache, auf Kooperation setze und dabei stets das Risiko suche, indem es sich auf des Messers Schneide platziere.

Ermutigung zum selbstständigen Denken

Die vielschichtigen Analysen in "Art Without Borders" kommen darin überein, Schlingensiefs Projekte auf der Schwelle von Ästhetik und Politik zu positionieren und gerade in ihrer strukturellen Offenheit die Möglichkeiten zur Partizipation aufzuzeigen. Seine Arbeiten seien stets hoch politisch, befinden Tara Forrest und Anna Teresa Scheer. In bester Eulenspiegelei hat er dabei weniger eine bestimmte politische oder pädagogische Agenda vertreten als vielmehr strukturell offene und fluide Werke geschaffen, die das Publikum ermutigten, selbst kritisch und selbstständig zu denken. Wie beispielsweise bei "Chance 2000 – Wähle Dich selbst" (1998/99), das die dänischen Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Solveig Gade untersucht. Darin habe Schlingensief nicht nur marginalisierten Minderheiten wie Arbeitslosen sowie geistig und körperlich Behinderten zu Sichtbarkeit verholfen, indem er jedem die Möglichkeit gab, sein eigener Repräsentant zu sein.

"Chance 2000" sei sogar ein ästhetisches Laboratorium gewesen, ein Stück Utopie, das als gemeinsames Imaginieren von Politik fungierte und temporär eine kritische Öffentlichkeit schuf. Um Sichtbarkeit ging es auch in der "Trilogie der Angst und Hoffnung", wie Malzacher sie beschreibt – in den Stücken Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa: eine ReadyMadeOper zeigte Schlingensief mit Beuys und Bibel seine Wunde, auf dass er geheilt werde. Auch hierbei waren ihm Techniken der Distanznahme wie Ironie und Zynismus fremd, auch hier setze Schlingensief den theatralen Pakt des Als-ob aus und erzeugte zu nahe, zu verletzliche, zu aufrichtige Szenen für die Zumutungen Krankheit und Sterben.

Gründlich spüren die Beiträge die ästhetischen und politischen Implikationen von Schlingensiefs disparaten Arbeiten auf, ohne dass ein homogenes Gesamtbild entstünde. Ob seine Arbeiten nun Politik betreiben oder künstlerischer Schabernack waren, diese Frage bleibt unbeantwortet. Aber natürlich ist es genau diese stete Uneindeutigkeit, die Schlingensiefs Arbeiten so produktiv-streitbar macht.

Christoph Schlingensief. Art Without Borders
Edited by Tara Forrest and Anna Teresa Scheer. Bristol/UK, Chicago/USA. intellect 2010.
176 Seiten. 26,00 Euro.

 

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