Wie die Gewalt langsam herankriecht

von Klaus M. Schmidt

Essen, 1. Oktober 2010. Vor seiner ersten Spielzeit wurde Essens neuer Schauspielintendant Christian Tombeil mit viel Häme überzogen. Man lese es an anderer Stelle nach. Bei der Bekanntgabe seines Spielplans hätte man allerdings auch einmal feststellen können, dass dieser mit vielen Erst- und Uraufführungen zumindest mutig aussieht. Als deutschsprachige Erstaufführung wird in Essen jetzt am kleinen Haus ein Stück des Briten Dennis Kelly gezeigt. Kelly war beim diesjährigen Berliner Theatertreffen mit Liebe und Geld vertreten und im Jahr zuvor zum "ausländischen Dramatiker des Jahres" gekürt worden.

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© Christoph Sebastian

Der Zweck, der die Mittel heiligt
"Osama der Held" wurde 2005 in London uraufgeführt. Es spürt der Verunsicherung nach, die der 11. September 2001 in den westlichen Gesellschaften hinterlassen hat. Gary (17) ist auf der Suche nach Orientierung und findet einen falschen Helden – Osama bin Laden. Über den verfasst er für die Schule ein Referat. Die Geschwister Francis (Ende 20) und Louise (Mitte 20) kommen nicht raus aus der Enge ihres Lebens, und Francis findet, dass man Perverse nicht so einfach rumlaufen lassen kann. Mandy (16) lässt Mark (50) an sich rumfingern, zusammen träumen sie von einem Promi-Leben. Alle wohnen in einem Viertel, in dem Mülltonnen in die Luft gejagt und Garagen abgefackelt werden. Soweit der erste Akt.

Dann explodiert Marks Garage, Ort seiner Treffen mit Mandy. Marks Frau wird dabei schwer verletzt. Francis und Louise wissen sofort, wer den Sprengsatz gelegt hat. Das kann doch nur Osama-Verehrer Gary gewesen sein. Sie verschleppen ihn in die Ruine. Schließlich ist es Mark – "drohen wir ihm" –, der den Unschuldigen mit einem Hammer erschlägt. Das ist der zweite Akt. Mark kocht für seine wieder genesene Frau. Louise findet in Internet und TV eine Übereinstimmung, die sie nicht vermutet hätte: Muslimische Terroristen, die eine Geisel köpfen, und amerikanische Soldaten im Irak begründen ihr Handeln mit der gleichen Maxime: Der Zweck heiligt die Mittel. Francis wird unfreiwillig zum Nothelfer für ein Gewaltopfer. Mandy will am liebsten raus aus der Zivilisation, hat dann aber über die doch noch was zu sagen. Das ist Akt drei.

Im Sog der Angst
Kellys Text ist dicht gearbeitet. In ersten Akt wird ein Monolog von Gary mit Dialogen von Louise und Francis sowie Mandy und Mark nahtlos ineinander montiert. Akt zwei liest sich als realistische Szene. Garys Folterknechte stacheln sich hier gegenseitig an, ohne dass sie selbst zu begreifen scheinen, was sie da tun. Edward Bonds Steinigung aus "Gerettet" lässt grüßen. Im dritten Akt halten die Täter Monologe, in denen die Tat mehr oder weniger implizit nachhallt, ohne dass Gary noch ein einziges Mal erwähnt wird.

Die Bühne besteht aus weißen Stangen, die so zufällig zusammen montiert scheinen, als hätte ein Sturm ein Baugerüst durcheinandergewirbelt. In der Videoprojektion auf der Rückwand verlängert sich der Stangenwald in ein Labyrinth. Die Schauspieler tragen Alltagskleidung, nur Mark ist im ersten Akt als Vorstadtdandy mit Sonnenbrille und Perücke ausstaffiert. Man könnte das Stück quasi vom Blatt spielen lassen. Jede Dreingabe würde den Sog des Textes nur verlangsamen, doch diese Inszenierung vertraut Text und Autor.

Und so gelingt Regisseur Alexander May mit Kelly trotz großer Brutalität der Handlung paradoxerweise eine ansehenswert subtile Annäherung an diese von Angst zerfressenen Seelen, die die Verteidigung der Freiheit am Hindukusch und anderswo an der 'Heimatfront' produziert. Dass Laura Kiehnes Mandy nicht nur ein Girlie ist, sondern auch noch einen Lolly lutschen muss – geschenkt.

Unvermittelte Härte
Sebastian Tessenow muss als Gary seine Hände schon mal in die Hosentaschen zwingen, damit die Arme nicht andauernd seine Rede begleiten. Der steht unter Druck und hat doch den genauesten Blick auf die hoffungslose Realität seiner Mitmenschen am unteren Rand der Mittelschicht. Dass er bin Laden zum Helden stilisiert, ist auch die Provokation eines Unverstandenen.

Stefan Diekmanns Francis sieht die Gewalt auf sein Haus zukriechen und sich hilflos: "Die Polizei tut nichts." Gary als Terroristen festzusetzen ist befreiend, endlich einmal hat er das Heft in der Hand. Aber dann ist es Louise, die Bettina Schmidt mit unvermittelter Härte auszustatten weiß, die den ersten Hammerschlag gegen Gary führt. Mark ist mit Abstand die älteste Figur. Holger Kunkel gibt ihn als den größten Popanz in dieser Riege der Verlorenen, ohne das zu überzeichnen. Lächerlich ist er in seiner sexuellen Hörigkeit zu Mandy.

Dass es der potentiell reifste Charakter ist, der Gary dann die tödlichen Schläge beibringt, gehört zur unerbittlichen Logik dieses Stücks. "Ich dachte immer, irgendwo gäbe es Erwachsene. Jemand, (...) der weiß, was das Beste ist. (...) Jetzt weiß ich, dass es keine Erwachsenen gibt. Nur uns", lautet Mandys redundantes Fazit.

 

Osama der Held (DEA)
von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke Regie: Alexander May, Bühne: Alexander May, Kristin Weißenberger, Kostüme: Kristin Weißenberger, Dramaturgie: Vera Ring.
Mit: Stefan Diekmann, Laura Kiehne, Holger Kunkel, Bettina Schmidt, Sebastian Tessenow.

www.schauspiel-essen.de

 

Alles zu Dennis Kelly auf nachkritik.de im Lexikon. Der Regisseur Alexander May, 1970 in Trier geboren, arbeitete zuletzt erfolgreich am Staatstheater Nürnberg, wo er unter anderem 2009 Esther Vilars Stück Speer inszenierte.

 

Kritikenrundschau

Die DEA von Dennis Kellys "Osama der Held" klingt für Andreas Rossmann von der Frankfurter Allgemeinen (4.10.2010) "zumindest im Titel mutig". Das Verbrechen schäle sich bei Kelly erst allmählich heraus, ebenso wie die Beziehungen der Figuren lange nicht klar seien. "Verdacht und Vorurteil setzen eine spannende Studie über die Wirkungsmechanismen von Angst und Aggression, Trauma und Opfer-Täter-Umkehr in Gang." Das Bühnenbild von Alexander May und Kristin Weißenberger entziehe das Stück dem Naturalismus: "Die Schauspieler sitzen, stehen und hangeln in einem Wald aus weißen Metallstangen vor einer Videowand, auf der Strichmännchen laufen." Doch halte sich die Inszenierung "eng an den Text: Die Gewaltszene wird blutig angespielt, ihre Steigerung in die Abstraktion gelenkt." Die angehängten Monologe allerdings wirkten redundant und überlasteten das kleine Stück, "die Aufführung verliert an Dichte und Dringlichkeit, Kellys Hang zur Schlagzeile wird überdeutlich".

Durchweg dicht und packend findet hingegen Claus Clemens von der Rheinischen Post (4.10.2010) den Abend, der "gedanklich deformierte Loser-Figuren" präsentiere. Mit diesem Stück "aus der fast immer wutentbrannten jungen englischen Dramatik" verarbeite Kellys "seine Empörung über den Irakkrieg zu disparaten Textblöcken und brutalen Gewaltszenen".

 

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