Zerfressene Seele, zerfressene Welt

von Jürgen Otten

Berlin, 3. Oktober 2010. Ein flüchtiger, beidseitig beschriebener Zettel nur ist es, eingelegt in das üppige Programmbuch, der die enorme Bedeutungsschwere dieses Abends bekundet. Formal handelt es sich um einen Brief. Gerichtet ist er an das "sehr verehrte Publikum", unterschrieben haben ihn all jene, die als künstlerisches Produktionsteam figurieren: Dirigent Daniel Barenboim, die Gesangssolisten Graham Clark, Annette Dasch, Anna Prohaska, Daniel Schmutzhard, Alfred Reiter, der Schauspieler Martin Wuttke sowie Voxi Bärenklau, Reinhold Braig, Meika Dresenkamp, Thomas Goerge, Joachim Haas, Anna-Sophia Mahler, Heta Multanen, Olaf Freese, Reinhold Braig, Eberhard Friedrich, Katharina Winkler, Carl Hegemann und Aino Laberenz. Ihr gemeinsam verfasstes Schreiben gleicht einer Vorabbitte um Verständnis für ein eventuelles Scheitern: Niemand sei imstande, die Uraufführung der Oper "METANOIA – über das denken hinaus" von Jens Joneleit so existenziell zu inszenieren wie Christoph Schlingensief.

© Monika Rittershaus© Monika Rittershaus

Schlingensief, der am 21. August dieses Jahres, zwei Tage vor Probenbeginn, gestorben ist, hinterließ "keinerlei Gebrauchsanleitung". Will sagen: Er hinterließ ein Vakuum. Immerhin kannte man den dramaturgisch-psychologisch-philosophischen Konzeptrahmen. Da war zunächst, zentral, Schlingensiefs Idee, Nietzsches Traktat "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" von René Pollesch bearbeiten zu lassen. Und: Die Oper würde in einer Landschaft aus überlebensgroß nachgebauten menschlichen Organen verortet sein, und auch die Sänger sollten "Körperteile, Organe, Zellen, Parasiten, Eindringlinge" sein, die "in diesem Körper ein Eigenleben führen". Dieser Körper, das war in erster Linie Schlingensiefs zerfressener Körper selbst (der in diesem Zerfressensein zugleich den winzigen Vorzug hatte, nicht allein vom Bewusstsein regiert zu werden). Aber auch die zerfressene Welt, die zerfressene Seele, der zerfressene Geist. Kurz, mit Hegel, die "schlechte Unendlichkeit".

Metastasierende Zellen

Ein gewaltig ausgreifender Topos. Der, das darf man vermuten, das regieführende Team übermannt und ebenso sehr überfordert hat. Um sich dieses Wissens zu entledigen, gelangte das mächtige Häuflein zu dem Ergebnis, den Prozess der Destruktion und Diffusion in eine Art ästhetisch-normatives Ideal umzumünzen: Jedes Organ macht, was es will, das hieß nun eben auch: Jeder Künstler, der hier mitwirkt, macht, was er will – er ist gleichsam zur Freiheit verpflichtet. Denn, so steht es als kausale Wendung im Text von Pollesch, "das ist Evolution".

Die gleichermaßen effektvoll aufgeladene wie eklektische Musik Joneleits bildet das, unbewusst oder nicht, ab, entspringt sie doch mehreren winzigen Zellen, die sich im Verlauf der knapp siebzig Minuten höchst expressiv, nicht selten expressionistisch überschäumend und häufig in glissandierenden Schüben ausdehnen. Metastasierende Zellen sind das, die mal implodieren, in sich zusammenfallen, und die mal (gerne im vierfachen forte plus sforzato) explodieren, die aber in jedem Fall das Extrem suchen, den harschen Kontrast: Ekstase verwandelt sich innerhalb dieses nervös flimmernden Gewebes augenblicklich in Kontemplation, Lärm in Stille. Eruption sucht die Kontraktion, akkordische (bruitistisch getünchte) Massierung den singulären Ton, das Wesentliche das Unwesentliche.

Mäanderndes Konglomerat

Kohärent zu dieser dialektischen Anordnung verhält sich der Text (Libretto wäre gewiss die falsche Bezeichnung für dieses assoziative Monstrum), der narrative Strukturen vermeidet wie der Teufel das Weihwasser, dem Titel der Oper jede Ehre erweist und von den fünf Gesangssolisten vorgetragen wird wie ein lyrisch-lakonisches Referat: ein mäanderndes, aberwitziges, theorielastiges Konglomerat ist dieser Text, begriffliche Kristallisation aus den Ideenwelten Nietzsches (apollinischer Lichttraum versus dionysischen Rausch), Schopenhauers (principium individuationis), Descartes', Darwins, Polleschs - und Schlingensiefs. Als purer Diskurs, durch den die Monadologie Leibnizens immer wieder zart hindurch schimmert, trägt dieser Text das Gepräge des Gigantomanen, zuweilen Genialischen. Auf der Bühne aber verpufft seine Essenz, wird pulverisiert, zersetzt, ja: ausgelöscht.

Diese Bühne, sie ist ein bis kurz vor Schluss im Halbdunkel liegendes Laboratorium, das anmutet wie eine verschleierte, ungefähre Welt: vage, schemenhaft. Auf zwei Leinwänden laufen Schwarz-Weiß-Filme von Christoph Schlingensief, von denen man nur erahnen kann, dass sie in irgendeinem Zusammenhang mit der Oper stehen könnten (nicht aber konkret, in welchem). Davor türmen sich übergroße Organe aus Pappmaché: Luftröhre, Niere, der "legendäre" Lungenflügel. Vorne, kurz vor der Rampe, ein zentimeterhohes Podest, auf dem der Chor postiert ist, in Ganzkörperanzüge gezwängt, die Nacktheit insinuieren. Aber was soll uns dieser Chor, wenn er zwar singt, aber nicht agiert, sondern nur posiert?

Ein Requiem für Schlingensief?

Zugegeben, der Abend will das nicht: erzählen; eine Sentenz, die wiederholt wird, formuliert diesen Anspruch: "Das Erste, was an uns arbeitet, sind die Lebensbedingungen, ist die Infektion, und dann können wir uns vielleicht Geschichten erzählen". Also erzählen wir eben keine Geschichten, außer der, dass der Tod das Widerwärtigste im Leben ist, und noch widerwärtiger der Tod, der vor einem steht und einen fies angrinst mit vierundzwanzig leeren Quinten. Aber was will "Metanoia" dann? Uns verwirren? Verstören? Unsere philosophische Standhaftigkeit prüfen? Die Welt vorm Menschen retten und/oder den Menschen vor der Welt? Oder wurde hier insgeheim doch ein Requiem für Christoph Schlingensief abgehalten?

Vermutlich wissen die an Zahl reichen Urheber all das selbst nicht ganz genau. Und deswegen tritt aus dem Schatten wieder einmal Kafka hervor: Im Theater gewesen. Nicht geweint.

 

METANOIA – über das denken hinaus
Oper von Jens Joneleit
Uraufführung
Text: René Pollesch, musikalische Leitung: Daniel Barenboim.
Eingerichtet vom künstlerischen Team der Produktion und dem Ensemble: Voxi Bärenklau, Daniel Barenboim, Reinhold Braig, Graham Clark, Annette Dasch, Meika Dresenkamp, Olaf Freese, Eberhard Friedrich, Thomas Goerge, Joachim Haas, Carl Hegemann, Gregorio Karman, Aino Laberenz, Anna-Sophie Mahler, Heta Multanen, Anna Prohaska, Alfred Reiter, Daniel Schmutzhard, Katharina Winkler, Martin Wuttke.

www.staatsoper-berlin.de

 

Mehr zu Christoph Schlingensief finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Ärgern wir uns nicht", ruft Manuel Brug (Die Welt, 5.10.2010), "legen wir den sanft aufschlagenden Misserfolg (...) einfach als Betriebsunfall ab. Alle wollten nur das Beste, naturgemäß, aber es hat eben nicht funktioniert." Diese Inszenierung sei ein "Opernsoufflé: Kaum waren die ersten ouvertürenartig sich aufplusternden Takte verklungen und der Vorhang offen, sackte der Auflauf leise aber unaufhaltsam in sich zusammen." Der Abend biete "philosophisches Geschwurbel und Berlin-Mitte-Sprech, in Neue Musik gegossen. Natürlich fehlten jetzt Schlingensief geordneter Deutungswahnsinn, sein heiliger Ernst und seine kindliche Zerstörungswut. Er hätte zumindest die Zutaten noch gehörig durcheinandergewirbelt, verstümmelt vielleicht, weniger konsumierfreundlich aufbereitet." Stattdessen standen "die Bruchstücke seiner Konzeption feinsäuberlich herum – als Ergebnis einer ehrenhaft vorsichtigen, für ein pralles Theatererlebnis zu pietätvollen Kollektivbemühung um das wenige bereits Erarbeitete." Und "keiner schien hier wirklich zu wissen, was er tat, aber jeder vollführte es aus Überzeugung".

"Die Aufführung ist auf weite Strecken eher Oratorium als Musiktheater. Sie wirkt, als warte sie noch auf die Auferstehung des Regisseurs", schreibt Peter Uehling (Berliner Zeitung, 5.10.2010). Es sei "ein altehrwürdiges Verfahren, Opern etwa an Sängern auszurichten, ihnen Arien zu schreiben, die exakt an ihrem Stimmumfang ausgerichtet sind. Eine Oper jedoch, die für einen Regisseur entsteht, ist ein Wagnis, zumal in einer Kultur, die dem Regisseur Allgewalt über die künstlerische Erscheinung einräumt". Und ist "Metanoia" überhaupt "ein Werk oder lediglich eine Vorlage?" Polleschs Text räume dem Komponisten "weitgehende Freiheit der Formung einräumt. Joneleit zieht seine Musik jedoch aus einer tauglichen Vermittlung des Textes zurück. Seine Tonsprache bedient sich in einem spätromantisch-expressionistischen Idiom, der entsprechend angespannte Gesang vermag jedoch den von Pollesch angehäuften Diskurs-Schrott bemerkenswert schlecht zu vermitteln". Der Abend sei "von einer peinlichen Großmäuligkeit und gerade hier fehlt die Hand Schlingensiefs, der Peinlichkeit nicht kannte, um das Großmäulige in den authentischen Ausdruck zu verwandeln".

"Es ist jede Menge Wagner, Richard Strauss und Alban Berg in Joneleits Musik, von der Orchesterbesetzung über die Behandlung der Stimmen bis zum dramaturgisch-tableauhaften Zuschnitt", meint Christine Lemke-Matwey (Der Tagesspiegel, 5.10.2010). "Sehr viel mehr aber als eine in den besten Momenten verschmitzte Blütenlese aus dem, was das Musiktheater des 21. Jahrhunderts zu bieten hat, wenn es sich denn klanglich als konservativ begreift, ist hier nicht zu haben." Diese Oper töne, "wie neue Opern gerne tönen: freundlich, fast kumpelhaft – und selten wirklich griffig oder angriffig." Und ohne Schlingensief "scheint es nahezu unmöglich zu sein, die Wirklichkeit von „Metanoia“ zu bestimmen: Um was geht es hier? Was möchte René Pollesch in und mit seiner Überschreibung von Nietzsches „Geburt der Tragödie“ sagen (...)? Und: Brauchen schwadronierend ausufernde Texte wie dieser überhaupt eine Musik?" Zu verstehen sei "so viel wie gar nichts". Und "wenn man schon nichts versteht, dann möchte man sich doch wenigstens sinnlich, kulinarisch, dionysisch vergnügen!"

"Das Ensemble (...) bringt es mangels szenischer Phantasie gerade einmal zu konzertanten Momenten", konstatiert Reinhard J. Brembeck (Süddeutsche Zeitung, 5.10.2010): "Wie auch immer Schlingensief-Abende das Chaotische mit dem Alltäglichen, Politischen und Theatralischen würzten, sie haben sich doch nie durch solch einen Mangel an Phantasie wie Wagemut hervorgetan." Es sei eine "Totgeburt", "denn alles an diesem Siebzigminutenabend widerspricht dem von Schlingensief initiierten Arbeitsprinzip, das durch wiederholte Übermalung bis ins Wesen des Theaters vordringen wollte". Das werde "überdeutlich in Joneleits schmissig sich verströmender Partitur, die Dirigent Barenboim wie eine verspätete Wagner-Oper opulent ausbreitet". Im Endeffekt klinge "hier nur die mittlerweile allzu leichtgängige und in die Jahre gekommene Moderne auf. Ihr haftet jener unverbrüchliche Werkcharakter an, der sich hörbar wider den unabschließbaren Arbeitsprozess dieses Projekts richtet. Zudem scheint diese Musik in keinem Moment den Wortsinn in sich aufzuheben."

Dass dieser "Abend so stumpf und so fad werden würde, damit hatte wirklich niemand gerechnet. Der Schock sitzt tief", meldet Eleonore Büning (FAZ, 5.10.2010). An dem Komponisten könne es nicht liegen. Verschiedentlich habe er bewiesen, "wie gut er sein Handwerk beherrscht", Joneleits Handschrift ist "farbig, tiefspurig, phantasievoll, öfters vom Klangereignis ausgehend als von Konzepten und kundig eingebunden in die klassisch-romantische Musiksprache". An diesem Abend werde "gepredigt, doziert, diskutiert und bekehrt (...). Eine Podiumsdiskussion mit Orchestergeräuschen". Aber "vielleicht war ja gerade das Bierernste dieses hybriden Bühnenprodukts schuld daran, dass es so schnell so schal wurde. Schlingensief, lebte er noch, hätte gewiss die Dialektik der Leichtigkeit nicht vergessen".

Der Abend bleibe "statuarisch", „mehr szenisches Oratorium denn Musiktheater", so macht auch Georg-Friedrich Kühn in der Neuen Züricher Zeitung (6.10.2010) ein inszenatorisches Defizit in "METANOIA" aus. Joneleits Musik erhält Lob: Sie sei "impulsiv, expressiv, er weiss für grosses Orchester zu schreiben, mischt geschickt Live- und elektronische Klänge." Die Schwäche des Werks stelle hingegen das Libretto dar, das sich Joneleit nach Texten von René Pollesch eingerichtet hat (der wiederum Nietzsche übermalte): "Ein bissel viel 'nach'", so der Kritiker über die dramaturgische Verwertungskette.

"Eine sehr hörenswerte, einfallsreiche, mal effektvoll theatralisch auftretende, oft aber auch lyrisch zurückgenommene, innehaltende Komposition, die sich überaus sicher und selbstbewusst der Mittel der Moderne, unter Einschluss der Elektronik, bedient." Als solche würdigt Niklaus Hablützel in der Tageszeitung (6.10.2010) Joneleits Musik. Jedoch "läuft sich diese Musik an einem Text von René Pollesch tot, der sich verzweifelt bemüht, Nietzsches naive Jugendphilosophie des 'Apollinischen' und 'Dionysischen' mit Alltagsphrasen aufzumöbeln." Mehr Wertschätzung erfährt das Ensemble für sein schriftliches Bekenntnis zu den inszenatorischen Lücken. Dies sei "glaubwürdig und verdient Respekt, denn gerade dieses offen zur Schau gestellte Misslingen ist womöglich das schönste Requiem für einen Künstler, dessen Werk nie von seiner (körperlichen) Person zu trennen war."

 

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