Ulrich, Nina und die anderen

von Wolfgang Behrens

Berlin, 15. Oktober 2010. Ein Blick ins Programmheft belehrt einen schon vor Beginn: Das Russland Maxim Gorkis findet hier heute nicht statt. Alles, was an die vorrevolutionäre russische Gesellschaft gemahnen könnte, ist sorgfältig aus dem Rollenverzeichnis gestrichen: der aufwieglerische Pöbel, die Kinderfrau, die Dienstboten, der betrunkene Anarchist, der neureiche Kapitalist - sie dürfen nicht mitspielen. Und auch auf der Bühne köchelt nicht, wie sonst so oft in Inszenierungen der russischen Klassiker, pars pro toto ein Samowar vor sich hin. Übrig bleiben nur: die Kinder der Sonne, von denen der Abend seinen Titel bezieht.

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Katharina Schüttler, Nina Hoss © Arno Declair

Sie heißen Pawel, Jelena, Dmitrij oder Melanija, in der Neuinszenierung des Deutschen Theaters freilich könnten sie auch Ulrich, Nina, Sven oder Katrin heißen. Denn der Regisseur Stephan Kimmig hat das Milieu der russischen Intelligenz, das bei Gorki in betriebsam geschwätziger Untätigkeit die sich abzeichnenden sozialen Verwerfungen komplett verschläft, nach Berlin-Mitte (oder Prenzlauer Berg oder Friedrichshain oder ...) geholt. Da kreiseln Ulrich, Nina und die anderen nun um sich selbst - sowie durch das von Katja Haß auf die Bühne gebaute Labyrinth aus locker arrangiertem Gestänge und Leichtmetallschienen (ein paar welke Zimmerpflanzen sind auch dabei) -, und wir sehen: die stinknormale Mittelschicht von heute. Man kennt diese Leute von nebenan. Man gehört womöglich dazu.

Lob und Preis den Spielern

Und nun gilt es zu rühmen. Denn am Deutschen Theater hat sich ein Ensemble von Darstellern zusammengefunden, das seinesgleichen kaum hat. Die beherrschte Nonchalance, die abgezirkelte Beiläufigkeit, mit der diese Schauspieler ihre Dialoge sprechen - das ist hohe Kunst, auch dann noch, wenn ihnen die zum Edelboulevard hin zwinkernde Spielfassung mit ihren neckischen Aktualisierungen auf halbem Wege - mindestens! - entgegenkommt.

Eine gewisse Fahrigkeit, die man als Zuschauer schnell mit Natürlichkeit assoziiert, wird von den glorreichen Sieben, die Kimmigs Aufführung versammelt, meisterlich in das Spiel ihrer Körper und vor allem ihrer Hände integriert. Man schaut da gerne, sehr gerne hin: ob es ein verlegen bübisches Lächeln von Ulrich Matthes ist oder ein lässiges Lehnen von Nina Hoss, ein Nesteln von Sven Lehmann oder eine verhuschte Geste von Katharina Schüttler - sie spielen das alle rasend gut.

100 kurze Minuten lang also wird man von Gorkis "Kindern der Sonne" bestens unterhalten. Doch kann es das sein? Bei aller Freude an der darstellerischen Klasse schleicht sich doch das Gefühl ein, dass Stephan Kimmig es sich und vor allem uns an diesem Abend etwas zu einfach macht. Er rückt das Stück so nahe an uns heran, dass es seine Widerhaken verliert. Schon nach ein paar Minuten hat man die Lektion gelernt: ja, da gibt es in der Mitte der Gesellschaft eine Schicht, die einstmals das Bürgertum genannt wurde und die sich nun aus jeglicher sozialen Verantwortung stiehlt, um sich stattdessen neurotisch mit ein paar hausgemachten Privatproblemen herumzuschlagen.

Die Pointe kommt, der Schmerz bleibt aus

So brillant die Inszenierung den Typus der sich um sich selbst drehenden Elementarteilchen zeichnet, so schnell verliert er auch an Interesse. Man kennt ihn nicht nur, man hat ihn auch schon zu oft gesehen. Und so weit, dass es schmerzen könnte, gehen Kimmig und seine Schauspieler nicht: Zuvor kommt immer schon die zwanglos eingestreute Pointe.

Und so wird denn die Streichung des Gorki'schen Umfelds letztlich doch zum wesentlichen Mangel des Abends. Es ist nicht der Samowar, der fehlt. Es gibt aber bei Gorki eine Außenwelt, die seine Figuren bedroht, auch wenn diese das kaum wahrhaben wollen. Gorkis Kinder der Sonne tanzen auf einem Vulkan. Dieser Vulkan indes ist bei Kimmig auf einen Hausmeister, der immerhin einmal mit einem Hammer gegen das Bühnengestänge schlägt, zusammengeschrumpft. Natürlich ist diese Reduktion der Clou der Aufführung - wir haben das schon verstanden! -, sie ist aber auch ein bisschen wenig.

Wenn Katharina Schüttler im zweiten Akt plötzlich zur großen, leicht hysterisch grundierten Standpauke ausholt - "Ihr seid so weit von den Menschen entfernt, von denen ihr sprecht" -, dann drängt sich schon die Frage auf, wer diese Menschen eigentlich sein sollen. Kimmig hat sie und mit ihnen jegliches soziale Gefälle getilgt. Und vielleicht muss man ja auch genau hier die Botschaft des Abends suchen: Eine reale Bedrohung der Mittelschicht gibt es nicht mehr, vom sozialen Gefälle geht keine Beunruhigung mehr aus. (Was man zumindest anzweifeln kann, wie die nicht enden wollenden Diskussionen der letzten Wochen zeigen.) Schüttlers Ausbruch jedenfalls verpufft auf seltsame Weise, er findet in der Inszenierung keine Resonanz. Der Rest aber ist gefällige Milieustudie.

 

Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Übersetzung von Ulrike Zemme, Fassung von Stephan Kimmig und Sonja Anders
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik:Michael Verhovec, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Ulrich Matthes, Katharina Schüttler, Nina Hoss, Sven Lehmann, Alexander Khuon, Katrin Wichmann, Markus Graf.

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu Stephan Kimmig? Lesen Sie in unserem Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Gorkis "Kinder der Sonne" werde von den Theatern gerade "als Stück zur tagesaktuellen Eliten-Demontage" neu entdeckt, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (17.10.2010). Kimmig verorte die Leistungsträger nicht wie Perceval "auf der Freud'schen Couch, sondern – elitäre Höchststrafe – in einer Boulevardkomödie". Wem das alles "zu sehr nach Yasmina Reza" klingt, müsse dafür vor allem unsere Gegenwart verantwortlich machen. "Wir sehen gesellschaftlichen Eliten bei der Selbstoffenbarung und Selbstzersetzung zu – mit hohem Identifikationspotenzial." Das sei zwar "nicht neu, aber eine konsequente Lesart". Und dass Kimmig den Text "so bedingungslos eingekürzt und ins Heute geholt, dass es mitunter holpert", verzeihe man gern. Dem "hochkarätigen Ensemble" gelinge "die Balance zwischen Karikatur und ernst genommener Befindlichkeitsduselei über weite Strecken" sehr plausibel. Der Regisseur rücke die Leistungsträger weit von den "Niederungen der sozialen Wirklichkeit" weg, lasse deren utopischen Entwürfe "auf privates Befindlichkeitsniveau" schrumpfen. Von Gorkis Prekariat bleibe nur Hausmeister Jegor, demgegenüber Matthes die "beiläufige, buchstäblich selbstsichere Souveränität des Bürgers gegenüber dem Proleten" spiele, die sich "hervorragend mit sozialem Engagement" verträgt. Diese Skizzierung des "jovialen Bürgertums" mache den Abend auch zum "scharfsichtigen Kommentar" auf den "zeitgeistigen Theaterbetrieb", der sich ja "allzu gern mit linksromantischen Sozialentwürfen" schmücke.

Michael Laages vom Deutschlandfunk (Kultur Heute, 17.10.2010) fühlt sich in eine Fortsetzung des Tracy-Letts-Erfolges "Eine Familie" versetzt. Den sogenannten "besseren Kreisen" stehe "mit dem finstren Jegor die Unterschicht in Reinkultur gegenüber". "Am Zusammenprall dieser Schichten (...) werden beide Seiten dieser Welt zu Grunde gehen". Diesen "Zustand der Entfremdung" zeige Kimmig überaus gegenwärtig. Bei seiner starken Stück-Raffung sei "erstaunlicherweise (...) auch ein Handlungsstrang gekappt, der besonders modern wirkt": ein Geschäftemacher will Protassow das Labor abkaufen, um den Wissenschaftler als Angestellten weiter zu beschäftigen. "Aber das hätte womöglich nicht recht gepasst zu Kimmigs Idee von der Großfamilie, die sich hier gemütlich mit dem eigenen Untergehen beschäftigt". Gorkis Stück gewinne in dieser Bearbeitung "die Qualität eines angeschärft-zugespitzten Alltagsdiskurses; kein Wort zu wenig, keins zu viel. Auch deshalb sieht das nach aller klügstem Broadway aus." Die Rede von der "Star-Besetzung" im Vorfeld hält Laages für völlig verfehlt, seien die hiermit wohl Gemeinten, Hoss, Schüttler und Matthes, doch "Teil eines Ensembles, das, wenn denn dieser Begriff überhaupt benötigt wird, der Star des Abends ist". Alle zusammen markierten "ein Ensemble-Spiel, wie es keines sonst gibt in der Hauptstadt; und auch sonst im Land nur sehr selten". Vorausschauendes Fazit: "mit Sicherheit eines der wirklich großen Ereignisses dieser Saison".

Wieder mal "ein Attentat des Regietheaters auf das dramatische Welterbe"?, fragt Ulrich Weinzierl in der Welt (18.10.2010). Aber hat Kimmig Gorkis Stück wirklich "frech und respektlos, ohne Sinn für den historische Kontext" inszeniert? Aber nein! Vielmehr habe man es hier mit einer " Sternstunde nicht allein des Berliner Theaters" zu tun. Nie habe Kimmig "Besseres, in sich Stimmigeres gemacht". Klar, "Tiefe und Tragik verbergen sich hier hinter einer Edelboulevardkomödie", "eine vermeintliche Elite weiß nicht, was sie tut, schwafelt freilich hingebungsvoll". Dass einen "diese menschlichen Elementarteilchen" faszinierten, liege am "fabelhaften, perfekt und locker aufeinander eingespielten Ensemble", das die "armseligen Gestalten" bei aller Lächerlichkeit nicht an die Karikatur verrate, "wir müssen uns – ob wir wollen oder nicht – mit ihnen identifizieren". Matthes' Protassow sei ein "altes, egozentrisches Kind", eine "Monade im bürgerlichen Speck", Schüttlers Lisa "der Fleisch gewordene Jammer, reine Depression". Khuon habe mit Tschepurnoj endlich wieder eine "seinem Ausnahmetalent angemessene Rolle gefunden". Und Wichmann zeige "äußerst differenziert" das Anrührende in Melanijas "aberwitziger Verehrung Protassows". Hoss agiere "klug und präzise bis zur Schärfe". Kimmig sei mit seinem Weiterdenken Gorkis "Außerordentliches" gelungen. "Kurzum: Theaterglück." "Wir erkennen uns im Zerrspiegel und ahnen: Das ist die traurige Wahrheit und nichts als die Wahrheit."

Für Jürgen Otten von der Frankfurter Rundschau (18.10.2010) beginnt der Abend "leicht, lapidar: lakonisch", als wollten alle betonen, "dass das Leben doch nur ein Spiel sei". Kimmig führe uns "in seiner brillanten Inszenierung" die Folge des "Weltabhandengekommenseins" bei Gorki "mit größtmöglicher Ironie" vor: "Keiner versteht keinen, jeder träumt für sich seinen eigenen Lebenstraum, alle reden aneinander vorbei". Auch die Bühne von Katja Haß zeige ein "entseeltes Ambiente", mit verkümmernden Pflanzen – ein "plastisches, plausibles Bild für die Beziehungen, die hier gepflegt, oder besser: eben nicht gepflegt werden". Matthes' Pawel sei ein "nonchalant lächelndes, dabei aber im höchsten Maße versponnenes Menschenkind", Wichmanns Melanija "ein Ausbund an verrückter Naivität". Jelena fliehe in den "kontrollierten Sarkasmus", und "jeder Satz, den die luzide Nina Hoss sagt, ist eine Spitze, und mindestens jeder zweite ein giftgetränkter Pfeil". Khuon leihe Tschepurnoj eben "jene Leidenschaft, die den an der Menschheit verzweifelnden Tierarzt in den Suizid treibt. Eine famose Darbietung". Als die Nachricht von seinem und des Hausmeisters Gattin Tod eintrifft, kippe das "spöttische Spiel vollends und ziemlich abrupt um", plötzlich trete "die Wirklichkeit hinein in diesen Kirschkindergarten". Auch für Otten ist's ein "großer, ein bedeutender Theaterabend".

Einen "Schauspielhochglanzabend" hat auch Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (18.10.2010) gesehen. "Sie sind allesamt hinreißend!", taumelten "durch die Schluchten ihrer Figurenseelen", setzten diese aber auch "in dick ausgemalte, saftige Großbuchstaben". "Glitzernder Prachtboulevard", "sehr unterhaltsam, sehr schillernd, sehr süffig inszeniert". Kimmig schaffe das "vorgeblich wirklichkeitsgetreue Gemälde einer saturiert schicken, wohlhabend zynischen Mittelschicht", zeige sich fortwurstelnde "Ich-AGler", "Tagträumer", "die in einem Gespinst von Einbildung und Weltverachtung leben, (...) bedroht aber von einer revoltierenden Außen- und Anderswelt". Diese sei hier auf Hausmeister Jegor zugespitzt, er soll "das superkritische Störmoment sein, werde allerdings zum "Alibi für eine Milieustudie, die bloß verdoppelt, was sie zu kritisieren vorgibt: die schalen Selbstgefälligkeiten, den billigen Sarkasmus einer entpolitisierten Kaste". Vielleicht sei dies tatsächlich das "treffende Porträt einer Mitte-Generation, die den Verhältnissen und Artgenossen wahlweise achselzuckend oder ausbeuterisch begegnet". Vielleicht auch fasse Kimmig nur deshalb so "beherzt ins Boulevardfach", um dem "Verzweiflungsfinale" die entsprechende Fallhöhe zu verschaffen. "Das aber verpufft", da "alles Fallen und Verzweifeln (...) wie auf Samtkissen gebettet" ist. Wo der Autor den Zuschauer so sehr habe aufrütteln wollen, "'dass er sich in seinem Sessel nicht mehr wohl fühlt'", rolle Kimmig ihm "die weichen Teppiche gefahrloser Identifikation aus".

Warum Kimmig sich Gorki vornimmt, leuchtet Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen (18.10.2010) wenig ein. Die Fassung entferne sich weit vom Stück, die Inszenierung reduziere nicht nur das Personal, sondern auch die "brisante Gesellschaftskomödie", nämlich "auf vorwiegend private Beziehungskisten". Die Schauspieler sprächen die "prahlerische Neudichtung" "als Sprechblasen auf zwei Beinen" in "so schnöseligem wie abgedroschenem Tonfall". Erst als sich "der plumpe Gegenwartszinnober" zur Mitte des Abends lege, könnten die Darsteller "aus den eitlen, dünnen Regiegeschichtsfädchen ein psychologisch grundiertes Emotionalgeflecht zaubern". Hier vermittle die Inszenierung, "offen für die Mäander dieser im (...) Niemandsland ihrer Utopien gestrandeten Heilsbringerkarikaturen", dann tatsächlich etwas "von Gorkis materiellen wie mentalen Umbruchsvisionen". Und das "zum Teil hochkarätig besetzte Ensemble" dürfe endlich "sein Können anwenden und über die Verwerfungen von Geist und Seele in den Zeiten extrem wechselnder Machtkonstellationen erzählen", statt "die Langeweile durch Langeweile, die Erstarrung durch Erstarrung" zu vermitteln. Matthes, Hoss, Lehmann und Wichmann empfindet Bazinger als "wunderbare Filigranspieler des ins Trudeln geratenen Unbewussten"; "eher grobe Skizzen" hat sie bei Schüttler, Khuon und Graf gesehen.

Dass "Kinder der Sonne" wie eine "böse-komische Milieustudie unserer Tage" wirke, liege am "glänzenden Ensemble" und an Kimmigs "psychologisch genauer Regie", die auf alle "auftrumpfenden Effekte und auf politische Rechthabereien" verzichte, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (19.10.2010). Das "Wetterleuchten" der heraufziehenden Umbrüche sei gestrichen, übrig blieben "empfindsame Akademikerseelen mit einem arg verrutschen Gefühlsleben", lauter "mal kindisch, mal leicht hysterisch vor sich hin brabbelnde Autisten - Botho Strauß auf russisch". Das sei "ziemlich komisch". Und "ziemlich traurig". Gerade indem Kimmig und sein Dramaturgin Sonja Anders Gorkis Schauspiel entpolitisierten, entwickele ihre Fassung "zeitdiagnostische Kraft". Eine kluge, "wunderbar leichte, hinter der komischen Oberfläche hoffnungslos melancholische Inszenierung".

 

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