My Own Private Kampusch

von Stefan Bläske

Wien, 16. Oktober 2010. Rotkäppchen ist längst vom Wolf gefressen und der Falco-Sänger abgetreten, da entschwebt ein SS-Uniformierter in den Bühnenhimmel, auf der Leinwand hinter ihm flimmern Projektionen von trachtentragenden Musical-Mädchen, und aus den Lautsprechern ertönt Westernhagens "Freiheit, Freiheit!". Wie das alles mit dem "Fall Kampusch" zusammenhängt? Vielleicht so: Stefan Bachmann hat Kathrin Rögglas medienkritisierendes Sündenbock-Stück im Wiener Akademietheater aufgepumpt zur zitatenreichen Inszenierung mit den Themen Tätertum und Vaterschaft, Psychoanalyse und Österreichklischees.

die_beteiligten2_anna_stoecher_frei_16okt10
Katharina Schmalenberg vor nackten Tatsachen
© Anna Stöcher

Wenige Wochen nachdem Natascha Kampusch ihr Buch "3096 Tage" vorgestellt und eine Verfilmung durch Bernd Eichinger angekündigt hat (und ein gutes Jahr nach der fulminanten Uraufführung in Düsseldorf), kam es im Akademietheater nun zur österreichischen Erstaufführung von "Die Beteiligten", jenem Stück, das das aus Funk und Fernsehen bekannte Entführungsopfer zugleich zum Zentrum und zur Leerstelle erklärt.

Ein Textspiel über die Bande

"Die Beteiligten" – das können wir alle sein, die wir via Medien mehr oder weniger Anteil genommen und Neugier gezeigt haben. Konkret beteiligt sind jene, die den direkten Kontakt gesucht haben: der quasifreund, der möchtegern-journalist, die pseudopsychologin, die irgendwie-nachbarin, ... Schon diese Figurentitel machen deutlich, dass es Kathrin Röggla um diese Menschen, ihr Menschsein und ihre Motivationen nicht ernsthaft geht. Sie sind Funktionsträger, Abzieh- und Spiegelbilder, sie sprechen nur im Konjunktiv.

Was sie sagen, haben sie früher einmal gesagt. Jetzt wiederholen sie es so, wie ihr Adressat (Natascha Kampusch) es wiedergeben könnte. Ein Stücktext, durchgängig über Bande geschrieben, um ein Eck herum: Wir hören "das Opfer" und doch immer nur "die Beteiligten". Diese Sprechweise wird dem "Fall Kampusch" auf raffinierte Art gerecht, weil die voyeuristische Sehnsucht nach dem "Authentischen" und "Unvermittelten" stets an der Vermittlung, Medialisierung und Verfremdung apprallt. Was sollte das auch sein, "Authentizität"? Im Theater? Und im öffentlichkeitswirksamen Umgang einer jungen Frau mit solch einem traumatischen Erlebnis? "diese fremdwörter würde ich ja wie schutzschilder vor mir hertragen", sagt die pseudo-psychologin zu und alias N.K.

Dieses österreichische Monster

Doch nicht alles, was konzeptionell klug gedacht ist, trägt über einen ganzen Theaterabend. Bachmanns Inszenierung jedenfalls erweckt den Eindruck, als ginge es vor allem darum, die Konjunktiv-Monotonie der Möchtegern-Menschen mit reichlich Referenzen und Regieeinfällen aufzupeppen. Zum einen bedient er die Stück-Struktur und offeriert Varianten und Illustrationen des indirekten und doppelten Sprechens: Indem die Figuren auch optisch "über Eck" mit dem Publikum kommunizieren, mit einer Kamera und Projektion. Indem sie alle als Natascha Kampusch auftreten, im Fliederfarben-Look mit blonder Perücke, und darunter doch noch als Journalist, Nachbar etc. erkennbar bleiben. Indem sie gemeinsam vor dem Flimmerkasten sitzen wie vor'm Lagerfeuer, und was sie dort hineinsprechen zugleich als Stimme einer im Hintergrund projizierten Affen-Meute erklingt.

Zum anderen fügt die Inszenierung Rögglas Text zahlreiche neue Aspekte, Zitate und Referenzen hinzu: Songs von Falco und Westernhagen etwa oder Videoeinspielungen aus dem Musical "The Sound of Music", dessen Hollywood-Verfilmung über Jahrzehnte international das Österreichbild prägte. Um aber zu verstehen, was das mit dem "Fall Kampusch" zu tun haben soll, muss man schon Slavoj Zizek lesen, dessen Text "My Own Private Austria" im Programmheft "dieses österreichische Monster" Joseph Fritzl umkreist. Ein pseudowissenschaftlicher Welt- und Mensch-Erklärungsversuch, ein Alles-in-einen-Topf-Wurf-Text, der als provozierendes Statement und künstlerische Strategie auf verschiedene Art produktiv gemacht werden könnte.

Im Bauch des bösen Wolfs

Dass dies in "Die Beteiligten" immer wieder in Ansätzen, aber nicht in Gänze gelingt, mag unter anderem an der Inkonsistenz der angerichteten Melange liegen: an jener Mischung aus allzu naheliegenden und abstrus weit hergeholten Assoziationen, die vom schwebenden SS-Mann über das Broadway-Musical bis hin zum Kill-Bill-Soundtrack beim finalen Amoklauf reichen. Das Sahnehäubchen aber bildet – Rotkäppchen.

Das integrierte Grimm'sche Märchen dient als Verpackung für die Kampusch'sche Qual: die Folterbeschreibungen aus "3096 Tage" werden auf das Rotkäppchen im Wolfsbauch übertragen, erzählt von einem nur im Schattenriss auf bürgerlicher Gardine sichtbaren Täter oder Zeugen mit unkenntlich gemachter, blecherner Stimme – eine starke, eine unheimliche Szene. Sie passt so gar nicht in das Grundkonzept von Rögglas Stück, weil sie genau jenen Voyeurismus bedient, der eigentlich vorgeführt und nur ex negativo verhandelt werden soll.

Der Mensch ist nicht naiv

Sie passt aber perfekt in die Inszenierung, die mit klarer, kleiner Form beginnt, und dann immer stärker abdriftet in das Spektakel, das Ausstellen von Leid und Leidenschaft, von Pathos und Playback, Pseudo-Nacktheit und der großen Geste. Am Ende bleibt ein gemeinsames hysterisches Lachen, Zucken – und ein letztes Aufbäumen im Zynismus.

Natascha Kampusch hat einmal gesagt, ihre Geschichte habe "etwas Groteskes – im bösen Sinn". In diesem Sinne ragt aus dem insgesamt sehr homogenen und guten Ensemble ein wenig noch Jörg Ratjen heraus, der dem "quasifreund" mit seinem charmant-teuflisch-fiesen Lächeln einen "Touch of Evil" zu verleihen versteht. Aber es wäre natürlich naiv zu glauben, es ginge um "das Böse". Der Mensch ist leider nicht naiv, der Mensch ist primitiv. Freiheit. Freiheit. Und was Süßes zum Dessert.

Die Beteiligten (ÖEA)
von Kathrin Röggla
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Jörg Kiefel, Kostüme: Esther Geremus, Licht: Felix Dreyer, Sound und Video: Philipp Haupt, Dramaturgie: Barbara Sommer.
Mit: Alexandra Henkel, Simon Kirsch, Peter Knaack, Barbara Petritsch, Jörg
Ratjen, Katharina Schmalenberg.

www.burgtheater.at


Mehr zu Kathrin Röggla finden sie im nachtkritik-Lexikon. 2010 war Die Beteiligten für den Mülheimer Dramatikerpreis vorgeschlagen. Und hier spricht Kathrin Röggla selbst über ihr Stück.


Kritikenrundschau

Kathrin Röggla suche "den Groove im Loslabern, überhöht das Durchschnittliche, rhythmisiert seine Kakofonie", schreibt Uwe Mattheiss in der tageszeitung (18.10.2010), und: "Man möchte den verbalen Zudringlichkeiten der 'Beteiligten' ein deftiges 'Halt's Maul' entgegensetzen. Es muss dennoch in Abwesenheit verhandelt werden, der Wahrheitsfindung dient's nicht. Medial ist eben nicht öffentlich. Auf diese Unterscheidung gründet Röggla das aufklärerische Moment ihres Schreibens, dass man auch noch ein Jahrhundert nach Karl Kraus das Geschwätz durch Zuspitzung zum Einsturz bringen kann." Die Darsteller blieben "durchgängig leicht an der Oberfläche der Wörter, exerzieren das geläufige körperlose Sprechen in den Medien, das, wenn's nicht vorgeführte Masche ist, auf einer Bühne sehr verstören kann." Regissuer Bachmann hingegen suche "über Röggla hinaus dann doch Tiefen". Das Ganze sei "Wiener Poptheater, das die Medien kritisiert und zugleich seine Wahrheiten bei ihnen ausborgt, nur gibt sie es zu (Kill) billig."

"Viele gelungene neben einigen weniger interessanten Einfällen", mit denen Stefan Bachmann seine Inszenierung "einer sprachkritischen, strengen, im Konjunktiv verhafteten Vorführung von uns Schaulustigen aufpeppt und damit zur Verstärkung dieses Triebes einlädt", hat Norbert Mayer von der Presse (18.10.2010) gesehen. Kathrin Röggla gehe es "um den zweifachen Missbrauch des Opfers. Erst durch das Ungeheuer Mensch, dann durch den Moloch Öffentlichkeit, der die Witterung der Sensation gierig aufgenommen hat." Die sechs Klischees, die als Figuren bei Röggla auftreten, "bewirken nicht nur Bestätigung von Vorurteilen, sondern in den besten Momenten auch - Erschütterung." Dem "souveränen Ensemble" gelinge sie "auch immer wieder, zumindest in den Szenen, die Bachmann nicht mit seinen zügellosen Einfällen überfrachtet hat."

Rögglas Interesse gelte den Beteiligten des Kriminalfalles Kampusch: "Berichterstattern, Experten und Passanten, die sich auf jeweilige Art über das Opfer ermächtigen und es so zum 'Objekt' der eigenen Erzählung machen", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (18.10.2010). "Um diese Form der Bevormundung und Fremdbestimmung ins Bewusstsein zu rücken, hat die österreichische Autorin eine radikale sprachliche Klausel gefunden: die Vertauschung der Sprechrollen von Subjekt und Objekt, genauer: die Einverleibung des Opfer-Ichs in die Aussagesätze der 'Beteiligten'." So bemerkenswert jedoch der "grammatikalische Kniff" des verwendeten Konjunktivs sei, so sehr flachten die Klischees des Textes den Abend auch ab. Regisseur Stefan Bachmann halte "dem viel entgegen, und es gelingt gegen Ende hin immer besser." Er öffne das Stück und führe "Österreich als ein Land der Verdrängung vor Augen, als Land des eigenbrötlerischen Stillschweigens und fortwährenden Lügens."

Martin Lhotzky schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.10.2010): Der Text von Kathrin Röggla sei schlicht, aber dennoch äußerst umständlich. Röggla verdichte "die Nachwehen des Falles der Natascha Kampusch", deren Leidensweg auch nach ihrer Befreiung nicht zu Ende gewesen sei, "denn bis heute blieben ihr die selbsternannten Vertreter des öffentlichen Interesses auf der Spur". Bei Röggla sagten "diese Typen" in "indirekter Rede artig auf, was sie wohl mit dem unsichtbar bleibenden Mädchen geredet haben". Wie viel davon "aus den Medien leicht abgewandelt oder wörtlich von Röggla zitiert" werde, wolle man gar nicht wissen. Der "starke Aktualitätsbezug" sorge "naturgegeben für eine kurze Halbwertszeit des Stoffes". Offenbar sei jetzt schon der Zeitpunkt für "eine Inszenierung als Farce". Es sei erstaunlich, dass weniger als anderthalb Stunden Spielzeit entsetzlich lange weilen könnten.

Einen "wirklich spannenden Theaterabend" hat Helmut Schödel gesehen, wie er in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2010) darlegt: "Wer ein Stück inszeniert, das dem Theater nicht gibt, was es braucht, nämlich ein Subjekt, den Auftritt des Hauptdarstellers, muss Stoff sammeln. Bachmann hat sich entschlossen, die Ab- und Hintergründe vorzuführen. Er zeigt eine Filmsequenz über die österreichische Alpenheimat und einen über allem schwebenden SS-Offizier. Oder Szenen autoritärer Erziehung aus dem Kitschstreifen 'Sound of Music'." Das ergebe keinen großen Schauspielerabend, aber einen spannenden voller Zuspitzungen und Comedy-Szenen.

 

mehr nachtkritiken