Wie der Teufel unter die Krämer fiel

von Ulrich Fischer

Lübeck, 17. Oktober 2010. "Doktor Faustus" ist einer von Thomas Manns großen Romanen. John von Düffel musste deshalb mächtig den Rotstift schwingen, um dieses umfangreiche Meisterwerk der Exilliteratur für die Bühne zu bearbeiten: das Herkommen von Adrian Leverkühn, dem (Anti-)Helden des Romans, dem Doktor Faustus, wird geopfert, die Kindheit, fast die ganze Jugend, die Erörterung des Kosmos und und und. Dennoch gelingt es Düffel, das Wesentliche zu bewahren – er ist eben Literaturwissenschaftler und weiß, den großen Bogen zu erhalten und auch den unverwechselbaren hohen Ton. Fast der gesamte Dialog ist wörtlich Manns Text entnommen – eine vielversprechende, höchst anspruchsvolle Vorlage für das Theater.

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Andreas Hutzel (Adrian Leverkühn), Robert Brandt (Teufel) © Thorsten Wulff

Das Desaster beginnt mit der Inszenierung. Manns umständlicher Titel: "Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde" hätte Regisseur und Lübecks Schauspieldirektor Pit Holzwarth darauf bringen können, Serenus Zeitblom, Adrians Freund, am Schreibtisch zu zeigen. Lang nach Adrians Tod setzt er sich daran, die Biographie seines Freundes, eines genialen Komponisten, niederzuschreiben – er beginnt 1943 und schiebt immer wieder ein, wie der Krieg fortschreitet, der Feind immer näher kommt.

Bunker und Salon

In Lübeck sitzt Serenus aber meistens an einem Flügel und spielt mit, so dass die zwei Handlungsebenen – zu Adrians Lebzeiten vom Kaiserreich bis zum Beginn des Nationalsozialismus, dann die Jahre der Niederschrift – statt streng voneinander geschieden zu sein oft unübersichtlich ineinander übergehen. Auch Werner Brenners Simultanbühne hilft nicht bei der Orientierung, hier sind die Wohnung Adrians, ein Luftschutzbunker und ein Münchner Salon ein Ort.

Aber das sind nicht die einzigen Elemente, die das Verständnis des komplexen Romans erschweren. Viele Schauspieler übernehmen mehrere Rollen – stellen sie jetzt einen Professor dar oder Kommilitonen Adrians? Wieso trägt Ines, eine Dame der Münchner Gesellschaft, die ihren Geliebten, der ihr untreu wird, erschießt, ein kniefreies Kleid unserer Gegenwart? Die Ungeschicklichkeiten der Regie zerstören den großen Bogen, den Mann so kunstvoll errichtet und John von Düffel in seiner Adaption mit Sorgfalt bewahrt hat.

Das expressive Lachen des Tonsetzers

Es geht um den Zusammenhang von Kunst, in diesem Fall Musik, und Faschismus. Thomas Mann legt nahe, dass ein Künstler, der sich nur um das Werk kümmert und nicht an das Publikum denkt, unverantwortlich handelt – er verkauft seine Seele dem Teufel. Der Mangel an sozialer Verantwortung, der sich auch in anderen gesellschaftlichen Sphären zeigt und gegen humanistische Verantwortlichkeit durchsetzt, führte zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen – dieser Zusammenhang ist in Lübeck kaum mehr erahnbar.

Andreas Hutzel spielt Adrian Leverkühn expressiv. Oft wirft der Mime die Arme gen Himmel, den Kopf in den Nacken und reißt den Mund weit auf, oft lacht er. Daraus ergibt sich keine kohärente Figur, schon gar nicht ein Mann von überragender Intelligenz mit stark menschenfeindlichen Zügen. Vielleicht hätte Adrian durch seine Kompositionen charakterisiert werden können, aber Achim Gieseler (Musik) ist wenig eingefallen und schon gar nichts von den (im Wortsinn) unerhörten Erfindungen, die Thomas Mann so beredt beschreibt.

Die Ausnahme

Das ganze Ensemble wirkt überfordert – bis auf Jörn Kolpe. Er spielt unter anderem Saul Fitelberg, einen unternehmungslustigen jungen Mann, der sich Adrian als Manager andient. Saul stammt irgendwo aus dem Osten, lebt aber in Paris. Kolpe ist klug genug, seinen Monolog nicht mit stark französischem oder polnischem Akzent zu sprechen – ihm geht es um Verständlichkeit. Und er kommt bestens über die Rampe – was bei anderen oft fehlschlägt. Das Publikum dankte Kolpe mit Szenenapplaus.

Die zentrale Szene, den Teufelspakt, hat John von Düffel sorgfältig aufbereitet – Pit Holzwarth missglückt das Bild. Thomas Mann gelingt eine unheimliche Begegnung, als der Böse auftritt – in Lübeck verläppert sie, weil der Teufel von mehreren Mimen verkörpert wird, die weiße Masken tragen. Statt einer Gänsehaut erzeugt das Bild Befremden.

Es ist eine großartige Idee, in Lübeck, der Geburtsstadt Thomas Manns, wichtige Romane des Nobelpreisträgers auf die Bühne zu bringen. Aber Regie und Ensemble sind in Lübeck bei "Dr. Faustus" – mit einer ruhmvollen Ausnahme – überfordert. Das ist besonders schade, weil diese Uraufführung ein mehrere Spielzeiten übergreifendes, ambitioniertes Projekt beendet, bei dem Oper und Schauspiel zusammenarbeiten: Wagner-trifft-Mann: "Der Ring des Nibelungen" im Musiktheater, vier Romane Thomas Manns im Schauspiel.

Der Geist hat Vorrang

Scheitert der "Doktor Faustus" vielleicht so debakulös, weil Lübecks Theater unterfinanziert ist? Christian Schwandt, der Geschäftsführende Direktor, kündigt an, die Anzahl der Musiktheaterproduktionen im Großen Haus künftig zu reduzieren, "donnerstags bis sonntags" will er den Vorstellungsbetrieb intensivieren "und dafür Montag bis Mittwoch vorwiegend der Probenarbeit vorbehalten". Wer das Leporello genau liest, findet rasch heraus, wie oft das Licht im Großen Haus und in den Kammerspielen gelöscht bleibt.

Lübeck macht mit Thomas Mann Reklame. Thomas Mann seinerseits weist mit Nachdruck und guten Argumenten darauf hin, dass der Geist den Vorrang haben sollte vor dem Krämerdenken. Eine Stadt, die sich Thomas Manns würdig erweisen wollte, müsste ein Ensemble und Regisseure engagieren, die gute Bearbeitungen seiner Romane auf angemessenem Niveau auf die Bühne schaufeln können. Das ist nicht der Fall an der Trave. Lübecks Theater ist unterfinanziert.

 

Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde
Bühnenfassung von John von Düffel nach dem Roman von Thomas Mann
Uraufführung
Regie: Pit Holzwarth, Ausstattung: Werner Brenner, Musik: Achim Gieseler, Puppenbau: Melanie Sowa, Mario Hohmann, Puppen-Coaching: Steffi König
Mit: Karoline Reinke, Anne Schramm, Robert Brandt, Peter Grünig, Florian Hacke, Patrick Heppt, Andreas Hutzel, Jörn Kolpe, Götz van Ooyen, Will Workman.

www.theaterluebeck.de

 

Andere Romanbearbeitungen von John von Düffel: In Düsseldorf hatten Thomas Manns Joseph und seine Brüder Premiere, Krefeld zeigte kürzlich mal wieder die landauf, landab gespielten Buddenbrooks, Cottbus den Storm'schen Schimmelreiter am Deutschen Theater Berlin inszenierte Andreas Kriegenburg Herz der Finsternis nach Joseph Conrad.

 

Zur Sache gesprochen

"Nachdem das Kartenhaus des virtuellen Kapitalismus zusammengebrochen ist, sollen jetzt die Kommunen ausbluten und die Zeche der wildgewordenen Playboys der Banken bezahlen. Hier und heute findet der Angriff auf die zentralen Institutionen dieser demokratischen Gesellschaft statt: Durchökonomisierung der Bildung in Schulen und Universitäten, verstärkte Privatisierung der Kindergärten und Krankenhäuser. In diesem Prozess der Enteignung des Menschen sollen auch die Theater in die Sphäre der Privatwirtschaft abgedrängt werden. Diesem "normalen Irrsinn" der Durchökonomisierung unserer Gesellschaft müssen wir mit einem New Deal begegnen. Der einzelne Mensch in seinem Selbstbewusstsein und als Inkarnation der Freiheit kann nur durch eine entscheidende Investition in die Erziehung, Bildung und Wissenschaft gestärkt werden. Die Theater sind ein wesentlicher Teil der Freiheits- und Demokratiebewegung in Deutschland. Sie sind vor allem ein Hort der radikalen Subjektivität. Deshalb ist es so wichtig, dass die Bürger für ihre Theater eintreten und die Politik den Mut findet, sich für die Kultur in ihrer Stadt stark zu machen."

Pit Holzwarth, Schauspieldirektor, auf der Website www.theaterluebeck.de

 

Kritikenrundschau

Noch einmal etwas genauer geht Ulrich Fischer auf die Lage des Theaters Lübeck in der taz-Nord (18.10.2010) ein.

Im Hamburger Abendblatt (19.10.2010) schreibt -itz der "Doktor Faustus" sollte dem
"ehrgeizigen, überregional beachteten 'Wagner trifft Mann'-Projekt nun die Krone aufsetzen", doch habe Holzwarth eine "wenig glückliche Hand bewiesen". Er verschachtele die verschiedenen Ebenen des ohnehin komplexen Romans miteinander und präsentiere sie auf Hans Brenners Einheitsbühne mit "vordergründigem Zauber" aus Feuer, Wasser, Masken und Marionetten, der jedoch die zähe, "vom Publikum dennoch bejubelte Aufführung" belaste und die Konzentration auf die Konflikte verspiele. Der Regisseur überblende Erzähl- und Spielszenen, was nicht zur Verständlichkeit der Geschichte beitrage. Nach der Pause gewinne sie an Klarheit, weil "Andreas Hutzel in der Titelrolle seine Exaltationen bremst". Er spiele den "kalten, extremen Außenseiter Adrian einfach falsch".

Besser, als durch John von Düffel geschehen, ließe sich der Roman vermutlich nicht dramatisieren, befindet hingegen Stefan Grund in der Welt (19.10.2010): "Andreas Hutzel in der Hauptrolle des Adrian Leverkühn ist ebenso ideal besetzt wie Götz van Ooyen als sein alter Freund, der Erzähler Serenus Zeitblom. Beide spielen begeisternd, mitreißend ihre Rolle, hervorragend unterstützt vom durchweg wunderbar aufspielenden Ensemble, aus dem noch Peter Grünigs Darstellung des Organisten Wendell Kretzschmar herausragt." Allerdings gesteht Grund auch ein: "Aus diesem Roman wird niemals ein Bühnenstück." Die Gespräche kämen über ellenlange Dialoge zwischen den beiden Hauptfiguren nicht hinaus, die Monologstrecken seien zwar beeindruckend, doch elend lang.

Torsten Philipps preist auf NDR 1 Welle Nord das "geniale Bunker-Bühnenbild von Pit Holzwarth": "Damit war die parallele Entwicklung zwischen der Hauptfigur und Nazi-Deutschland ständig präsent." Auch von Andreas Hutzel als Adrian Leverkühn zeigt er sich begeistert, der "sich förmlich die Seele aus dem Leib" spielte.

Angetan zeigt sich auch Sabine Spatzek in den Kieler Nachrichten (19.10.2010): "Kahl und grau ragt die Rückwand eines Bunkers auf. Weit oben sitzt der Erzähler Serenus Zeitblom an einem Klavier und beginnt zögernd die 'Mitteilungen' über seinen Freund (...), während sich unter ihm die ersten Figuren der Erzählung zuckend aus Angstlähmung und Wolldecken lösen. Es sind die einprägsamen und wuchtigen Bilder wie dieses gleich zu Beginn, die die dramatische Uraufführung von Doktor Faustus am Theater Lübeck zu einem vom Premierenpublikum mehrheitlich begeistert aufgenommenen Ereignis machen." Das sei zwar keine leichte Kost, aber man sehe "rundum stimmige Rollencharakterisierungen" und höre "den düsteren 'Soundtrack' zu Leverkühns Fall und dem von Nazi-Deutschland": "An der Verschränkung von beidem lässt das Stück nie einen Zweifel. Zum einen weil der Text die Frage nach dem 'Deutschsein' überproportional herausstellt, zum anderen weil die Inszenierung immer wieder bildhafte Verbindungen parat hat."


Kommentare  
Dr. Faustus, Lübeck: Pakt mit dem Teufel
Sehr geehrter Herr Fischer, leider entbehrt ihre Kritik jegliche Glaubwürdigkeit. Und das schon am Anfang, wenn Sie schreiben, Zeitblom müsse an einem Schreibtisch sitzen. Glauben Sie in seinem Kopf ist dieses Bild zu finden? Und wenn Sie darüber schreiben wie oft das Licht auf der Bühne aus bleibt, sollten Sie sich mal auf die Seite des Theaters begeben und die Anzahl des Ensembles zählen. Nicht jeder trifft einen Pakt mit dem Teufel! Die Frage mit wem und worüber Ihr Pakt besteht, stellt sich mir aber jetzt doch.
Doktor Faustus in Lübeck: neugierig und wortbrüchig
@ 1

Heißt jedenfalls bei nachtkritik de. häufiger "Die lokale Kritik sah das so und so, wir
dagegen ...", hier steht zunächst augenfällig "Die Kritik", währenddessen Frau Spatzek
in der KN ganz begeistert von Inszenierung und Ensemble spricht, um ein Beispiel zu
nennen, ich las allerdings noch ein weiteres.
Insofern scheint die Bandbreite zwischen lang applaudierendem Publikum, Frau Spatzeks Kritik und den Kritiken von "itz" und Ulrich Fischer mir zunächst als nicht
uninteressant, zumal da jetzt das Problem "Sparzwang" auch recht ungewöhnlich quereinsteigt in eine Kritik: bin neugierig und ein wenig wortbrüchig, sorry.
Doktor Faustus: viel Marzipan essen
Früh zu Bett gehen und immer viel Marzipan essen!
Doktor Faustus in Lübeck: eine Randnotiz
@ Regie

Vielen Dank für den Link zu weiteren "Kritiken" der Premiere: ganz ähnlich
wie in den letzten drei Kritiken fallen auch die "Dienstagskritiken" im "Flensburger
Tageblatt" und in den "Lübecker Nachrichten" aus, eine interessante Randnotiz
dabei, daß in den Kritiken meist ein Schauspieler noch einmal gesondert gelobt wird
und im Grunde immer ein anderer.
Eine Szene der Premiere wird es dann aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr geben,
welche Peter Grund in der Welt (oben erwähnte Kritik) festgehalten hat: Eine ältere Dame, die kurz vor Ende des Stückes (gespenstisch soll das gewesen sein ...)
gesagt habe "Ich muß jetzt zum Bus, sonst verpasse ich den", aufstand und die Tür zum Ausgang hin gerade just in das Dunkel des Stückendes (Leverkühns Tod !!)
hinein lichtgebend öffnete ...: so ein wenig mußte ich dabei an den plötzlichen Tod
von "Veronika" in "Die zwei Leben der Veronika" von Kieslowski denken, als ich das mit dem Lichteinfall lesen mußte (siehe Lichteffekt im Film): irgendwo läuft wohl noch ein zweiter "Leverkühn" rum, aber Spaß beiseite: die jetzige Presseschau macht
das alles nur noch interessanter, und der Nachtkritiker hat da schon ein Faß auf-
gemacht, das mich jetzt letztlich doch mehr reizt als, sagen wir es mal so, "Bandidos"
bei einer Schaubühnenpremiere im Dezember (und das bezieht sich nicht nur auf die
angeblich überforderten Schauspieler, von denen ich einige bereits ganz gut kenne
-zB. Herrn van Ooyen, der aus Braunschweig nach Lübeck gekommen ist, ich sah
ihn erstmals 2005 in Osnabrück bei den Norddeutschen Theatertagen in "God save America" von Biljana Srbljanovic: ein guter Mann, eine Überforderung dieses Spielers
allein erscheint mir schon recht unwahrscheinlich, naja, abwarten, ein paar Male noch früh zu Bett gehen und so ...).
Vielleicht kommt so ein Spieler wie Herr Ooyen in der Inszenierung nur nicht recht
zum Spielen: die Lokalkritiker jedenfalls sind sichtlich beeindruckt von allerlei
"Bildern" , immer wieder das Wort "Bild" - das will mir sich dann schon verdächtig
nach "Bildertheater" anhören, nach Effekt und Oberfläche, nach dem "Event:
Wagner trifft Mann in unmittelbarer Nachbarschaft des Günter-Grass-Hauses ..."
und dahin zielen viele der Argumente wider das "Romandramatisierungstheater"
ja ...: Lübeck, ein Musterfall dieser Debatte ???
Doktor Faustus in Lübeck: großartige Arbeit geleistet
Kritiker ist keine Berufsbezeichnung, man kann daher von Kritiken nicht automatisch Qualität erwarten. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die Nachtkritik zu Thomas Manns Doktor Faustus. Das Desaster der Kritik beginnt mit der Vorstellung, dass der Erzähler am Schreibtisch zu sitzen habe um die Geschichte zu erzählen. Der Weg der Kritik ist damit vorgezeichnet: Wer lediglich in der Lage ist, auf derart niedrigem Niveau Ideen zu entwickeln, kann das Stück auch nicht begriffen haben. Und so kommt, was kommen muss: Ein Blinder schreibt von der Farbe. Man könnte den Rest der Kritik einfach abhaken und zur Tagesordnung übergehen, wenn die Kritik nicht am Schluss einen Kardinalfehler enthielte, der nicht verzeihlich ist: Die Kritik schlägt um in Beleidigung. Eine Beleidigung des Theaters, eine Beleidigung des Ensembles, eine Beleidigung des Regisseurs. Der Kritiker verkennt ganz offenbar, dass dieses Theater mit dem Ensemble und dem Regisseur gerade auch in der Vergangenheit großartige Arbeit geleistet hat – und mit Sicherheit noch leisten wird.
Man ist versucht diesen kurzen Text auf dem Niveau des Kritikers zu beenden: Eine Internetseite, die auf die Qualität der Beiträge Wert legt, sollte nur Kritiker zulassen, die auf angemessenem Niveau in der Lage sind Stücke zu beurteilen. Das ist in diesem Fall nicht gelungen.
Dr. Faustus in Lübeck: nicht mit derartigen Empfindlichkeiten gerechnet
@ Erzberger:
Offensichtlich ist in Lübeck eine neue Form der Mimosenhaftigkeit eingekehrt. Nach dem Durchlesen der Kritik verstehe ich die Erregung von Herrn Erzberger nicht.
Zugegeben, ich habe die Lübecker Inszenierung nicht gesehen, aber den Roman kenne ich jedenfalls. Auch ich hätte einen am Schreibtisch sitzenden Serenus Zeitblom erwartet, und keinen, der am Flügel herumklimpert und versucht, in die Fußstapfen des Meisters zu treten. Doktor Faustus wird also expressiv gespielt, das mag zwar sehr originell sein, hat aber mit der Romanfigur nicht zu tun. Im Roman ist der Doktor ein eher introvertierter Typ, der sich in Abständen kleinere Extravaganzen und exzentrische Intermezzi gestattet, wie man es von einem Genie gewohnt ist.
Wenn nun die Folgen des Teufelspakts – moralische und politische Indifferenz - kaum in der Inszenierung berücksichtigt werden, so ist das zentrale Anliegen des Romanwerks quasi konterkariert worden. Verwunderlich, dass der Dichter John von Düffel den Text umgeschrieben hat, da er z.B. „Herz der Finsternis“ in der Inszenierung von Kriegenburg hervorragend hingebracht hat.
Ulrich Fischer hat auch nicht Theater und Ensemble beleidigt, er hat lediglich seine Meinung zum Ausdruck gebracht und nicht mit derartigen Empfindlichkeiten gerechnet. Warum sollte es den Kritiker als Berufsstand nicht geben? Sind das nur zweitrangige Redakteure, die es zu mehr nicht gebracht haben?
Dr. Faustus in Lübeck: die eigene Kopftheaterfassung
@ Flohbär

Lieber Flohbär !

Soll möglichst schreiben, was er will, jeglicher Kritiker, auch freilich ein Nachtkritiker, vor allem, wenn es sich dabei dann wirklich um die Inszenierung dreht (ich lese den Roman, wie Sie vielleicht wissen, gerade), aber wozu dieser Seitenwink zu dem ganz anderen Thema "Spardebatte, Kampf im Norden um die Fördertöpfe", wozu?
Ich nannte den Zeitblom-Darsteller Götz van Ooyen, den ich verschiedentlich sah: dieser ist ein guter Schauspieler und ist ganz sicher nicht überfordert ...; nun gut, ich sah die Inszenierung auch noch nicht (und äußerte dennoch auch schon "Befürchtungen"), aber ich bezweifle immerhin, daß der betreffende Nachtkritiker
viel mehr von zB. Herrn Ooyen gesehen hat: oder ist es allzuglücklich, von einer möglicherweise schon im Ansatz verfehlten Inszenierung (bzw. Stückbearbeitung), einem einzigen (vielleicht
ärgerlichen) Beispiel auf die Potenz der Darstellerinnen und Darsteller zu schließen ??
Ich sah zB. einmal die vielgerühmte "Virginia Woolf" im DT von Gosch, und das Ensemble hatte an diesem Abend nicht den allerbesten Tag ..., wollte ich so vorgehen, wie der Kritiker es hier meineserachtens (aus zu überprüfenden Motiven, denn in der Taz gibt es ja noch den Begleitartikel von ihm) getan hat, gäbe es ganz schnell nur noch die reinen Stümper auf Deutschlands Bühnen.
Gut, ich übertreibe da vermutlich ein wenig, andererseits macht es mich allerdings schon stutzig, wenn ich sehe, wie der Kritiker hellsichtig aus der Inszenierung gewissermaßen seine "Kopftheaterfassung" von Herrn von Düffel destilliert und so diese Bearbeitung ausdrücklich loben kann so rein spannungsbogentechnisch.
Mag auch meiner Unerfahrenheit geschuldet sein, daran Anstoß zu nehmen: ein guter Kritiker mag so etwas sehen bzw. unterstützt sein durch die Lektüre der Textfassung Herrn von Düffels. Über das, was da so an Vorbereitung seitens der Kritik üblich ist, würde ich gerne auch mich belehrende Details zur Kenntnis nehmen.
In den "Oldenbourg-Erläuterungen" zum Stück las ich quer im übrigen, daß eine "Identitätsaufspaltungslesart" einer Person in zwei Figuren (hier in Leverkühn und Zeitblom) durchaus eine Tradition hat gegenüber diesem Stoff ..., insofern wäre es erst gespenstisch gewesen, nach Abgang der älteren Dame, bei der Klatschformation Zeitblom just dort vorzufinden, wo die Dame das Theater verlassen hatte: die zwei Leben des AZ, wenn Sie so wollen, von A wie Adrian bis Z wie Zeitblom..
Doktor Faustus in Lübeck: Diskussion zum Weinen wie zum Lachen
Ach herrje, es ist gleichermaßen zum Weinen wie zum Lachen, wie hier über einen Abend gestritten wird, den manche Kommentatoren noch nicht einmal gesehen haben. Vielleicht sollten sich alle erst einmal die Mühe machen, in Lübeck eine Vorstellung zu besuchen und sich selbst ein Bild machen, bevor sie weiter über Vorgekautes debattieren.
Dann würden sie u.U. feststellen, daß z.B. die Figur Serenus Zeitblom keineswegs "dauernd am Klavier herumklimpert", sondern durchaus recht "werktreu" (falls das im Theater überhaupt noch ein Qualitäts-Kriterium sein sollte) als Zeitzeuge das Geschehen erzählt und kommentiert, wobei er allerdings - zugegeben - neben einem Flügel sitzt und in den 3 1/2 Stunden auch mal ein paar Töne anschlagen darf. Und wer auch noch dieses zaghafte Musizieren Zeitbloms für eine unerlaubte und überflüssige Regie-Idee hält, sollte mal bei Thomas Mann nachlesen, wo Zeitblom "eine Beziehung zu den schönen Künsten pflegt, speziell zur Musik und selbst die Viola d'amore spielt".
Tja, und Ulrich Fischer sei geraten, mal John von Düffels Stückfassung zu lesen. Dann würde ihm u.U. auffallen, dass der vom Regisseur angeblich so verwirrend inszenierte Wechsel zwischen Zeitbloms Erzählen in der Rückschau und dem Mitspielen in den Szenen, sein ständiges Springen zwischen den Zeit- und Handlungsebenen des Stücks, eine dramaturgische Erfindung Düffels ist und somit ebenfalls recht "werktreu" übernommen wurde. (Nebenbei: Herzlichen Dank an John von Düffel, dass er in seiner theatralen Vorstellungswelt den Darsteller Zeitbloms nicht für einen ganzen Abend schauspielerisch äußerst spannungslos und undankbar als Erzähl-Onkel an einen Schreibtisch nagelt!)
Und mal ehrlich: Wer sich als ernstzunehmender Kritiker im Jahre 2010 noch darüber mokiert, dass die Darstellerin "einer Dame der Münchner Gesellschaft ein kniefreies Kleid unserer Gegenwart" trägt, obwohl die Szene doch eigentlich in der Kaiserzeit spielt, der unterstellt entweder dem Publikum in der Stadttheater-Provinz einer solchen Transferleistung nicht fähig zu sein, oder er sollte sich ernsthaft fragen, ob er inhaltlich und ästhetisch auf der Höhe des zeitgenössischen Theater überhaupt noch mitreden kann.
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