Arbeit am Wolkenkuckucksheim

von Christian Rakow

Gladbeck, 27. September 2007. Letzten Samstag waren die Helden aus der Artus-Sage noch in Online-Computerspielen zu finden, in Tim Staffels "Next Level Parzival", das Sebastian Nübling mit viel Tempo, Akrobatik und Schauspielern in dunklen World-Of-Warcraft-Monturen über die Ruhrtriennale-Bühne in Essen jagte. Wenn die Alltagswelt zunehmend diffuser wird, dann bieten gerade die alten Epen, aufgehoben in den übersichtlichen Regelsystemen einer Computer-Rollenspielwelt, einen angemessenen Fluchtpunkt.

So sieht es eine Gruppe Jugendlicher und spielt W-LAN-Parties, bis Parzival unter den Artus-Avataren auftaucht, als Fehler im System, und einen umfangreichen Lernprozess bei den Kids draußen, in der real world auslöst.

Ritter in Latzhosen
Am heutigen Donnerstag zog der holländische Regiealtmeister Johan Simons mit seiner Version des Mythos nach, basierend auf der episch breiten Fassung von Tankred Dorst, "Merlin – Das wüste Land" aus dem Jahre 1981. Auch Simons geht es um die jüngere Generation, doch lässt sich sein Unterfangen etwas altväterlicher an. Die Ritter von heute – in der Maschinenhalle Zweckel stecken sie in Latzhosen, zwischen Zementsäcken und Farbtöpfen. Die Bühne schwebt hoch über den Industriemaschinen in der ehemaligen Fabrikhalle. Arbeit an Wolkenkratzern scheinen diese Hochgerüstarbeiter zu leisten, ein bisschen auch Arbeit an Wolkenkuckucksheim. "Ich zertrümmere alles, bis Gott allein noch übrig bleibt" – mit solch jugendlich ambitionierten Projekten wie dem von Parsifal, wird man an diesem Abend häufiger konfrontiert.

Bauleiter Merlin
Doch der Reihe nach. Merlin, der Teufelsgeborene, ist berufen, "die Menschen zum Bösen zu befreien", stemmt sich aber dagegen und entwirft mit der Tafelrunde der 140 Ritter den Prototyp des runden Tischs. Insofern Merlin weite Teile des Geschehens prognostiziert und lenkt, darf er auch die Aktionen der Mitspieler dirigieren.

Wim Opbrouck lässt seinen Merlin als Künstler à la Jackson Pollock beginnen, kehrt dann mehr den Bauleiter und Anstreicher heraus und gibt schließlich einen berufsmüden Oberlehrer. Mal wegwerfend, mal mit einem Trotzalledem-Lächeln schultert er die Bürde der Erkenntnis. Wie sein Problemschüler erscheint Louis van Beek in der Doppelrolle als König Artus und Sir Lancelot, zerknirscht und antriebsarm. Und da Königin Ginevra (Betty Schuurman) hier mit kiloweise blauen Plastiktüten um die Hüften den Inbegriff der asexuellen Schneekönigin darstellt, ist die klassische Dreiecksbeziehung im Herzen des Mythos um Artus und seinen ersten Ritter schon von vornherein verabschiedet.

Findet das Gute in euch
Das macht den Weg frei für die Generationenproblematik. In ihrem Zentrum stehen Parsifal (Christoph Homberger), der tumbe Gralssucher, und Artus’ komplexbeladener Sohn, Sir Mordred (Kristof Van Boven), der sich zum Ursurpator des Reichs aufschwingt. Wie die Alten haben auch sie einen hehren, doch im Kern unerfüllbaren Auftrag (findet Gott, den Gral oder das Gute in euch). Auch ihnen steht der feste Schicksalslauf vor Augen. So unterscheidet beide Generationen lediglich das Mehr oder Weniger an Schlachtenkilometern in den Knochen. Weshalb Parsifal mit dem sanften Tenor Christoph Homberger eben auch nicht allzu jugendlich besetzt sein muss.

In Scheitern und Leiden, die hier die Essenz des Mythos ausmachen, werden alle gleich. Tatsächlich führt dieser latente Fatalismus die Inszenierung in zwei Richtungen von unterschiedlicher Güte. Zum einen erhält der Abend einen unverkrampft elegischen Zug, wenn gut die Hälfte des Schauspiels mit Opern-Adaptionen aus Richard Wagners "Parsifal" (gespielt auf Klavieren und Heimorgeln) bestritten wird. Ins mutige Pathos mischen sich dabei Zwischentöne der schrägeren Sorte. So finden wir etwa einen singenden Leichenhaufen (die Monty Pythons lassen grüßen!) oder hören das Erlösungsmotiv als Katzenjammer vorgetragen. Simons goes Marthaler, und darin liegen die wunderbaren Momente dieser Inszenierung.

Lehrstunde wider das böse Geschick
Auf der anderen Seite aber drängt es Simons und sein Ensemble vom NTGent aus dem irdischen Jammertal des Zuviel-Wissens und Zuwenig-Machen-Könnens (gewissermaßen aus der überreflektierten Moderne) hinaus ins Gestische und Plakative. "Was ist das, der freie Wille, was ist das, diese Freiheit und Gleichheit, über die alle reden?" Bei solchen Fragen, die auch einer Schülerwandzeitung gut anstehen, wird die Inszenierung gern sehr ernst. Wenn Parsifal dann noch einen Turm aus Verbundziegeln baut, den Merlin folgerichtig umstößt (denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht), befällt einen doch leise das Gefühl, mit den Figuren gemeinsam in einer Lehrstunde wider das böse Geschick zu hocken.

Dass der Abend dabei um seine Kindereien weiß, macht es nicht besser. Am Schluss, nachdem die Schlachten geschlagen sind, ruft Mama Ginevra Klein-Mordred, den Bösewicht, in die Badewanne. Um die Altersfreigabe muss man sich hier also, anders als beim Computerspiel, nicht sorgen.


Merlin oder das wüste Land
von Tankred Dorst
Regie: Johan Simons, Konzept Bühne: Johan Simons, Valentine Kempynck, Luc Goedertier, Freddy Schoonackers, Dramaturgie/Textfassung: Koen Haagdorens, Kostüme: BELGAT Valentine Kempynck mit Myriam Van Gucht.
Mit: Anne Gehring, Wim Opbrouck, Judith Pol, Betty Schuurman, Louis van Beek, Kristof Van Boven; Sopran: Lenka Brazdilikova, Priske Dehandschutter; Tenor: Christoph Homberger; Piano/Keyboard: Jan Czajkowski, Tom Deneckere, Tom Van der Schueren.

www.ruhrtriennale.de

Alles über Johan Simons auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Vasco Boenisch schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2007) vom "Theatertüftler Johan Simons", der Merlin auf den Welten-Bau schickt, als  "Bauleiter und Konzeptkünstler". Dorsts wüstes Land, das von den Mühen der Veränderung übrig bleibe, bebildere Simons mit "(Werkstoff-)Wust". "Impro-Pomp" nennt er die Baustoff-Szenerie. "Privatistisch" sei die Haltung der Inszenierung, "auf den Ritterrumpf gestutzt" und "mit Pinsel und Klebeband fragmentarisch nachgebastelt". Unkundige verstünden wohl nur die Hälfte oder gleich Bahnhof. Dorsts Pessimismus sei gestrichen, dafür wirke "Simons’ Spiel aus Entschleunigung und Intuition seltsam hermetisch, ja selbstgenügsam".

In der Frankfurter Rundschau (1.10.2007) schreibt Stefan Keim, Simons erzähle "Dorsts "Merlin" als Fantasie eines Malers". Die "zarten und kraftvollen Chöre" aus Wagner ‚Parsifal’ wiederholten die "Motive so oft, dass man langsam das Gefühl für die Zeit verliert". Doch wer aufpasse, verliere auch nicht den Faden, auch wenn es hoher Konzentration bedürfe, denn der Regisseur erzähle "in Fragmenten" und etwas anderes als die Baustelle gibt es nicht zu sehen. "Alles Weitere findet in der Fantasie der Zuschauer statt". Allerdings: "zwingende Gedanken stellen sich nicht ein", ein Preis, "den Simons für seine … Ästhetik der Ent-Spannung und Selbstreflexivität zahlt".

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