Im Hallenser Sumpf

von Dirk Laucke

Berlin, 20. Oktober 2010. Als Autor und Regisseur habe ich bereits drei Mal am Thalia Theater Halle arbeiten dürfen. Über die drohende Schließung des Thalia bin ich erbost und enttäuscht, aber keine Sekunde lang überrascht.

Alles, was neben mir viele andere Künstler am Thalia Theater Halle anfassen und umsetzen durften, beinhaltet für mich jene Stärken, die heutiges Kinder- und Jugendtheater in einer sonst sozial verwahrlosenden Region haben kann.

2005 hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit dem Hallenser Szene-Profi Michael Blochwitz und dem Filmemacher Heiko Aufdermauer während des Thalia-Projektes "Neustaat Halle" eine intermediale Live-Show zu präsentieren, die sich sowohl mit dem Zustand des Stadtviertels Halle Neustadt als auch der politischen Hypothese "Was tun, wenn kein Staat mehr ist?" auseinander setzte. Die Möglichkeit, in Halle Neustadt zu recherchieren und zu inszenieren war für mich prägend – versteht sich doch das Thalia Theater Halle unter der Leitung von Annegret Hahn als eines, das sich einmischt in die Geschehnisse dieser Stadt.

Perspektive für junge Menschen

Und Frau Hahn traut sich das! Es bleibt in ihrem Theater nicht bei leeren Floskeln, nicht bei einer kulurpolitischen Debatte über die Köpfe der Ausgeschlossenen hinweg, sondern u. a. auch mit und durch die Prekarisierten. Die Bühne des Thalia Theaters in Halle ist tatsächlich ein Ort des Austausches. Diese Erfahrung durfte ich in meiner Arbeit Silberhöhe gibts nich mehr im Jahr 2007 machen, in der vier Jugendliche aus Halle Silberhöhe die Probleme ihres verrufenen Viertels in die Innenstadt holten, auf die Bühne des Kleinen Thalia. Das Stück sorgte für Furore, wurde über die lokale Presse hinaus bundesweit und international bekannt und warf ein neues Licht auf eine Debatte, die sonst stets unter dem Titel "Unterschicht" abgetan wird.

Das Thalia Theater Halle hat uns nicht nur die Chance gegeben, dieses Thema mit Laien anzupacken, sondern auch für etwas gesorgt, was sonst augenscheinlich niemand in dieser Stadt schafft: jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Und ich rede hier nicht von irgendwelchen schwammigen Hoffnungen, sondern von Hilfe bei Behördenkram, Schule, Ausbildung und einem handfesten Job am Thalia Theater. Schon während der Probenzeit jedoch war uns klar, dass unsere Produktion die letzte auf der kleinen Spielstätte dieses Hauses sein würde. Längst wurden andere Diskussionen über das Thalia Theater geführt – die nach Effizienz, messbar an Eintrittskarten.

Diskussionen! Auseinandersetzungen!

Heute diese wirtschaftlichen Argumente von anderen Theatermachern zu hören und zu lesen klingt in meinen Ohren wie ein Akt von Selbstverstümmelung, existiert doch eigentlich kein Stadttheater in Deutschland ohne Bezuschussung durch seine Gemeinde. Und das ist für mich auch ein bedeutsames Selbstverständnis, das den Akteuren der Kultur-GmbH Halle abhanden zu kommen scheint – schließlich ist Theater mehr als leicht konsumierbare Unterhaltung, ein Prozess, nicht ein Produkt, in welchem die Probleme dieser Zeit und an diesem Ort auf den Tisch kommen.

Womit wir bei "Ultras" wären – ja, dem Skandalstück. Nachdem die Ultras des Halleschen FC auch vom Präventionsrat der Stadt Halle als Problem erkannt wurden, fragte mich Annegret Hahn, ob ich mir vorstellen könne, ein Stück über dieses Thema am Thalia Theater zu inszenieren. Frau Hahn hätte mich sicher nicht gefragt, wenn ihr nicht meine kritische Auseinandersetzung mit rechtem Gedankengut auch in der Mitte der Gesellschaft bewusst gewesen wären. Das Stück wurde nach einem langen Prozess mit Laien aus der Ultraszene 2009 am Thalia Theater Halle aufgeführt. Es führte zu heftigen Auseinandersetzungen in der Presse und am wenigsten zu vergessen: auf der Bühne! Die Publikumsgespräche nach jeder Vorstellungen dauerten größtenteils genauso lang wie die Spieldauer vorher.

Pistole auf der Brust

Doch bereits zu jener Zeit wurde mir bewusst, dass man in Halle kein bisschen Interesse an den vorliegenden Problemen zeigt, etwa Antisemitismus in der hiesigen Fußballszene, sondern lieber am Stuhl jener sägt, die über dieses Thema sprechen wollen. So war ich zu Beginn des "Skandals" ein wenig irritiert, wie wenig ich oder meine Arbeit angegriffen wurde und wieviel im Vergleich dazu die Kündigung von Annegret Hahn gefordert wurde. Mir wurde klar, ich bin mitten in einen Sumpf geraten, der leider – ich als Ex-Hallenser muss es sagen – "ostdeutscher" nicht sein kann. So warte ich bis heute vergeblich auf eine Reaktion der Hallenser Politik auf Frau Hahns Einladung zu einem runden Tisch, der aktives Engagement bzgl. des Fanverhaltens versprechen sollte. Seit einem Jahr: nichts!

Die Vorgehensweise, mit der jetzt den MitarbeiterInnen des Thalia Theater Halle die sprichwörtliche Pistole auf die Brust gesetzt wird, sich binnen kürzester Zeit entweder an der eigenen Entwertung zu beteiligen, oder aber selbst dafür gerade stehen zu müssen, gekündigt zu werden, ist nicht nur ein Akt neoliberaler Strategie, sondern ein weiteres Indiz dafür, dass in Halle Einiges dafür getan wird, emanzipatorische Kulturpolitik zu verhindern. Und auch, wenn solche Vorgänge mir überhaupt nicht mehr überraschend erscheinen – mir als Theaterautor und ehemaligem Hallenser stößt dies immer wieder bitter auf.

 

Mehr zu Dirk Laucke finden Sie im nachtkritik-Lexikon.

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