Das Messer in der Kehle

von Lena Schneider

Wien, 28. September 2007. Eine Testamentsvollstreckung im engsten Familienkreis, das stellt man sich anders vor. Eine theatrale Träne, bitteschön, ein paar gefühlsgewaltige Ausbrüche oder wenigstens ein bisschen lauernde Gier. Nichts von alldem in der Anfangsszene von Wajdi Mouawads "Verbrennungen".

Widerwillig, fast trotzig, unbeweglich wie zwei Torpfosten stehen die Zwillinge Jeanne (Melanie Kretschmann) und Simon (Daniel Jesch) in der österreichischen Erstaufführung am Akademietheater Wien um ihren Notar herum. Der plaudert und windet sich, um den zwei desinteressierten Brocken gefühlige Regungen zu entlocken. Schließlich ist ihre Mutter gestorben, und das, ohne in den letzten fünf Jahren ein einziges Wort gesagt zu haben.

Am Stückanfang erwarten die Zwillinge nichts, weil sie nichts wissen. Und am Ende werden sie mehr wissen, als sie ertragen können. Vorerst aber sollen sie, so will es das Testament, ihren tot geglaubten Vater finden. Und einen Bruder, von dem sie noch nie gehört haben, gleich dazu. Auch sonst entpuppt sich das Vermächtnis der Verblichenen als kryptisch. "Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle," liest der zerstreute Notar (Markus Hering), "man zieht es nicht so leicht heraus."

Vorspulen im Flackerlicht

Die Kindheit als Wunde, die nie verheilt – das Thema zieht durch "Verbrennungen" wie die Lust an Ausflügen ins Groteske, Übermütige durch die Inszenierung Stefan Bachmanns. Schon die Testamentsszene zu Beginn wird durch eine Art theatrales Vorspulen unterbrochen: Die drei Protagonisten zuckeln im Flackerlicht auf die nächste Szene zu, als hätte jemand die Fastforward-Taste gedrückt. Immer wieder wird so die Handlung im ersten Teil cinematisiert, als würde Bachmann öde Passagen beschleunigen.

Das ist nicht nur ein hübscher Unterbrechungseffekt, der das geradezu groteske Ausmaß der testamentarischen Enthüllungen ironisiert, sondern nimmt auch die zerstückelte, in gewissem Sinn filmische Struktur des Textes auf. Bald entspinnt sich nämlich neben der Geschichte um Jeanne und Simon eine zweite Erzählebene, die in Rückblenden Ausschnitte aus dem Leben von Nawal, der Mutter, zeigt. Die beiden Narrative greifen auf der Bühne ineinander, die jugendliche Nawal stolpert über ihren noch ungeborenen Sohn oder streift den Notar, der später einmal ihr Testament aufsetzen wird, lange bevor sie ihn kennt. Heute, gestern, Mütter, Söhne, alles und alle laufen durcheinander. Und alles läuft irgendwo zusammen.

Im Gestrüpp des Schweigens

So folgen wir zwei Geschichten, die eigentlich eine sind. Da ist die Suche der Zwillinge nach einer Mutter, die durch ihr Testament zur Unbekannten geworden ist – Jeanne und Simon müssen erkennen, dass ihre Familie tief mit der blutigen Geschichte eines ihnen fremden Landes verbunden ist. Und da ist die Mutter selbst (Regina Fritsch), die eine heroische Kämpferin im Bürgerkrieg dieses Landes war.

Während sich Simon zu Anfang ganz und gar weigert, sich der Geschichte seiner Mutter anzunähern, ist Jeanne offener, macht Aufnahmen ausfindig, die ein Pfleger im Krankenhaus von der Mutter gemacht hat, verheddert sich aber beim ersten Versuch – hübsch metaphorisch – im Wirrwarr der Kassettenbänder. Außer dem Atmen der Mutter ist darauf nichts zu hören. Schließlich zertrampelt Jeanne die hämisch nichtssagenden Tonträger, erkennt, dass sie woanders nach den Spuren der Vergangenheit suchen muss. Das Gestrüpp des Schweigens muss sie selbst zerschlagen. Sie reist in das Land, aus dem die Mutter stammt, in ihre eigene Herkunft.

Kopflose Zeit

Obwohl Mouawad selbst seine Konfliktzone namenlos lässt, weiß man um seinen Hintergrund – 1976 floh seine Familie vor dem Bürgerkrieg aus dem Libanon nach Paris, später nach Kanada. Doch Brutalität und Blindheit, die der Krieg fordert, sind von allgemeingültigem Charakter. "Die Zeit ist wie ein verrücktes Huhn. Sie läuft ohne Kopf herum," sagt Nawal einmal und könnte damit ein Dutzend anderer Konflikte meinen. Mouawads Stück ist ein als Politkrimi getarntes Mosaikspiel, das sich der Zuschauer langsam, detektivisch zusammensetzt, und letztlich ein Bild des menschlichen und politischen Schreckens ergibt.

Bachmanns Inszenierung spielt mit diesen Mosaiken, jongliert mit den verschiedenen Möglichkeiten der Bühne – vom Stürmen der Zuschauerreihen über MG-Geknatter und Gitarrensoundteppich, von einer Feuerwand bis zum Bühnenregen – und scheint sie gar nicht in ein homogenes Bild zusammenfügen zu wollen. Die Elemente stehen nebeneinander, mal kraftvoll, mal nutzlos. Wäre da nicht Mouawads Text, mit seiner Dringlichkeit, mit seinem trotz des Humors über jede Ironie erhabenen Ernst, dann würde ein solches Gebilde, trotz aller schweren Geschütze, vielleicht leicht davonwehen. So ist es ein Abend, der einen das Messer in der Kehle nicht spüren lässt.


Verbrennungen
von Wajdi Mouawad
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Annabelle Witt.
Mit: Regina Fritsch, Melanie Kretschmann, Daniel Jesch, Markus Hering, Juergen Maurer, Sabine Haupt, Klaus Brömmelmeier.

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Ronald Pohl schreibt im Wiener Standard (1.10.2007): "Verbrennungen" richte eine "unmissverständliche Drohung gegen die Wohlstandsberuhigten, … die das Elend in vermeintlich weit abgelegenen Weltgegenden nicht anficht", wenn er auch nicht weiß, was zu halten ist von diesem Stück, in dem "Bürgerkriegsfarce unvermittelt auf den König Ödipus" prallt, "der Irrsinn der Gewaltbereitschaft…  auf das patent gebaute Gerichts-Kriminalstück". Stefan Bachmanns Inszenierung "berührt" dann, wenn "sie die analytisch doch arg konstruierte Aufdeckung einer Familientragödie episch auf Abstand hält." Nur gelegentlich kehre Bachmann den früheren "inszenierenden Bruder Leichtfuß" heraus, wenn  die Geschwister "wie Duracell-Hasen losrattern" oder einer "als Tüte Pommes Frites" auftreten müsse.

In der Wiener Presse (1.10.2007) schreibt Barbara Petsch: "Verbrennungen" biete endlich einmal nicht den westlichen Blick im Theater, und endlich einmal die "Nahost Problematik" nicht als "Grausamkeit pur – und plakativ". Der Greundeinfall sei zwar ein bissel konstruiert, das Stück aber sowohl "konkret, realistisch, zeitnah" als auch "rätselhaft, schwebend, poetisch". Ein "großartiges Stück – und großartig hat es der Schweizer Stefan Bachmann inszeniert". Der stelle "die Tragödie komödiantisch vor", eine "Stärke der Inszenierung". Und er hat viele eindrückliche Bilder geschaffen. "Schlichtweg grandios" sei, wie Regina Fritsch als Mutter "voran stürmt, sich voran schleppt" auf ihrem "weiten und verschlungenen Weg, den ihr der Autor vorgezeichnet hat.

In der FAZ (2.10.2007) ist die Rezension von Martin Lhotzky überschrieben mit: "Ein Bürgerkrieg für die Bühnenfeuerwehr." Da weiß man dank der Überschrift sofort  Bescheid. Lhotzky schreibt, dass aufgrund der Stärke des Textes der Abend zumindest nicht kläglich scheitern würde. Bachmann habe sich nicht entschieden, "ob er eine Parodie oder doch eine Tragödie aufführen will." Der Regisseur habe einige "Passagen gekürzt", um die "hysterisch-komischen Szenen deutlicher zu gewichten" und die "einundzwanzig Figuren auf sieben Schauspieler aufgeteilt" - anscheinend alles vergebens. Denn das Fazit: "Dennoch tosender Applaus, hoffentlich mehr dem Stück als dieser unentschiedenen und zum Großteil ziemlich verblöde(l)ten Aufführung."

Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (9.10.2007) hat die Inszenierung von Stefan Bachmann sehr gefallen. Mehr noch: Er findet, dass sie die vielen "Klippen", die das allerorten gespielte Stück bereit halte, beispielhaft umschiffe. "Gewitzt und präzise" "entschlackt" Bachmann die ineinandergeschachtelte, mit "Menschheitsdramen" voll gepackte Handlung und schreckt vor der "Rührseligkeit" des Autors nicht zurück, sondern geht im Gegenteil "in die Vollen". Und zwar mit Mitteln "eines armen Theaters": die Videoclip-Ästhetik des Stückes werde "mit dem, was die Bühne bereit hält", umgesetzt.

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