Die Hölle ist mitten unter uns

von Charles Linsmayer

Basel, 22. Oktober 2010. Er habe mit den deutschsprachigen Erstaufführungen der Stücke von Dennis Kelly "einen Erfolgsautor ans Theater Basel gebunden, der mitten ins Herz unserer heutigen Gesellschaft trifft", verteidigte der noch bis 2012 amtierende Schauspieldirektor Elias Perrig Ende September seinen Spielplan gegen einen Pressekommentar, in dem es geheißen hatte, das Schauspiel des Theaters Basel sei "beinahe in Vergessenheit geraten".

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Weiße Hölle in Basel      ©Judith Schlosser

Jetzt hatte nach "Liebe und Geld", "Taking care of Baby", "Nach dem Ende" und "DNA" mit "Waisen" nun das fünfte Kelly-Stück in zwei Jahren am Theater Basel Premiere. Geht man nach der mit Händen zu greifende Spannung, der Konzentration des Publikums und dem tosenden Applaus nach 115 Minuten Spielzeit, so trifft auch diese deutschsprachige Erstaufführung wiederum "mitten ins Herz unserer heutigen Gesellschaft".

Blutverschmiertes Programmheft
Wolf Gutjahr hat ein weiß getünchtes nüchternes Wohnzimmer in Schräglage wie ein Gefängnis vor die immer wieder violett aufleuchtende Bühnenmaschinerie gestellt, und wenn das Licht angeht, bestätigen sich die Befürchtungen, die das blutverschmierte Programmheft ausgelöst hat: Wir haben es mit einem alle Ingredienzien des Genres auffahrenden Schocker zu tun! Liam, ein etwa 30jähriger Londoner, steht wie in einem lebenden Bild vor seiner Schwester Helen und deren Ehemann Danny, die den Mund nicht mehr zukriegen vor Schreck über den Zustand des unerwarteten Gastes, der den geplanten "besonderen Abend" mit Wein und Rosenbouquets nun unversehens in ein Drama verwandelt.

Obwohl sie sich gegenseitig ständig daran hindern, veranstalten Helen und Danny eine Art Kreuzverhör mit Liam, aus dem zunächst hervorgeht, dass dieser vor dem Haus einem schwer verletzten Jungen zu Hilfe kommen wollte, sich dann aber aus dem Staub gemacht hat. Im Verlauf der Befragung, während derer sich auch die Beziehung des Ehepaars als höchst problematisch und gefährdet entpuppt, verheddert sich Liam in seinen Schilderungen immer stärker in Widersprüche, und erst ganz allmählich kommt heraus, dass er selbst der Täter ist.

Der in Nazikreisen verkehrt

Er hat einen harmlosen Passanten, einen muslimischen jungen Mann, auf dem Heimweg brutal zusammengeschlagen, mit einem Messer an vielen Stellen verletzt und in einem Schuppen auf eine Hobelbank gefesselt. Statt dass man die Polizei ruft und dem Mann Hilfe bringt, entpuppt sich nun aber die Schwester, die den mehrfach vorbestraften Bruder, mit dem sie offenbar ein inzestuöses Verhältnis hat, vor Strafe bewahren will, als gnadenlos zynische Opportunistin. Sie bringt ihren Mann dazu, an den Tatort zu gehen und das Opfer mit erpresserischen Drohungen zu zwingen, von einer Anklage gegen Liam abzusehen. Ob der junge Mann das überlebt, wird nicht ganz klar.

Deutlich aber wird, dass Danny, obwohl er nun auch selbst in den Fall verwickelt ist, das Entsetzliche des Vorgangs als einziger noch zu erkennen vermag. Seine Frau bittet er, das Kind, das er sich kurz vorher noch sehnlichst gewünscht hat, um Himmels willen abtreiben zu lassen. Liam aber, der in Neonazikreisen verkehrt und für den Gewalt gegen Minderheiten offenbar etwas ebenso Alltägliches wie Cooles ist, hält seinen Schwager für weltfremd und entschuldigt das schreiende Unrecht mit der Floskel "Es gibt immer tote Katzen auf der Welt!"

Schwarze Dämonie, unerträgliche Spannnung
Die Aufführung lebt in ihrer schrecklichen Konsequenz von der intelligenten Regie Elias Perrigs, der dem Publikum nichts erspart und die Spannung nach und nach ins Unerträgliche treibt. Schließlich ist man in einen veritablen Schockzustand versetzt. Die Aufführung profitiert aber auch von den Leistungen der drei Protagonisten, die den komplexen, schwer begreiflichen Charakteren eine gewisse, wenn auch in ihrer schwarzen Dämonie fast übertrieben wirkende Glaubwürdigkeit abgewinnen.

Katka Kurze vermag in ihren großen Augen und mit ihrer fahrigen, manchmal fast marionettenhaften Körpersprache die Eigenwilligkeit, aber auch die panische Angst und die zynische Bosheit dieser Helen überzeugend zu verkörpern. Peter Schröders Danny macht als einzige Figur wirklich eine Entwicklung durch, die von der Selbstgerechtigkeit des Pedanten bis zur niederschmetternden Erkenntnis reicht, dass sich die Hölle nicht irgendwo im Jenseits, sondern mitten unter uns befinden muss. Florian Müller-Morungen aber gibt als Liam ganz den haltlosen, zynischen, von Hass und Menschenverachtung geleiteten jungen Mann, dem es nur mit Mühe gelingt, wenigstens noch eine scheinbare Wohlanständigkeit als Tarnung vor sich herzutragen.

Wer auf die täglichen Meldungen von Terror und menschenverachtenden Verbrechen nur noch mit Gleichgültigkeit reagiert: in dieser Inszenierung wird er auf eine Weise damit konfrontiert, die er nicht mehr so rasch vergessen wird.


Waisen (DSEA)
von Dennis Kelly
Regie: Elias Perrig, Dramaturgie: Martin Wigger, Bühne und Kostüme: Wolf Gutjahr.
Mit: Katka Kurze, Peter Schröder, Florian Müller-Morungen und Eric Andersen.

www.theater-basel.ch


Alles über Dennis Kelly und Elias Perrig auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Dennis Kellys Stück "Waisen" stelle "im Gewand eines subtilen Psychothrillers große Fragen, ohne Werturteile oder gar Antworten zu geben", schreibt Martin Halter in der Badischen Zeitung (25.10.2010). "Wahrheit" sei bei Kelly "immer eine Verhandlungssache, eine Frage der Perspektive. Unterm dünnen Firnis von Recht und Moral lauern Abgründe von Hass und Gewalt." Und "anders als unsere deutsche 'Postdramatiker', die sich allenfalls noch in nüchternen Versuchsanordnungen, pseudodokumentarischen Projekten und fragmentarischen Biografien an große Themen heranwagen", scheue Kelly "weder die erzählerische Lust des well made play noch starke Emotionen." Elias Perrigs Inszenierung baue "ganz auf die Spannung zwischen sterilem Innen und schmutzigem Außen. Draußen: Das ist die anonyme, gefährliche Welt der Verzweifelten, Entwurzelten und Kriminellen; drinnen verschanzen und verheddern sich die Familienmitglieder in einem Netz von stickigen Liebesbeziehungen, fürsorglicher Nähe, Misstrauen und 'Verständnis'". Der Abend gehe "unter die Haut".

Es werde "nur geredet in Kellys Stücken. Gehandelt wird, wenn überhaupt, im off", meint Cornelie Ueding auf Deutschlandfunk (23.10.2010). "Und mit jedem Satz, mit jeder neu auftauchenden Frage wird die Situation vertrackter, immer auswegloser für die drei Personen, ein Paar und den Bruder der Frau." Das Gefühlswirrwarr habe "für die Zuschauer durchaus auch komische Züge. Kelly spielt virtuos mit der Wahrnehmung der Zuschauer, gönnt ihnen kleine emotionale Entlastungen und das Überlegenheitsgefühl, die immer weiter wuchernden Ausreden recht schnell zu durchschauen". Elias Perrig habe "die drei Figuren, Gefangene einer unheimeligen Überlebens-Kiste mit abschüssigem Boden, aus Kellys brüchigen und immer wieder von Erinnerungen, der Beschwörung von Zugehörigkeit unterbrochenen Dialogen entwickelt." Er stelle "ihre Lebensgier, ihre durch und durch widersprüchlichen Gefühlslagen in einer selten gewordenen, subtilen Sprachregie auch in Frage und als Frage an uns." Die Inszenierung sei "ein ganz und gar unspektakuläres Ereignis. Im Wortsinn ein Kammer-Spiel - das den Weg nach Basel lohnt."

Ja, "das Stück könnte packen", meint auch Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (26.10.2010). Der Plot sei "abgründig wie die Eigernordwand" und eröffne "Einblicke in unseren Wertehaushalt, die uns in tiefste Zweifel stürzen können darüber, wie wir uns selber verhalten würden". In dem knallweissen Wohncontainer von Wolf Gutjahr wirke überdies "das Blut noch blutiger". "Wie ein spitzer, giftiger Pfeil zielt diese weisse Hölle ins Publikum. Indem man das Böse der schlimmen Aussenwelt vom trauten Heim fernhalten will, produziert man es gerade." Kelly stelle seine Figuren mit Vorliebe "in Dilemmasituationen, in denen alle Gewissheiten ins Rutschen kommen". Beim seinem neuesten Stück beschleiche einen allerdings "das Gefühl, dass man das Strickmuster nun schon allzu gut kennt. Man sieht die Kippsituationen voraus, die Machart gerät zur Masche, die Überraschung bleibt aus." Was den Figurenzeichnungen von Danny und Helen fehle, sei "das richtige Mass an Beiläufigkeit. Gerade Kellys Kunstsprache (...) schreit nach dieser souveränen Nonchalance, sonst wirkt sie schnell gekünstelt." Am besten gefällt Schlienger Florian Müller-Morungen, der sich als Liam "wunderbar fahrig um Kopf und Kragen" schwadrodiere. "Mehr von dieser lebendigen Echtheit und Natürlichkeit, die kein Naturalismus sein muss, hätte auch den andern Figuren gutgetan."

Was sich anhöre wie eine Räuberpistole, sei "derart raffiniert geschrieben, dass man am Text bleibt, als sei man bei Hitchcock", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (27.10.2010). Schauspielchef und Kelly-Spezialist Elias Perrig inszeniere "die Parabel vom bösen weißen Mann als mathematisches Sprechballett". Wo Kelly "das Geflecht widerstreitender Gefühle im Innern von reizüberfluteten Zeitgenossen im Blick" habe und zu "semantischen Schleifen" greife, "als wolle er seinem psychologischen Realismus künstlich auf die Sprünge helfen, bleibe Perrig "selbst in diesen Passagen ein treuer Textverarbeiter und streicht nicht. Das gilt auch am Ende, wenn schon alles gesagt ist, Helen aber doch noch einmal zu einem Monolog ausholt. Trotzdem: Es ist schon ein beeindruckendes Stück Gegenwart, das Kelly und Perrig dem Basler Publikum da zumuten."

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