Protect me - Anouk van Dijk und Falk Richter schreiben ihr Tanz-Theater-Projekt schlüssig weiter
Rettungsschirme für geschundene Seelen
von Anne Peter
Berlin, 27. Oktober 2010. Protest wird seit den jüngsten Ereignissen im Südwesten der Republik nicht mehr unbedingt mit Jugend assoziiert. Und auch in der Berliner Schaubühne ist es der altehrwürdige Erhard Marggraf, der als so fragil schutzbedürftiges wie eigensinniges Störelement nicht nur mit der Jungkörperdominanz bricht, sondern auch den zähesten Widerspruchsgeist beweist.
Störrisch schleudert er den Pulli in die Wanne, nachdem er ihn umständlich über den Kopf gewurschtelt hat. "'Friede den Hütten! Krieg den Palästen!', kennst du das?", fragt er den Sohn in Gestalt des genervt schauenden Kay Bartholomäus Schulze, während der ihn badefertig zu machen versucht. "Du bist doch Autor, so was musst du mal schreiben!" Dann redet er über Büchner und Nietzsche und darüber, dass weniger die Integrationsunfähigkeit der Migrantenkinder als vielmehr die der Finanzmanager ein Problem seien: "Die sehen sich nicht als Teil dieser Gesellschaft. Die teilen nicht."
Selbstermächtigung und Stimm-Erhebung
Nun, es muss ja nicht gleich ein "Hessischer Landbote" sein. Aber vielleicht ein Text, den man "Revolutionäre Energien" nennen könnte. Oder "Passiver Widerstand" oder "Blutrausch". Diese Titel spielt der vierzigjährige "Jungautor" in Falk Richters neuestem Theatertext in seinem Autorenkopftheater durch. Da steigert sich Stefan Stern in die Aufstands-Phantasie der "gedemütigten Praktikantenfresse" hinein: die "geht zu dieser Scheißfirma einfach nicht mehr hin die knackt jetzt lieber den Bankaccount des Chefs klaut seine Steuerunterlagen und erpresst ihn". Und Judith Rosmair erdenkt eine aggressive Heldin, die sämtliche Führungskräfte der Republik in den Herzinfarkt vögelt.
Mit dem Meta-Theater-Kniff der Autorfigur, die immer wieder Fetzen einer vagen Handlung aufblitzen lässt, erzählt "Protect me" von der Sehnsucht, endlich sein eigenes Stück zu schreiben, die Regie für das eigene Leben zu übernehmen. Vom Zuschauenden zum Handelnden zu werden. Bereits zu Anfang formuliert Luise Wolfram das diffuse Gefühl, dass "irgendetwas nicht stimmt". Immer wieder zerrt sie der Tänzer Philipp Fricke dabei vom Mikro weg; immer wieder erobert sie sich dieses Instrument der Selbstermächtigung und Stimm-Erhebung zurück, das zahlreich auf Katrin Hoffmanns dunkel-cooler Bühne bereit steht. Milchige Plastevorhänge begrenzen diese im Hintergrund, davor ein schwarzglänzender Tischtresen über die Länge des Raumes, der immer wieder als Laufsteg dient, und drei mobile Zimmerzellenkästen mit Glasfront - klaustrophobische Privatsphären, in denen die Performer buchstäblich die Wände hochgehen.
Dieses Leben auf Kosten der anderen
Thematisch wie formal schließt dieser von Falk Richter und der Choreographin Anouk van Dijk gemeinsam gestaltete Abend nahtlos an ihr genreübergreifendes Hybrid-Werk Trust an, das überaus fruchtbare Ergebnis ihrer Zusammenarbeit von vor einem Jahr. Damals wirkte die zersprengende Kraft von van Dijks Tänzerarrangements auf das zuletzt oftmals in oberflächlicher Coolness steckenbleibende Richter-Theater wie der reinste Adrenalinschock. Ausgelotet wurden die desaströsen Folgen der Verantwortungslosigkeit in betriebswirtschaftlichen und beziehungstechnischen Dingen, der kollektive Zustand einer Generation von Hyperindividualisten, die jenseits ihrer Arbeitswelt kaum noch Erfahrungen machen.
Diese Themen werden in "Protect me" recycelt und um einige Aspekte ergänzt. So macht man sich auf unterhaltsame Weise über Therapie- und Selbstfindungswahn lustig, über Yoga, Tai Chi, Klangschalen und Globuli, mit denen die "Opfer der Finanzkriege" in Wohlfühl-Resorts wieder aufgepäppelt werden. In weißen Bademänteln wandeln die Schauspieler in dieser Szene, liegen gemeinsam am Boden und ersticken in dem Mantra "Ich freue mich am Reichtum der anderen" jegliche aufrührerische Energie. Wieso aber sollte man seine Wut eigentlich bezähmen? Gegen den Hunderte Milliarden schweren Rettungsschirm für die Banken wird hier ein Rettungsschirm für die armen, einsamen, Konsum-gebeutelten, Leistungs-getriebenen, Facebook-Twitter-Skype-verseuchten Seelen gefordert. Behauptet wird die Krise als permanenter Ausnahmezustand.
Symbolische Zerreißprobe der Körper
Dieser treibt die Körper zu Schussgeräuschen oder aufbrandenden bis pochenden Elektrosounds (Matthias Grübel und Malte Beckenbach) durch den Raum, besonders beeindruckend im Solo Franz Rogowskis zu Anfang. Arme werden geschleudert, Beine ziehen in die andere Richtung. Wieder schickt (die selbst auch mittanzende) Anouk van Dijk die Gliedmaßen der Performer mit ihrer Gegenbewegungs-basierten "Countertechnique" weit in die Körperumlaufbahn. Immer wieder sucht man aneinander Halt, hochgereckte Arme erflehen Schutz, tastende Hände versuchen Nähe bis zur Zärtlichkeit. Doch dann reißt die Fliehkraft die Tänzer wieder auseinander, Bilder des Getriebenseins, des Hinschlidderns und Balanceverlierens, der Anziehung und sofort kehrtmachenden Abstoßung.
Zwar hat der neue Abend nicht mehr die elektrisierende Wirkung des Vorgängers. Tanz und Schauspiel fließen hier nicht so bestechend spielerisch zur Symbiose ineinander, sind mehr nach- und nebeneinander angeordnet. Und vielleicht ist die Inszenierung dafür, dass sie von seelischen und gesellschaftlichen Kaputtheiten zu erzählen trachtet, auch allzu wohl gestylt, zu clean, zu schick? Aber das sind Mäkeleien auf hohem Niveau. Die Reihe der Tanz-Theater-Hybridformen an der Schaubühne, für die auch Constanza Macras steht, wird mit "Protect me" auf schlüssige Weise fortgeschrieben. Wieder sind es diese Tanzkörper, die den Fragen, Ängsten, Bedürfnissen des einzelnen im abstrakten Raum der Systeme und Diskurse konkretes Gewicht verleihen. "Are we five days before the revolution?", fragt van Dijk gen Ende. Dieses Theater scheint es sich zu wünschen.
Protect me (UA)
von Falk Richter und Anouk van Dijk
Regie und Choreographie: Falk Richter und Anouk van Dijk, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Matthias Grübel / Malte Beckenbach, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Carsten Sander.
Mit: Erhard Marggraf, Judith Rosmair, Kay Bartholomäus Schulze, Stefan Stern, Luise Wolfram (Schauspieler), Anouk van Dijk, Philipp Fricke, Franz Rogowski, Nina Wollny (Tänzer).
www.schaubuehne.de
Mehr zu Falk Richter und Anouk van Dijk: Ihr Hybridprojekt Trust hatte genau vor einem Jahr an der Berliner Schaubühne Premiere. Mehr zu Falk Richter gibt es auch im nachtkritik-Lexikon.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=lPngr0UbSQs}
"Richters vernehmbare Wut auf die Oberflächlichkeit und die rücksichtslose Gier nach Geld, Erfolg und Erlebnissen, die er für den Götterfunken eines kapitalistischen Weltenbrandes hält, verführt ihn immer wieder dazu, diese Oberflächlichkeit zu reproduzieren", resümiert Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (5.11.2010). Bei "Trust", seinem letztem Versuch der Promi- und Banker-Schelte, habe die Verbindung mit dem Tanztheater von Anouk van Dijk noch zu einer schönen Aufweichung der Konzeptfiguren geführt. Jetzt verblasse die Kraft dieser Beziehung in der Wiederholung. "Zwar erfand die niederländische Choreographin wieder intensive Momente, wo Körper gegen Karikatur rebellieren, aber die meiste Zeit verbraucht sich Bewegung im Versuch, Posen der Glamour-Welt lächerlich zu machen." Die wenigen Szenen, die diesen viel zu langen Abend punktuell verdichten, sind jene, in denen Falk Richter Persönliches zulasse. "Für die abgedroschene Welterklärungs-Polemik, die den Hauptteil des Stückes ausmacht, gilt der Rat der Künstlerin Jenny Holzer: 'Protect me from what I want.'"
Gelungen ist die Text-Tanz-Collage, befindet Eberhard Spreng im Deutschlandradio Kultur (27.10.2010). Richter setze dabei auch auf Texte, die er im Sommer schon in Avignon erprobt habe. "Wiederum gelingt der Dialog vom Text und Tanz; einzelne fröhlich-groteske Textkaskaden, etwa von Judith Rosmair, tänzerische Soli der Einsamkeit in Ticks und Spleens, wie das der Anouk van Dijk, überzeugen. Auch wenn der Abend über die Kälte der Welt und das Sterben der Herzen Collagecharakter hat, Ansätze für viele Abende skizziert und nur durch eine fiktive Autorenfigur, die Autofiktion des Falk Richter zusammengehalten wird."
"Richters Texte kennen so wenig ein Außen wie jenes Innen, das sie beschreiben, weshalb man sich schon immer gewaltsam hinein ziehen lassen musste in die hermetischen, gezielt desorientierten, posthumanen Kapitalmächte von 'Electronic city' bis 'Unterm Eis'", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.10.2010). "Doch erweist sich 'Protect me' nun (...) als der bisher düsterste, gewollt vergeblichste, ungewollt inhaltsärmste Versuch." Dabei orientiere sich Richter "mit der ausgestellten Verwundbarkeit des Autors, seiner privaten Selbstausschöpfung als Schmerzensmann und Sohn eines sterbenden Vaters" an das Therapietheater des sterbenden Christoph Schlingensief: Hier aber erfriere diese Therapie "zur eiskalten Masche." Meierhenrichs Fazit: "Sozialkritische Fantasie bräuchte Scharfsinn statt Hammer."
Rüdiger Schaper bringt im Tagesspiegel (29.10.2010) den Abend so auf den Punkt: "Fünf Schauspieler und vier Tänzer umkreisen Gefühlszustände und politisch-gesellschaftliche Befindlichkeiten." Dass das noch keinen Theaterabend ergebe, das "weiß Falk Richter, Autor und Regisseur, und deshalb baut er mit seiner künstlerischen Partnerin, der Choreografin Anouk van Dijk, eine Versuchsanordnung auf. Ein bisschen Interaktion zwischen den Akteuren und viele, viele Worte, meist in monologischer Form: Es wird dann schon etwas herauskommen."Deutlich auseinander fielen die tänzerischen und schauspielerischen Teile: "Die Bewegung wirkt härter (...), der Ton bitterer, die Texte schwächer und die Musik (...) lauter, aggressiver. Kein guter Mix".
Kurz und bissig kommentiert Manuel Brug in der Welt (29.10.2010): "Richter lässt sein Personal quasseln, van Dijk schleudert ihre Leute durch den Raum. Dazwischen steht die entzückende Judith Rosmair, wuschelt sich die sowieso schon wuscheligen Haare noch wuscheliger und rosmaiert gurrend ins Mikro." Jedweder revolutionäre Elan bleibe ein behaupteter, herausgeschrieener: "Musik loopt in Endlosschleife, und Jugend verschwendet sich maßvoll. Da träumt eine 'Praktikantenfresse' von Rache und die Rosmair möchte Bänker totvögeln. So haben sich alle schön schick schaubühnenmäßig im 'Wohlfühlressort' eingerichtet, gegen das sie dekorativ die Wände hochgehen."
"Text und Körpersprache gehen in dieser Gemeinschaftsarbeit von Falk Richter und Anouk van Dijk eine äußerst sinnstiftende Alliance ein", befindet hingegen Katrin Bettina Müller in der taz (29.10.2010). "Ob die Figuren nach innen oder nach außen vorstoßen, in jeder Richtung entzieht sich ihnen das Eigentliche, der Kern, von dem man ausgehen könnte, der Feind, gegen den man kämpfen könnte." Richter verbinde die öffentliche Krise mit dem Privaten, "das Versagen der Politik vor den Finanzsystemen mit dem Versagen des Autors, auf diesem politischen Feld etwas auszurichten." Der Abend sei eher eine Variation von "Trust" als eine Weiterentwicklung: "In beiden Stücken gibt es großartige Momente von Welterklärung, Erkenntnisblitze; dass von ihnen nur Rauch bleibt und das Lachen der sich gut unterhaltenden Zuschauer, darüber hat sich die Traurigkeit des Autors womöglich vergrößert."
Die Irritation, ob das "Emo-Kitsch oder bereits ein endzeitlicher Kommentar auf die Wiederkehr des Gleichen darstellt" habe man an diesem Abend auszuhalten, empfiehlt Tobi Müller in der Frankfurter Rundschau (30.10.2010). Fünf Schauspieler und vier Tänzer performten "das Leiden an der Welt als Subjektkrise", wie er schreibt. "Vielleicht verhält es sich auch umgekehrt, dann wächst der persönliche Zusammenbruch zur Apokalypse heran. Das ist ein bisschen egal und gründet gerade in der Struktur der Psychose, die zwischen Ich und Umwelt nicht mehr unterscheiden kann." Neu sei, dass Falk Richter die Figur des Autors in diese vagen Theorieposen einführe und mehr Ironie erlaube als in früheren Arbeiten. "Die Krise ist jetzt auch jene eines 40-jährigen Autors und Regisseurs, dem die Eltern sterben und der sich nach Schönheit und Vergebung sehnt." Am stärksten findet Müller aber die oft sprachlosen Bilder, in denen er die Angst, von der dieser Abend sooft erzähle manchmal tatsächlich konret werden sieht.
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Achtzig Prozent von "protect me" sind hingegen eine sehr private Abrechnung eines vierzigjährigen Autors mit sich selbst. Der Selbstbezug Richters liegt auf der Hand, und der ist überaus mutig. Zuweilen so nah an einem vielleicht realen Leben entlang geschrieben, dass man als Zuschauer manchmal lieber nicht mehr zuhören will: Der eigene alternde Körper wird in schonungloser Betrachtung ans Licht gezerrt und die Einsamkeit eines zu Erfolg gekommenen Theatermannes eindringlich geschildert. Der bald zu erwartende Tod der Eltern steigert zur existenziellen Lebenskrise des Sohns - das ist alles gut geschrieben und vom Ensemble toll gespielt. Kurz bevor der Abend allerdings wirklich zu schmerzen beginnen könnte, dreht der Regisseur Richter ab. Dann wird das Therapiegespräch zur verturnten Slapsticknummer und die Windel mit der stinkenden Scheiße des Vaters bleibt auch nur in der harmlosen Andeutung stecken. Wie immer wird die Oberfläche der Inszenierung bei Richter mit viel trainierter Nacktheit poliert. Und spätestens dann fühlt man sich als Zuschauer ziemlich verschaukelt. Warum stehen die gut gebauten jungen Männer über die Hälfte des Abends nackt oder halbnackt auf der Bühne und zeigen uns ihre wohlproportionierten Körper? Das versteht man nicht. Man versteht nur, dass ein Theatermann das geil findet!
In der Tat, die Offenlegung der autobiographischen Kenntlichkeit ist mutig. Gleichwohl wirkt die beinahe zwangsneurotische Abgrenzung von der sogenannten "Tradition" (Wagner - oh Gott, Nazis!, Büchner, Nietzsche usw.) im Gegenzug irgendwie unreif, spätpubertär oder einfach nur undifferenziert. Was genau ist an den alten Klassikern bzw. Dramentexten denn nun eigentlich so schlecht? Die sind doch nicht per se schlecht. Es kommt drauf an, in welcher Form man sie wieder-holt und im jeweils aktuellen Kontext neu les- bzw. hörbar macht. Ob und inwiefern sie mir heute noch etwas zu sagen haben.
Zitat Carl Hegemann:
"Wenn man sich von den Generationen abschneidet, die vor uns da waren, deretwegen wir jetzt hier sind, dann schneidet man sich von sich selbst ab, von seinen substantiellen [sic!, der Begriff der "Substanz" taucht zu Beginn auch bei Falk Richter auf] Wurzeln - das kann ich physisch erfahren."
In diesem Sinne haben mich persönlich auch weniger diese hyperaktiven und hysterischen schönen neuen Körper interessiert, als vielmehr die Seele des alten Mannes/Vaters (Erhard Marggraf), welcher sich gegenüber der die reine Gegenwart zelebrierenden jüngeren Generation in die (eigene Kriegs-)Geschichte gleichsam hineinbohrt. Wunderbar, wie Marggraf das Windelpaket einfach wegkickt und sich damit auch gegen das Spielen einer solch würdelosen Szene wehrt. Auch ein Zeichen des Widerstands gegen die Ausschließung des Alten, Kranken und Schwachen aus der hippen Konsumwelt des "forever young!"
Wir brauchen keine Therapie. Wir brauchen nach wie vor den aktiven politischen Widerstand, und zwar generationenübergreifend. Von wegen passiver Widerstand - so einfach ist das alles nicht. Wär ja auch noch schöner. Bitte, danke, tschuldigung. Keine Träume und Utopien mehr? Ach, ist das alles scheisse und einsam und traurig!
Sie schreiben: "Irgendwann delegiert oder projiziert man alles was man nicht schafft auf andere, wie die junge Praktikantin." Geht es hier nicht vielmehr um das Thema der Wut gegenüber unsichtbaren Machtstrukturen? Ich zitiere:
"Diese gedemütigte Praktikantenfresse hat keinen Bock mehr jeden Tag Umschläge zur Post zu schleppen oder neben dem Kopierautomaten herumzustehen das Auto des Chefs aus der Garage zu fahren und Sushi für die Teamsitzung in der Pause zu holen und dafür absolut keinen Cent und nicht mal ein freundliches Wort zu bekommen" usw.
Das sind "die Wutfantasien, die ganz unten noch vorhanden sind", wie Sie später schreiben.
Dass Sie von dem Vater "als Finanzmanager" schreiben, das habe ich ebenfalls anders verstanden. Gehört er nicht vielmehr zur Gruppe der Senioren, welche durch die falsche Beratung windiger Fondsmanager übers Ohr gehauen und betrogen worden sind? Und das hat der Sohn jetzt am Hals.
Die Szene der "Bestätigung des Regisseurs" habe ich nicht so ernst genommen wie Sie. Ist das nicht eher ein selbstironischer und darin wiederum sehr mutiger Kommentar auf den Regisseur, der unbedingt von seinen Schauspielern für das, was er tut, geliebt werden will? Dazu noch einmal Carl Hegemann:
"Regisseure zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie in der frühkindlichen Allmachtsphase steckengeblieben sind, getreu dem Motto: 'Meine Realität ist die, die hier durchgesetzt wird. Alle anderen müssen an dieser, meiner Realität arbeiten. [...] Theaterarbeit lebt von dieser Identität von Ohnmacht und Allmacht. denn gleichzeitig weiß der Regisseur, dass er im Grunde genommen völlig hilflos ist, ausgeliefert."
Und vielleicht geht es in dieser Szene auch darum, dass man die berufliche und die private Sphäre lieber voneinander trennen sollte.
Die Machtstrukturen sind meiner Meinung nach nicht völlig unsichtbar, sie verwischen nur zunehmend, man weiß aber tatsächlich manchmal nicht auf wen persönlich man seine Wut fokussieren soll. Der Praktikant, kann nur auf seinen unmittelbaren Chef oder den Mitarbeiter, der ihn mit den Sachen, mit denen er wahrscheinlich selber überfordert ist, zu ballert sauer sein und da entsteht eine Menge Frust auch über die Situation im Allgemeinen. Ich habe selbst mit solchen jungen Leuten zu tun und kann das Gefühl der Ohnmacht bei denen ganz gut nachvollziehen. Aber keine Angst, während ich hier schreibe, macht kein Praktikant meine Arbeit, das kriege ich auch alleine noch ganz gut hin.
Mit dem Vater, das haben sie falsch verstanden. Er gebraucht im Gespräch mit dem Sohn diesen Vergleich des nicht integrierungswilligen Managers, wenn ich mich bei dem Textwust nicht vertan habe.
Die Szene mit Autor kann man ja sehen wie man will, da findet sich jeder irgendwie wieder. Es geht ja auch gemäß Programmheft darum, das man sich interessanter macht als man ist, in Internetprofilen zum Beispiel, das sich und anderen etwas vormachen sozusagen.
Es sind alles in allem zu viele Baustellen, die Richter aufreißt, die liegen nun da und man schaut in ein Loch und wartet darauf, dass das mit Inhalt gefüllt wird. Die Kritik ist sich ja schon wieder einig, dass der Abend nicht an Trust heranreicht, ich sehe das eher als fortlaufenden Prozess und der kann ja irgendwann durchaus zu einem Ergebnis führen. Falk Richter gefällt sich vielleicht auch in der Rolle, des ewig Suchenden und in Anouk van Dijk hat er zumindest künstlerisch eine Langzeitpartnerin gefunden.
Dieser Konflikt durchzieht das ganze Drama, während die anderen Themen sich im Stil einer Nummernrevue abwechseln und das Hauptthema wie aufgeblähte, artistisch verbrämte Füllsel umranken.
Niemals wird gesagt, dass der Autor (K.B. Schulze) ein Autoporträt von Falk Richter sei, aber es wird anscheinend stillschweigend angenommen. Richter soll sich sogar durch die Figur hindurch nackt und schutzlos präsentieren, was kolossaler Humbug ist.
Nicht fehlen durfte wie im Vorgänger „Trust“ die Kritik an den hochsubventionierten Banken, deren Manager nicht einmal zur Verantwortung gezogen werden, und am alles zerfressenden Markt. Hätte Marggraf die Tatsache, dass Banker nicht integrationswillig seien und nicht teilen wollen, mit mehr Elan und rhetorischem Feuer vorgetragen, wäre ihm Applaus von Teilen des Publikums sicher gewesen. Aber er sprach leise, ermattet und resigniert, als wolle er gar nicht richtig gehört werden.
„Falk Richter beschwört den "Hessische Landboten" und möchte so gern Georg Büchner sein“, lässt sich Manuel Brug in der „Welt“ vernehmen. Das sagt ebenfalls Marggraf und nicht Richter, der diese Worte nur der Figur in den Mund legt, ohne autobiographische Wünsche und Zeugnisse abzulegen. Dass Figuren keine Sprachrohre des Autors sind, hat sich bei Literaturkritikern längst herumgesprochen – anscheinend ist diese Tatsache aber noch nicht zu Theaterkritikern vorgedrungen.
Gelungen fand ich die Darstellung von diversen Therapieformen, die der Restaurierung der angeschlagenen Psyche dienen und in einem Wutmanagement gipfeln. Obwohl das Ganze einen satirischen Charakter hatte, fand ich die von Luise Wolfram gespielte Figur und ihre Mitstreiter im Kampf um mehr Gelassenheit äußerst unterhaltsam. Wie zeigt man sich langweilende Figuren, ohne ein langweiliges Stück daraus zu machen? fragt sich Herr Schaper. Richtig, indem man die Stilmittel von Ironie und Komik verwendet. Das ging Richter stellenweise leicht von der Hand, z.B. bei der im Wagner-Rausch befindlichen Judith Rosmaier, die noch vom Führer und dessen System träumt, aber wegen des unauslöschlichen Untergangs nun auf ein starkes Deutschland setzt, das Europa ökonomisch dominiert, angeführt von den Strategen Angela und Guido...
Eine Frau wie Judith Rosmaier, die wichtige Banker in Grund und Boden vögelt, ins Erlöschen hineinvögelt, ist kaum vorstellbar, dafür ist sie denn doch zu zart gebaut. Wahrscheinlicher ist, dass besagte Personen angesichts ihres bezaubernden Wesens die Luft wegbleibt.
Wer sich wegen der nackten Tänzer aufregt, ist vor der Zeit alt geworden. Es ist doch gleichgültig, wie sich das Personal präsentiert, zumal diverse Präsentationsformen heute nicht mehr erschrecken können.
Insgesamt war das Stück manchmal etwas richtungslos und unzugänglich, aber Langeweile ob der gezeigten Langeweile kam nie auf und phasenweise war es sogar elektrisierend.
Der Vater schimpft auf die nicht-integrierungsfähigen Finanzmanager. Aber ist er deswegen gleich selbst einer? So habe ich das nicht verstanden.
@ Flohbär: Interessanter Ansatz. Vielleicht machen wir den Fehler, in konstruierten Figuren eines Stücktextes immer gleich reale Personen wiedererkennen zu wollen. Aber vielleicht ist das auch das Tragische, dass wir nach einem autonomen ICH als Handlungsmöglichkeit suchen und immer wieder nur auf dieses sprachlich repräsentierte bzw. repräsentierende Ich stoßen. Wann sind menschliche Subjekte denn wirklich mal "echt und authentisch"? Und gibt es das überhaupt? Oder verhalte ich mich nicht immer unterschiedlich, je nach Situation und spezifischen privaten und beruflichen Rollenanforderungen?
Na, davon gehe ich aber stark aus, dass Stefan Stern gemeint ist, sie überschätzen mich sonst.
Das Finanzkapital wird aber auch bewusst zu einem anonymen diffusen Gebilde gemacht. Nicht umsonst gibt es den Chor der Manager und der Kleinanleger bei Elfriede Jelinek in den Kontrakten des Kaufmanns. Da nie jemand konkret zur Verantwortung gezogen wird, können die Manager auch in diesem System verschwinden. Es wird ja keiner auf die Idee kommen einen Ackermann oder sonstigen Bankchef zur Verantwortung zu ziehen. Justitiabel sind leider nur konkret nachweisbare Unterschlagungen von Anlageberatern, die das System versuchen für sich arbeiten zu lassen. Aber selbst die flutschen einem ja durch die Hände und haben sich entsprechend abgesichert.
Wieder falsch verstanden. Der Vater ist natürlich kein Manager, habe ich auch nie behauptet, er erzählt nur von den Managern. Jetzt besser?
Da scheint mir aber seit den 70er Jahren nicht sehr viel Einsicht dazu gekommen zu sein. Weder bei den Autoren noch bei den Zuschauern. Da gebe ich Ihnen Recht, wir drehen uns im Kreis. Ihre Analyse unter 1 unterscheidet sich nicht sehr viel von meiner. Zum Thema Körper bin ich aber anderer Ansicht, da stehen ja nicht nur knackige junge Männer oder haben Sie Erhard Marggraf übersehen? Was Richter betrifft, meine ich auch nicht, dass er nur sich selbst bespiegelt. Jeder hat irgendeines oder mehrere der dargestellten Probleme. Die werden auch immer weiter Menschen haben, worauf wollen Sie hinaus? Soll Richter jetzt die Revolution anzetteln? Vielleicht ist er noch nicht soweit die Scheiß Windel seines Vaters zu wechseln. Ich sprach von einem laufenden Prozess. Wenn Sie in den 70ern schon mal so weit waren, schön, vielleicht müssen wir aber erst noch dahin. Sie haben mit Sicherheit nicht die Erfahrungen Ihrer Eltern kopieren wollen und lieber eigene Fehler gemacht. Was ich riskiere oder nicht, woran machen Sie das denn fest? Diskutiert hier sonst noch jemand? Scheint ja alles prima zu sein, oder?
Was wollen Sie? Sie sind es doch, der über Autor und Biographie schwadroniert und den angeblichen Selbstbezug Richters ins Feld führt! So weit ich weiß, gibt es von ihm bislang keinen öffentlichen Kommentar, der auf die dramatische Umsetzung seines Tagebuchs verweist.
Halten Sie die Beziehung zwischen Vater und Sohn für dermaßen radikal, dass sie aufgrund der schonungslosen Behandlung bis fast an die Schmerzgrenze geht? Da habe ich aber schon wesentlich eigenwilligere und gewagtere Projekte gesehen.
Meister ProzacMe, natürlich können Sie auch irgendeine Radikalität in das Werk hineinlegen, die nur von Ihrem Scharfsinn erkannt wurde und dann in aller Coolheit offenbart wird. Wahrscheinlich verfügen nur einige Auserwählte und Sie über diesen geschärften individuellen Blick, den Sie bei anderen schmerzlich vermissen.
Ich schreibe nicht für eine Publikation und deshalb manchmal nur mit halber Kraft – teilweise auch deshalb, weil sich solche Existenzen wie Sie bei Nachtkritik verirren. Angesichts der Zensurfreudigkeit dieser Plattform muss ich mich mitunter mit meinen Formulierungen zurückhalten. Leute, die einen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht haben, sind hierbei eindeutig im Vorteil, denn sie können eine Zensur elegant umschiffen und gut mit Andeutungen und Metaphern umgehen.
ProzacMe, Ihre Nörgelei erstreckt sich zudem auf andere Personen, das Sie z.B. die Kritik von Anne Peter massiv beanstandet haben. Wenn ich da an die abstrusen Rezensionen in der Berliner Zeitung und der Welt denke... Frau Peter hat tatsächlich auf einem hohen Niveau geschrieben, als habe sie bislang ihre Kräfte geschont.
Es geht darum zu wissen, was man in Verantwortung für das eigene Leben und das Ganze des gesellschaftlichen und globalen Zusammenhalts tun kann. Wie kann es sein, dass auf der einen Seite für die Bankenrettung ad hoc ein Rettungsschirm (Protect me) von zig Millarden Euro bereitgestellt wird? Und wie kann es sein, dass das auf der anderen Seite bei Themen wie beispielsweise der Aids-Hilfe für Afrika, des globalen Klimawandels, der Hungersnöte in den sogenannten "Entwicklungs- bzw. Schwellenländern" oder der Erhöhung der Hartz IV-Sätze für Kinder in Deutschland nicht passiert? Kommt das vielleicht daher, dass wir das alles nur noch medial vermittelt über das Internet wahrnehmen und dadurch auch leicht wieder aus unserem eigenen Verantwortungshorizont entfernen bzw. verdrängen können, wie es Anouk van Dijk einmal wütend auf den Punkt bringt? Es gilt, eine Balance zu finden zwischen dem, was der Einzelne für sich selbst und für Andere tun kann und was nicht mehr. Und für alles, was darüber hinaus geht, die politisch Verantwortlichen dazu zu bewegen, Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen bzw. für die Konsequenzen dieses Handelns einzustehen. Auch und gerade wenn immer wieder suggeriert wird, dass angeblich "wir alle" Schuld seien, weil "wir alle" zu gierig gewesen seien. Nein, das ist religiös verbrämter Quatsch und geht zudem an den realen Tatsachen vorbei.
Schöne Vorstellung, nur wie wollen Sie da jetzt hinkommen? Ich habe doch auch nur festgestellt wie es ist, nicht wie es sein könnte und deswegen drehen wir uns im Kreis. Sie haben schöne Träume und kein Rezept sie zu realisieren. Schon allein die Frage Wie das sein kann, das es diesen Rettungsschirm für Banken gibt, müsste Ihnen ja im Munde gefrieren. Das Internet hat nichts damit zu tun. Es geht eher darum, das wir die Frage Wieso etwas ist, nicht beantworten können und daher nicht zur Frage Wie wir das ändern wollen vordringen können. Der Autor Ronald M. Schernikau hat 1990 gesagt: „Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinander zusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe? Die Künstler werden alleine sein, langsam begreifen sie es.“ Leider sagt er noch ein paar andere Sachen, die seiner persönlichen Einschätzung entspringen, aber mit diesem Satz hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Und daran knabbern wir jetzt, drehen uns um die deutschen Nierentische und erzählen uns unsere Neurosen. Man sollte Schernikaus Sätze in Stein meißeln und auf den Schlossplatz stellen, nicht als Ideologie, sondern als echten Ge-Denkstein.
Diese Frage "wieso etwas ist" (und nicht vielmehr nichts) muss sich jeder einzelne in Beziehung zu anderen jeden Tag neu versuchen zu beantworten.
Und wie kommen Sie jetzt auf die deutschen Nierentische? In dieser Inszenierung kamen doch gar keine Nierentische vor, oder? Konkret an der Sache/Inszenierung dran zu bleiben und nicht permanent dieselbe abstrakte Leier abzusondern, das ist auch eine Kunst.
Gegen Denkmäler bin ich übrigens allergisch, die sind so unbeweglich und irgendwie ideologisch erstarrt.
@Stefan: "Der Autor Schernikau hat 1990 gesagt" - kicher - Das ist genau dieses pseudo-wissenschaftliche Gehabe, das hier nicht hingehört. Mit Protect me hat es sowieso nichts zu tun. Und wieso musst du deine Meinung mit Zitaten anderer Leute absichern? Du bist hier nicht in der Uni, hast du das noch nicht kapiert? Deine Autoritätshörigkeit hat sich bis in deine Art zu denken hineingearbeitet.
@ El-friede
Ich bin eigentlich ein sehr fröhlicher Mensch aber auch nachdenklich und das war Schernikau auch, vielleicht ein wenig zu idealistisch aber auf jeden Fall nicht ideologisch. Darum geht es nämlich nicht. Sie sind leider völlig ironiefrei und verstehen grundsätzlich alles falsch, ich gebe es auf. Ich bin es leid in der ewig selben Scheiße zu rühren und mich zu wiederholen.
Mm, also mein virtueller Therapeut hat mir mal gesagt, dass man an andere adressierte Sätze immer aus der Ich-Perspektive formulieren sollte. Dagegen würden einseitige Schuldzuweisungen oftmals eher zu einem abrupten Abbruch der Kommunikation führen.
Die Kommunikation hat ProzacMe bereits vor mir beendet. Belassen wir es einstweilen dabei.
Lieber ProzacMe !
Ist ja nicht unsympathisch, daß Sie nicht auf den ERGO-Zug aufgesprungen zu sein scheinen und der Welt entgegengehen mit Ihrem je eigenen "Kommet her, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will
Euch erquicken, ... all Ihr Kinder Deutschlands, ich liebe Euch doch alle, es gibt 82 Millionen gute Gründe, "Protect me" zu besuchen, nennt mir Euren.", aber regelrecht ins Gegenteil umzuschlagen, um hier den Leuten zu erklären, was da so ins Forum gehört und was nicht, au weia, ich fürchte geradezu, Sie bekommen es hin, gerade die weniger "gefestigten Stimmen" mit solcherlei Holzhammerverhalten vom Forum abzuschrecken: Sie scheinen wütend zu sein; das Stück verhandelt den Umgang mit diesem Gefühl, und ich hoffe inständigst, "man" wird Ihrem Namen gewordenen "Wunsch" nicht entsprechen, Ihnen Aufheller zu verabreichen !
Herr Richter hat freilich gerade auf nachtkritik de. schon hin und wieder den Hang verraten, Privatleben und Künstlertum, Blogger-
wesen und Aufspaltung in vielerlei Threadpersonal zu "vermengen": insofern mag man zwar generell der Autor-Figur-Ineinsinterpretation mit gutem
Recht nicht besonders zugetan sein, jedoch gibt es Autorinnen und Autoren, bei denen das dann halt doch schon wieder sehr naheliegt.
"Daß man mit diesen athletischen Körpern noch reich empfinden können soll, ist mir ein Rätsel"; auf etwas wie diesen Satz komme ich spontan, sorry, ich muß noch in diese Inszenierung, die jedenfalls perfekt zum ERGO-Kram (neue große Versicherung ...) zu passen scheint und insofern bestimmt gewürdigt zu werden verdient (jedenfalls las ich Richters Interviews zu dem Stück, und das ist allemal lohnend ...), auf die ungebrochenen McFit-Heerscharen, auf das Wir, das qua Richter-Inszenierung möglicherweise doch wieder eher (5 Minuten vor der Revolution, statt EAV und "Banküberfall" Rosmair und Lena, die sich Banker vornehmen und totvögeln, ... der Männertraum vom Sterben im Spinnennetz ??) im Theater "besänftigt" wird von einer etwas glatten Veranstaltung, wenn ich versuche, dem Tenor der bisherigen Statements, die ich dazu vernahm, zu folgen.
Es laufen halt auch allerlei "Existenzen" ins Theater, verirren sich dorthin gar, da wäre es nicht verwunderlich, wenn ein Autor da gelegentlich mit halber Kraft voranmaschiert, bei engagierten Darstellerinnen und Darstellern nicht hinzunehmende Abriebe an der "Volksmenge" wittert, das Eisspray herausholt und seiner Mannschaft allerlei "Lockerung" erlaubt, denn gegen die Unterdrückung der Wut wird gewiß nicht helfen: die Unterdrückung von Ruhe und Entspannung
!!
Falk Richter hat sich zwar über verschiedene Therapieformen etwas lustig gemacht, aber dennoch ist es ihm hoch anzurechnen, dass er sie überhaupt aufs Tapet gebracht hat. Etwas Wutmanagement könnte auch El-Friede nicht schaden, hauptsächlich die Fähigkeit, ihre Ressentiments und Unzufriedenheiten zu kanalisieren, um das Gemüt zu besänftigen. Yoga und Qigong-Übungen würde ich nicht sogleich in die Esoterik-Ecke abstellen, sie können auch eine innere Balance herstellen, ein psychisches Gleichgewicht, mit dem sich nackte Männer auf der Bühne besser ertragen lassen. Nur wer mit sich einigermaßen im Reinen ist, ist dazu in der Lage, irgendeinen Widerstand zu leisten, der über die bloße Empörung von Intellektuellen hinausgeht, die sich stundenlang am Computer oder Stammtisch über globale und innenpolitische Missstände echauffieren. Erst sollte einmal bei sich selbst aufgeräumt werden, bevor an Aufräumarbeiten in der Außenwelt gedacht werden kann. Das ist das Verdienst von Falk Richter – ob er es wollte oder nicht.
Stefan Stern ist es, der den Part mit den milliardenschweren Subventionen für die Banken zu deklamieren hat. Später sagt dann Marggraf zu seinem Sohn, dass die Finanzmanager integrationsunwillig sein. So wurde die Bemerkung um ihre Wirkung gebracht – Stern hätte dergleichen mit mehr rhetorischem Feuer vorgetragen. Aber vielleicht war das auch nicht die Absicht des Regisseurs, schließlich betreibt er kein Agitationstheater. Nun, warum sich aufregen? Zunächst einmal die Wut abbauen.
Ich würde sagen, dass es um die Dialektik von Spannung und Entspannung geht. Und dass jeder einzelne sich innerhalb dieses Wechselverhältnisses eigenständig positionieren muss. Jegliche Art von politischem oder therapeutischem Führer-Guru (diese wunderbar komische Szene von Judith Rosmair, welche ohne den Nationalsozialismus nicht leben will oder das Coaching des Publikums durch Philipp Fricke) dagegen benötigt die politische Gemeinschaft nicht. Denn diese kann immer nur intersubjektiv, also über die Beziehung bzw. Kommunikation zwischen menschlichen Subjekten entstehen. Möglicherweise auch ohne große Worte - siehe der behutsame Tanz von Anouk van Dijk und (oh, jetzt hab ich vergessen, wer an der anderen Seite stand) mit Erhard Marggraf.
Dafür hat Richter diesmal eine Art Rahmenhandlung erfunden - ein nicht mehr ganz junger "Nachwuchs"-Autor, natürlich ein Alter Ego Richters - ob es auch ein Selbstportrait ist, sei dahingestellt - auf der Suche nach einem Titel für sein Stück. Und das namenlose Stück ist es, was Richter und van Dijk auf die Bühne bringen. Dabei ist die Namenssuche des Autors natürlich eine Metapher: Es geht um Sinnsuchen, für das eigene Leben, die Gesellschaft als ganzes, Beziehungen. Vor allem aber verschiebt sich gegenüber Trustder Fokus: Stand dort noch das gesellschaftliche, politische im Vordergrund, geht es diesmal mehr um das Private, Persönliche.
Und so ist der Abend einer der Suche, spielen Regisseur und Choreografin Szenarien durch, Versuchsanordnungen, Modelle vermeintlicher Sinnstiftung. Einen gewollt fragmentarischen Charakter verleiht das dem Stück, ganz im Sinne der immer ratloseren Suche des Autors nach einem Titel.
Und was da alles verhandelt wird: Beziehungsunfähige Menschen, schon überfordert mit der Gesellschaft des eigenen Ichs, ganz zu schweigen von der anderer, Vater-Sohn-Beziehungen zwischen hilfloser Liebe und verzweifeltem Einander-Verletzen, "gedemütigte Praktikantenfressen" vor dem Aufstand der nie stattfindet, menschliche Beziehungen, die den gleichen Gestzen gehorchen wie der "Markt". Richter und van Dijk lassen "fast" nichts aus und entwerfen ein meist spannendes Panorama einer Gesellschaft, die ihren Halt verloren hat. Das ist berührend wie in den sprachlosen Vater-Sohn-Szenen zwischen Erhard Marggraf und Kay Bartholomäus Schulze, es kann aber auch sehr komisch sein, wenn etwa Judith Rosmair und Anouk van Dijk einer Praktikantin ihr ganzes Leben überstülpen wollen.
Wenn es so etwas wie einen roten Faden gibt, Themen, die den Abend durchziehen, dann sind es Vereinsamung und Bindungslosigkeit auf der einen und Sprachlosigkeit auf der anderen Seiten. Für beide finden sich durchaus eindringliche Bilder. Da sind Tanszenen zwischen Anziehung und Abstoßung, in denen die Momente der Einswerden miteinander so nachdrücklich wirken, eben weil sie so kurz sind, oder Menschen, die sich immer wieder in die drei Glascontainer zurückziehen, die Katrin Hoffmann auf die ansonsten sehr sparsam gestaltete Bühne gestellt hat und in denen sich Körper suchen, finden, wieder verlieren.
Überhaupt die Körperlichkeit: Immer wieder betrachten und betasten Schauspieler wie Tänzer den eigenen Körper, unsicher, ungläubig, neugierig, fragend, ob das, was sie da an sich vorfinden, sie sind, und was sie damit anfangen sollen.
Gelungen ist vor allem aber die Darstellung von Sprachlosigkeit als Ausdruck des Sich-Verlierens oder des Sich-Nicht-Finden-Könnens. Sprache heißt, zu sich selbst zu kommen, der Fremdbestimmung zu entfliehen, durch gesellschaft, Familie oder auch Coaches und Therapeuten, die einem erklären wllen, wer man ist. Dabe geht es doch darum, dies selbst entscheiden zu wollen, wie Luise Wolfram, die sich immer wieder zu einem Mikrofon vorkämpft, nur um nach wenigen Worten wieder weggezerrt zu werden. das Mikrofon, es ist hier Symbol der Menschwerdung, der Stimmfindung, der Individualisierung. Hier kommen die Figuren zu sich, hier können sie nicht nur mitteilen, wer sie sind, hier können sie es in der Mitteilung erst erfahren, vielleicht sogar es erst werden.
Und dieses Sich-Finden ist schwer, wie in Wolframs Szene, fast unmöglich. So kopmmt manch einer zum Mikrofon und bleibt doch stumm. Oder da ist die Eingangsszene,. in der Darsteller immer wieder sich aufrichten und an den Bühnenrand, zum mikrofon vortasten, nur um von einer unsichtbaen Kraft umgeworfen und zurückgestoßen zu werden, in einem immer intensiver und verzweifelter werdenden Kampf. Ein Bild, das seine Wirkung nicht verfehlt.
Und doch fehlt dem Abend die Intensität von Trust, und das liegt vor allem daran, dass hier das Zusammenspiel von Sprech- und Tanztheater, von Text und Bewegung nicht so selbstverständlich funktioniert wie im Vorgänger-Stück. Gingen die beiden Darstellungsarten dort wie natürlich ineinander über und auseinander hervor, bildeten sie dort eine Einheit oder arbeiteten sich aneinander ab, stehen sie hier meist nebeneinander, von einander getrennt. es wird gesprochen oder getanzt, es regiert der Text oder die Bewegung, aber es gibt keine Symbiose beider. Und so setzt sich der fragmentarische Charakter des Abends auch hier fort, ohne jedoch zur Sinnstiftung beizutragen. Am Ende bleibt ein anregendes Stück Theater, das aber noch mehr hergegeben hätte.
http://stage-and-screen.blogspot.com/
Entgegen der Meinung der Kritikerzunft halte ich „Protect me“ für eine Weiterentwicklung von „Trust“. Prospero, ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie nicht das „Hamsterrad“, in das sich Richter laut Doris Meierhenrich hineingeschrieben hat, erwähnt haben. Richtig, während im Vorgänger noch das Finanzkapital im Mittelpunkt stand, geht es jetzt mehr um Subjektkrisen, die aber auch durch öffentliche Finanzkrisen mitverschuldet werden.
Mir ist es ein Rätsel, Prospero, warum Sie die konstatierte Sprachlosigkeit als derart wichtiges Problem thematisieren. „Sprache heißt“, so hören wir in Ihrem Kommentar, „zu sich selbst zu kommen, der Fremdbestimmung zu entfliehen, durch Gesellschaft, Familie oder auch Coaches und Therapeuten, die einem erklären wollen, wer man ist.“
Tatsache ist aber leider, dass diejenigen, die sich, unter Umständen mit Mikrofon, Gehör verschaffen, meistens nur eine öffentliche Meinung wiederkäuen. In der Sprache vieler manifestiert sich meistens nur die Fremdbestimmung, und wer am lautesten brüllt, hat noch keine eigene Meinung. Prospero, Sie reden immer nur von der Sprachlosigkeit und meinen im Grunde eine eigene Sprache, die originär und individuell ist – doch das gelingt nur den wenigsten.
In jedem System versuchen die Machthaber, eine Sprache zu installieren, die von allen Gesellschaftsmitgliedern gesprochen werden und darüber hinaus das Denken manipulieren soll. Das war in der DDR so und geschah genauso im wiedervereinigten Deutschland. Das Mikrofon ist kein Symbol der Individualität und Menschwerdung, wie Sie behaupten. Es verschafft nur Zugang zur Öffentlichkeit und zu einer flauen Sprache des im Gemeinwesen üblichen Standards, worin die Individualität oftmals erstickt wird – deshalb der Hang zu immer bunteren Moden und schrillen Selbstdarstellungen, um sich aus dem allgemeinen Gewimmel irgendwie noch abzuheben. Wer versucht denn ernsthaft, mit der Sprache seine Individualität zu finden?
In „Protect me“ werden die Personen nur selten vom Sprechen abgehalten, auch Luise Wolfram kommt oft genug zu Wort. Zuweilen plappern die Figuren durcheinander und reden aneinander vorbei: das Ganze nennt sich dann Kommunikation. In Summa: die Sprachlosigkeit halte ich nicht für das zentrale Thema dieses Stückes. Es gibt Situationen im Leben, wo Menschen trotz fehlender Worte zueinander finden und sich ganz nah sind. In „Protect me“ geschieht dies leider nicht, es dominiert eher eine Vereinsamung – mit dieser These sind Sie weitaus dichter dran.
Das Graziöse wird meistens den Frauen zugerechnet, obwohl auch Männer das Vermögen für ein anmutiges, geschmeidiges Verhalten haben. In „Protect me“ kommen derartige männliche Vertreter leider nicht vor. KB Schulze und Stern mögen gewiss über einige Vorzüge verfügen, aber das Graziöse ist nun nicht gerade ein Bereich, in dem sie sich sonderlich hervortun.
Bei meinem Kommentar habe ich an das Fragment „Requiem für Fanny Goldmann“ von Ingeborg Bachmann gedacht: „...und ihr ganzer Existenzkampf hatte sich auf ein paar graziöse Sticheleien beschränkt und ein helles Lachen...“
Durch das Graziöse wird den Sticheleien der Stachel gezogen, sie werden entschärft und erhalten den Charakter der Leichtfüßigkeit, was ich tatsächlich eher von einer Frau erwarte und vermutlich mit meiner erotischen Ausrichtung zusammenhängt. Das mag ein Vorurteil und eine Rollenzuweisung sein – aber die Eigenschaften ‚zurückhaltend’, ‚freundlich’ und ‚devot’ sind nicht unbedingt vorteilhafte Züge, die bei einer Frau vorausgesetzt werden, von Machos einmal abgesehen.
Beim Graziösen schwingt auch immer ein bisschen Erotik mit, wie das bei den Auftritten der Rosmaier der Fall ist – sie hat dafür ein größeres Kontingent als beispielsweise Marggraf, selbst wenn der seinen Oberkörper entblößt und einen letzten Rest von gerontokratischem Überlebenswillen aushaucht.
Die besten Szene des Stücks ist die von Luise Wolfram geleitete Wuttherapie, die in Bademänteln durchgeführt wird. In diesem Aufbaukurs für Leute, die von der Finanzkrise gebeutelt wurden, herrscht sogar ausnahmsweise so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl, bei dem die Wolfram ihre Stimme zu einem sanftmütigen Säuseln absenkt. Freilich geschieht die Rückgewinnung inneren Friedens auf Kosten der Auflehnung gegen äußere Missstände. Hier werden die Thesen des Dalai Lama angewendet: nur wer innerlich aufgebaut und erstarkt ist, kann gegen berufliche und globale Probleme angehen. Diese Szene ist in ihrer ironischen Leichtigkeit ein Glanzstück Richters. Wer weiß, möglicherweise hat Richter inzwischen eine Dosis Perceval abbekommen.
Nun, die Ich-Entfaltung kommt in diesem Stück so gut wie gar nicht vor. Selbst der männliche Stricher ist ein Ausbund an Schlaffheit.
gestus: "Hast Du eine Haltung ?, bist Du ein Mensch ??, so rede !: rede !!"
Das ist, soweit ich das höre anläßlich von "ProtectMe" (fast möchte ich eine "Über-
schreibung im interpassiven Gestus" anregen: Rede für mich ...) oder auch aus anderer Literatur bzw. von anderen Bühnenstücken her kenne, doch noch die Frage: ausdrücken wollen ..., ist nicht gerade das verkürzt, wenn ein Begriff wie "Bindung", ja, wenn "Verbindlichkeit" ins Spiel kommt/kommen ?
Wir könnten uns den ganzen Dr. Faustus sparen und die "reine Musik", die nur noch ideelich geschaut wird ..., wenn es das nicht auch heute gäbe, jenes "Weistu was so schweig" (siehe Kapitel 25 des Dr. Faustus) oder Regines ("Die Schwärmer"):
"Etwas ist für mich nur solange wahr als ich schweige." .
Der "Faustus" droht das meineserachtens im etwas bemühten Rückgriff auf "Folgen des deutschen Ästhetizismus" anhand des alles aus dem Weg schlagenden Beispieles "Drittes Reich" sogar eher zu verwischen, als wäre das Nazitum gewissermaßen eine Herrschaftsform aus dem Geiste der Zwölftonmusik: dabei droht eine solche typisch deutsche Freiheit in die Einsicht der Notwendigkeit heute viel mehr denn je: heute suggeriert das Mikrophon wohl gar die "freie Aussprache" wie das Zwölftonsystem die Befreiung der Einzelnoten, doch: jeder Ton ist festgelegt und berechnet bzw. berechenbar: kann mir nicht vorstellen, daß Richter hierin das Nadelöhr für uns "Herzensreichen" auf die Bühne bringen wollte, und wenn doch, so jedenfalls verwickelter als es sich bei "Prospero" anhört.
El-Friede, obwohl nicht immer ganz klar ist, ob das nicht ihre Zwillingsschwester gepostet hat, für Sie wird ja teilweise schon "geredet" ..., es stimmt: "Protect me" steht auf der Liste der Berlin-Stücke, die ich am liebsten sähe im Januar, ganz oben...
Ich persönlich empfand Luise Wolframs Ich-Entfaltung in schwarzer Hose und schwarzer Bluse faszinierend, wie Sie da gegen diesen AOK-Berater ankämpft, der ihren weiblichen Objekt-Körper immer wieder zu Boden reisst, während Sie wieder und wieder aufsteht und den Weg zum Mikro bzw. zur eigenen Sprache/Stimme sucht.
Die Therapie-Szene mit Luise Wolfram im kleinen Schwarzen habe ich etwas anders wahrgenommen. Da geht es um gestresste Finanzmanager, welche sich von hübschen Frauen mit säuselnden Stimmen den inneren Frieden vorbeten lassen. Ja. Und damit kehrt sich die übliche berufliche Rollenaufteilung um. Die vormals so selbstbewussten obersten Chefs liegen nun einer Therapeutin zu Füßen, welche diese Männer wie kleine Kinder nachsprechen lässt: "Ich bin stark" (und Stimme anheben, auch die Männer, bitte!). Das hatte tatsächlich eine wunderbar subtile Ironie.
Auch den Stricher habe ich anders wahrgenommen: Diese coole Schlaffheit, genau das ist doch die Extremform der egoistischen Ich-Entfaltung. Der schläft erstmal ne Runde, weil der weiss, dass er das Zitat "bürgerliche Schwein" durch die käufliche Liebe voll in der Hand hat. Und nochmal: Mann, ist das alles einsam, traurig und scheisse!
Sie wollen also wieder mit dem Gender-Thema anfangen? Nicht mit mir. Im Übrigen würde ich es auch begrüßen, wenn die Sticheleien der Männer graziös wären. Wie Sie in diesem Zusammenhang auf Pumps kommen, ist mir schleierhaft. Ich habe – warum es nicht aussprechen? – nichts gegen erotische Frauen auf oder vor der Bühne, und wenn sie dann noch Kompetenzen mitbringen, umso besser. Aber aus diesen Gründen gehe ich nicht ins Theater.
Ihre Wahrnehmungen in Ehren, aber das, was die Wolfram in besagter Mikrofon-Szene betreibt, ist keine Ich-Entfaltung, bei der es um den Selbstausdruck, um das Ausleben individueller Bedürfnisse geht. Die in diese Rolle gepresste Wolfram versucht lediglich, sich durchzusetzen, ohne die Gesamtheit ihres Wesens in die Waagschale zu werfen.
Und beim Stricher verwechseln sie Egoismus mit Ich-Entfaltung. Tut der Stricher wirklich das, was er schon immer machen wollte und lebt er dabei eine Art Traumjob aus? Wohl kaum. Ihm geht es vielmehr darum, seine Existenz zu reproduzieren, und das auf möglichst elegante Weise.
Die Teilnehmer an der Wuttherapie sind tatsächlich Opfer der Finanzkrise, wie auch Anne Peter schrieb. Deswegen sagen sie unkämpferisch-friedlich: „Ich freue mich am Reichtum der anderen“, um sich nicht mehr aufregen zu müssen.
Angesichts dieses äh...Gedankenaustauschs sehne ich mich nach den Debatten mit Stefan. Die sind wesentlich ergiebiger.
Tatsächlich könnte man hier vielleicht diese Lohengrin-Szene mit Judith Rosmair anschließen, das (verdrängte?) Wagner-Trauma jedes deutschen Regisseurs. Denn gerade die Musik Wagners wird immer wieder mit dem durch die Nazis politisch instrumentalisierten Ästhetizismus bzw. mit der Tonalität und Harmonie ganzheitlich abgeschlossener ideologischer Weltbilder in Verbindung gebracht werden. Dagegen steht die atonale Zwölftonmusik, der Jazz oder auch die elektronische Musik für die notwendige Offenheit, für die Lücken und Bruchstellen ästhetischer Sinnstiftung, um dem "Herrschaftscharakter der Vernunft" (Adorno) entgegenzuwirken.
Andererseits aber verhindert diese permanente Rede von postmodernen und fragmentierten Subjekten die Entschiedenheit der Stellungnahme, welche notwendig wäre, um Widerstand gegen die aktuelle Finanzpolitik leisten zu können.
Im Übrigen, ich kann für mich selbst sprechen. Wer die andere El-friede ist, welche im Zusammenhang mit dem Burgtheater-Ring-Thread einmal kurz meinte, für mich sprechen zu können/wollen/müssen, das weiss ich nicht.
Luise Wolfram trägt in dieser Coaching-Szene rote Pumps/Stilettos oder wie auch immer man diese Dinger nennt, mir egal. Stichwort: Fetischcharakter der Dinge. An der Persönlichkeit und Kompetenz der Frau besteht bei den Männern möglicherweise gar kein Interesse. Oder vielmehr erst dann, wenn ihre - traditionell weiblich codierten - Softskills gebraucht werden.
Was verstehen Sie unter "dem Ausleben individueller Bedürfnisse"? Ist das nicht vielleicht auch nur eine männliche Zuschreibung? Ich finde die Formulierung vom Ich als Handlungsmöglichkeit nach wie vor besser. Und darum geht's. Um die weibliche Stimme.
Dieser Stricher, ja, dem geht's tatsählich mitnichten um den traditionellen Kampf gegen Entfremdung und Ausbeutung, denn der beutet sich ja schon selbst aus. Und indem er dafür Geld nimmt, erhält er, als "lohnabhängiger Lustsklave", kurzzeitig die Macht über seinen "bürgerlichen Herren". Das ist natürlich alles andere als ein kollektiver Aufstand. Und den brauchen wir!
Das Perfide an den Wuttherapie-Teilnehmern ist doch, dass diese Finanzmanager als Opfer der Finanzkrise diese selbst herbeigeführt haben, also dass sie zugleich (Mit-)Täter sind. Und nun bricht ihr allein auf dem virtuellen Finanzkapital bzw. auf dem Boni-System gründender Lebensentwurf ein. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sie nun neidfrei nachsprechen sollen, sie erfreuten sich am Reichtum der Anderen. Denn es dürfte ihnen möglicherweise schwer fallen, ihr früheres Wertesystem jetzt plötzlich gegen sich selbst zu wenden und also nach mehr Bodenhaftung und substantiellen Werten zu suchen.
Ich will mich jetzt gar nicht rausreden, aber ich halte die Vielfalt möglicher Interpretationen für einer der Stärken des van Dijk/Richterschen Theaters. Ich behaupte auch nicht, das Thema Sprachlosigkeit sei DAS zentrale Thema des Stücks, es ist aber schon m.E. sehr präsent, auch weil es eine wesentliche Facette dessen ist, was hier verhandelt wird. Denn es geht natürlich (nicht nur, aber doch sehr prominent) um Ich-Verlust, um Ich-Hinterfragung, auch um die (Un-)Möglichkeit des Individuums in unserer ((post-)post-)modernen Welt. Und da ist das Thema des Sich-Ausdrücken-Könnens schon recht zentral. Und natürlicvh geht es in der Wolfram-Szene - und nicht nur in dieser - genau darum: um die Suche nach einem authentischen Ausdruck, um die Möglichkeit überhaupt authentisch sein zu können, was natürlich wieder zur Frage führt, was Authentizität denn sein soll. Die Möglichkeit, dass dieser authentische Ausdruck des selbstbestimmten Individuums wiederum auf Konventionen fußt, die von der Gesellschaft vorgegeben sind, wird sicher nicht ausgeschlossen. Sie wird m.E. aber auch nicht bejaht, sondern eher offengelassen. Und natürlich ist das Mikrofon hier Symbol der Sprachfindung und des Versuchs, sich als Individuum auszudrücken und zu finden. Und natürlich hat das Mikrofon als dem Individuum Externes auch wieder diese Ambivalenz.
Bei der Suche nach dem Selbstausdruck haben Sie einen hervorragenden Satz geschrieben: „Die Möglichkeit, dass dieser authentische Ausdruck des selbstbestimmten Individuums wiederum auf Konventionen fußt, die von der Gesellschaft vorgegeben sind, wird sicher nicht ausgeschlossen.“ Die behauptete Ich-Entfaltung ist vielleicht oftmals nur die Übernahme von beobachteten und vorgegebenen Verhaltensmechanismen. Im Stück zeigt sich letztlich nur der Wille zur Entfaltung, keine eigentliche Entfaltung, wie das am von KB Schulze verkörperten Autor veranschaulicht wird.
Ich fürchte, bei Ihrer Einschätzung der symbolischen Bedeutung des Mikros können wir uns nicht einigen, obwohl ich Ihre Meinung für nachdenkenswert halte. Für die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, gibt es auch andere Lebensbereiche und strategische Felder, bei denen unter Umständen mehr Personen erreichbar sind, z.B. Roman, Demo...In einem Internetforum braucht man keinen Lautverstärker.
@El-Friede:
Ich gehe nicht ins Theater, um meine Kräfte zu mobilisieren und aktiven Widerstand zu leisten. Wenn Falk Richters Dramen Sie dazu motivieren, auf die Straße zu gehen oder Agitationszentralen aufzusuchen, damit Sie sich Ihrer solidarischen Rolle, ihrer Kraft und Lebensfülle bewusst werden, mag das für Sie seine Richtigkeit haben, auch wenn diese Art der Freizeitbeschäftigung vom Autor gar nicht beabsichtigt ist.
Auf das Schuhwerk von Frau Wolfram habe ich während des Stücks nicht geachtet. Schön, dass diese Facette ihres Outfits Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist. Ich weiß nur noch, dass sie irgendwann mit jemand in einer Wanne liegt und sich dabei ihrer Schuhe entledigt hat. Ob dieses rote Accessoire einen Fetischcharakter hat oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen.
Frau Rosmaier, das fiel mir zufällig auf, trägt diesmal statt der gewohnten Stöckelschuhe gewöhnliche Turnschuhe, die sie später durch ebenso gewöhnliche Straßenschuhe ersetzt. Ob die von ihr – oder der Kostümbildnerin – favorisierten Schuhe einen Einfluss auf die Handlung ausüben, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.
Ich bin kein Repräsentant der Mehrzahl der Männer, kann aber nur so viel sagen: Bei einer Frau lege ich großen Wert auf geistige Kompetenz, und ich glaube, ich stehe damit nicht allein. Was Sie sich alles bei Ihrem Gender-Wahn und den angeblichen Codierungen und Zuschreibungen einfallen lassen, sollten Sie einmal in Ruhe auf den Realitätsgehalt überprüfen.
Es ging mir um Bindung und Verbindlichkeit und ihre Nichtreduzibilität auf Sprachliches: da kam mir meine Mann-Lektüre gerade recht für eine Randnotiz (ich kennzeichnete das im übrigen
auch selbst ..., ua. indem ich Ihnen bestätigte, daß ich diesen Abend fest im Visier habe - die Diskussionen hier, die Kritiken und die von mir an anderer Stelle erwähnten Freitag-Interviews mit Herrn Richter im Vorfeld der Premiere haben das nur noch bestärkt !!, ja auch das gibt es auf nachtkritik, dergleichen Bestärkungen für Theaterabende-), Flohbär hat hier Weitergehendes geschrieben: er braucht keinen Lautsprecher, und ich werde hier gewiß auch keiner sein. Ich melde mich im Januar zu dieser Inszenierung, wenn ich dafür eine Karte bekomme/das Stück in meinem Urlaubszeitraum überhaupt noch läuft - sind Sie noch in Wien ??
Dass Luise Wolfram in der Wanne liegt, das muss Ihrer (erotischen) Fantasie entspringen. Die liegt nicht in der Wanne. Diese wird bloß in der Windelwechselszene mit Erhard Marggraf auf die Bühne geschoben. Und dann wieder runter.
Die Schuhe von Judith Rosmair sind mir nicht weiter aufgefallen.
Und einen "Gender-Wahn" habe ich auch nicht. Ich bin bloß schon als Kind in den Simone de Beauvoir-Zaubertrank gefallen.
@ Arkadij Zarthäuser: Wo ich gerade bin, das geht Sie gar nichts an. Manchmal bin ich in Gedanken bei.
Die Wanne muss ich mir hinzugedacht haben. Wahrscheinlich habe ich eine Szene aus einem anderen Stück in "Protect me" hineinmontiert. Die vielen Eindrücke überfluten mein Wahrnehmungsvermögen.
@Zarthäuser:
Nun denn, Zarthäuser...Erwarten Sie aber nicht zu viel von dem Stück, die Kritiken sind Geschmackssache und können mitunter täuschen. Immerhin kann man aus der Inszenierung einiges herausholen, was Ihnen nicht schwerfallen sollte, da eine Ihre Stärken ja im Kommentieren von Fußballspielen liegt und Sie deshalb das nötige Handwerk zum Interpretieren mitbringen könnten....
Ich sprach vom Herausholen...Wissen Sie, es gibt einzelne Zuschauer, die nutzen Richters Stücke dazu, um Kraft zu schöpfen für das Aufsuchen linker Kampfbüros und subkultureller Widerstandshöhlen. Das sind freilich nur Ausnahmen – Ihnen werden sicherlich andere Phänomene und ästhetische Gesichtspunkte auffallen, die Sie dann mit nach Hause in Ihren von Schiffsbau geprägten Heimathafen nehmen können.
Die Angelegenheit mit dem Lautsprecher haben Sie falsch verstanden. Es gibt da eine Szene mit der Wolfram und einem Mikro, das ihrem Anliegen die nötige Phonstärke verleihen soll, damit sie überhaupt gehört wird. In einem Internetforum hingegen bedarf es keines Mikros, es reichen die leisen Töne, wenngleich es Personen gibt, deren Worte zu schreien scheinen...
El-Friede hatte nur Kritiken über die Stemann-Inszenierung in Wien gelesen und mitkommentiert, so dass der Eindruck entstand, sie sei vor Ort gewesen. Ich wollte Sie nur davor bewahren, dass Sie da hinfliegen...
Und jetzt weiter bei Falk Richter und dem alten Herrn, welcher dann doch nicht in der Wanne liegt, um wie ein Wickelkind gewaschen zu werden. Man muss nicht alles sehen, bei vielem reicht schon die Imagination.
"Mikro-Kosmos" der Inszenierung !
Ja, ich denke, daß dieser Abend mir allemal etwas geben wird, eine
Enttäuschung fürchte ich eigentlich nicht; wenn ich es (in der Tat
schätze ich das Verbale nicht gering ...) halbwegs hinbekomme, mir über etwaige Verstörungen sprachlich (!) ein wenig klarer zu werden, so ist das schon Gewinn ("Täuschung ist Gewinn ..." ?...),
und, umso mehr ich jetzt von Falk Richter lese, desto plausibler und ernsthafter zeichnen sich mir die Umrißlinien "seines Anliegens", auch frühere Erfahrungen (wie die mit seinen "Drei Schwestern") erfaßt das.
Naja, und eine mögliche Enttäuschung in Wien bezüglich eines beliebigen Theaterabends wird mir kaum einen Wien-Aufenthalt als solchen verleiden: und der steht auch noch aus.
Klingt wie ein Treppenwitz zu "Dr. Faustus", aber ich bin bislang
immer nur bis Bratislava gekommen bzw. habe Wien am Südrand (Richtung Tatabanja, Belgrad, Sofia) gestreift: auch Wien steht also noch aus..
Ansonsten habe ich zu dem Abend nicht viel beizutragen. Ausser einer Frage: Was genau wird hier eigentlich verhandelt? Kann man dieses Privatdings von Falk Richter nicht ganz einfach unter dem Begriff der Luxusneurose bzw. des Luxusburnouts abhaken? Für mich spricht aus diesen Figuren leider nur eins: dass die weit davon entfernt sind, in realen finanziellen bzw. existentiellen Schwierigkeiten zu stecken. Zudem ist man aufgrund der eher flachen Figurenkonstruktion versucht anzunehmen, dass hier die Profile von Richters virtuellen facebook-FreundInnen und deren FreundInnen als Muster herhalten mussten.
Aber das Theater ist eben keine facebook-Pinnwand. Hier wie dort wird eine Vielfalt an disparaten Themen bloß angerissen und kaum vertieft. Es dominiert die coole Oberflächenbehandlung, sieht man mal von den tagebuchartigen und schonungslosen Selbstbetrachtungen des fiktiven Autors/Regisseurs (gespielt von Kay Bartholomäus Schulze) ab.
Offenbar wollte Richter hier einen Paradigmenwechsel einläuten, das heisst weg vom Diskurstheater und der Rede vom Tod des Autors. Bloß, dass er das engagierte Schreiben nach Roland Barthes dann leider auch nicht durchhält bzw. beherrscht und doch wieder in die alte Ironie zurückfällt, welche Stefan Stern zu Beginn noch verzweifelt-hysterisch von sich weist.
Hat die Theorie der Avantgarde also ausgedient oder nicht?
"Im Kontext der Massenkultur wird die 'Theorie der Avantgarde' in einem doppelten Wortsinn brüchig. Denn gerade die bewußt vollzogenen Brüche können in die bürgerliche Kultur wieder einbezogen, gleichsam assmiliert werden. Die avantgardistische Kunst unterliegt für Barthes der ständigen Gefahr, von der Massenkultur erfaßt und den anderen (bürgerlichen) Mythen gleichgemacht zu werden."
("Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie von Ottmar Ette")