Anhaltende Erregung

von Tobias Prüwer

Leipzig, Oktober 2010. "Das Theater, das wir im Moment erleben, ist für die Stadt nicht zukunftsfähig." – Das konstatierte Leipzigs Kulturbürgermeister Michael Faber schon vor einem Jahr über die Intendanz Sebastian Hartmanns am Centraltheater. Später regte er eine befristete Spielstättenschließung an und weiß damit einen Teil des Publikums hinter sich. Die Lokalpresse sekundiert und von auswärts kommt manche unsaubere Spitze. Tobt in Leipzig ein Sturm ums Stadttheater? Ein Versuch zu erklären, was zur Hölle hier eigentlich los ist.

Nicht nur in anderen Städten wundert man sich, warum alle Welt aufs Leipziger Stadttheater schaut. Auch vor Ort reibt man sich die Augen über den Wirbel um Intendant Sebastian Hartmann. Den Trubel in der Stadt kann man noch halbwegs nachvollziehen – was in den folgenden Absätzen versucht werden soll. Doch warum stachelt die Personalie Hartmann auch das überregionale Feuilleton an? Hat er sich früher derart Feinde gemacht, dass sie ihn auch an der Pleiße heimsuchen? Unwahrscheinlich scheint das nicht, angesichts mancher Attacke.

Viel Feind, viel Ehr?

Da arbeitet sich ein Intendant aus Senftenberg an Hartmann ab, als ginge es dabei um eine Abrechnung, und verlegt "Die Idioten" vom Nebenschauplatz Skala ins Centraltheater, um einen skandalträchtig-szenischen Einstieg für seinen Zeit-Artikel (17.12.2009) zu erhalten.

kirschgarten_r_arnold
Der Kirschgarten
© R. Arnold/ Centraltheater

Nicht weniger bösartig bilanzierend und in ihrer Motivation ungewiss lesen sich die Einlassungen von Martin Eich (Der Freitag, 16.4.2010). Um Hartmanns Kirschgarten-Inszenierung in Grund und Boden zu schreiben, zitiert er ausgerechnet die Leipziger Volkszeitung und vergisst zu erwähnen, dass sich das örtliche Monopolblatt selbst revidierte und eine zweite, versöhnlichere Rezension nachschob. Zudem zieht Eich den Kulturbürgermeister Michael Faber als Gewährsmann heran, der in der causa Centraltheater eine wichtige Rolle einnimmt. Womit wir auf der lokalen Ebene angekommen sind.

Hier gibt es zwei mit einander eng verwobene Momente, welche die anhaltende Diskussion erklären helfen. Das sind ein sich mondän gebendes Kleinbürgertum und dessen selbsternannter Apostel: Michael Faber. Der hatte bei seiner umstrittenen Inthronisierung im Frühjahr 2009 keinen guten Start und versucht seitdem, dies durch eigenwillige Aktionen zu kaschieren. In der Regel zielen sie auf das Schauspiel Leipzig. Das mag auch darin begründet liegen, dass es nach Fabers Wahl – er erhielt 37 von 70 Stimmen – einen offenen Brief gegen seine Besetzung gab, der sich als Misstrauensvotum liest. Etliche Leipziger Kulturschaffende unterzeichneten das Schreiben, einer von ihnen ist Sebastian Hartmann.

Wenn Magistrate aus der Hüfte schießen

Bereits im November 2009, da war er gerade fünf Monate im Amt, fällt Faber das eingangs zitierte Urteil über die nicht zukunftsfähige Hartmann-Intendanz. Und das tat er nicht beiläufig, sondern im selbst autorisierten Interview mit dem Leipziger kreuzer (12/2010). Als die Journalistinnen nachhakten und nach dem Grund für diese Aussage fragten, ernteten sie Schweigen. Seine ablehnende Haltung stellt Faber, nach eigenem Bekunden Theatertraditionalist, auch zur Schau, wenn er verfrüht Vorstellungen verlässt oder demonstrativ nicht applaudiert.

Im Juni dieses Jahres unterbreitete er schließlich den Vorschlag, die Skala temporär zu schließen. Die kleine Spielbühne des Schauspiel Leipzig befindet sich in einem Gebäude nahe dem Centraltheater und könnte, so die an sich plausible Idee, ins Haupthaus umziehen. Denn dort werden zum Jahresende Räumlichkeiten frei. Diesen für das Gesamttheaterkonzept Hartmanns wichtigen Experimentier-Ort aber bis 2013 zu schließen, wie Faber vorschlug, kann nur Gegenwehr erzeugen (siehe dazu die Diskussion im nachtkritik-Forum).

Mit seinen Vorstößen steht Faber unter Leipzigs Politikern allerdings ziemlich alleine da, OB Burkhard Jung etwa bezog – ob aus politischem Spiel oder ästhetischer Überzeugung – bisher positive Stellung zu Hartmann. Unterstützt wird Faber indes von der Leipziger Volkszeitung, die fast ausnahmslos Leserbriefe veröffentlicht, welche sich gegen das Schauspiel in seinem jetzigen Format richten.

Heimliche Hauptstadt der DDR gegen vermeintliche Avantgarde

Und damit gelangen wir zur eigentlichen Wunde: Leipzig selbst mit seiner sehr heterogenen Bevölkerung. Man sei '89 nicht um den Ring gelaufen, damit Hartmann nun mit Kunstblut um sich schmeißen darf, kann man die Haltung vieler zusammenfassen. Zugegeben: Es war keine kommunikative Glanzleistung, als er seine Intendanz antrat. Rätselhafte Dinosaurier-Plakate, eine arg zugeknöpfte Öffentlichkeitsarbeit – die Website war bis kurz vor Spielzeiteröffnung nur eine Visitenkarte – und die Umbenennung der Spielstätten in Centraltheater und Skala erzeugten den Eindruck, dass auf Biegen und Brechen ein neuer Wind einziehen soll.

Aber das Gefühl, etwas aus Berlin übergestülpt zu bekommen, in dessen Schatten man sich in der DDR als heimliche Hauptstadt wähnte, haben sich die Leipziger größtenteils eingeredet und Schnoddrigkeit mit Arroganz verwechselt. Dabei erkennt man die eigene Provinzialität nicht, denn Regietheater à la Hartmann ist zwar gelegentlich wagemutig assoziativ und immer großes Bildertheater, aber gewiss keine post- oder post-postdramatische Avantgarde.

In seiner Version von Der Kirschgarten verweigert sich Hartmann der deutschen Tradition, die Traurigkeit "der russischen Seele" auszustellen. Vielmehr benutzt er Tschechows letztes Stück als Aufhänger für einen Gang durch dessen ganzes dramatische Reich: Am Vorabend der Revolution treten Menschen hervor und geben das Drama einer Gesellschaft am Abgrund, von Hartmann inszeniert als großartige Farce, nicht als delikate Melancholie.

Auch in seiner Adaption des Wim Wenders-Films Paris, Texas zerreißt der Theatermann das feine Gespinst aus Tristesse und Schwermut. Selbst wenn einige Regieeinfälle zuviel über die Inszenierung hereinbrachen, fand Hartmann für seine Adaption doch eine ganz eigene, vom filmischen Vorbild losgelöste Erzählsprache.

In seiner als Daueraufreger geltenden Aufführung des Macbeth setzte Hartmann ein gewaltiges Bildertheater in Szene. "Vornehmlich laut, gerne nackt und immer blutig ist die Gewalt präsent", schrieb der Nachtkritiker Matthias Schmidt nach der Premiere. Doch die Gewalt, die Hartmann hier ausstellte, steht so bei Shakespeare. Sie dem Regisseur vorzuwerfen, hieße den Boten zu prügeln für die Botschaft.

Schließlich fielen seine Inszenierungen von Arsen und Spitzenhäubchen oder Eines langen Tages Reise in die Nacht ganz und gar nicht als die erwarteten Trümmerwerke aus – Castorf-Apologetentum jedenfalls, das Hartmann gerne nachgesagt wird, sieht anders aus.

Diese Aufführungen können vielmehr als ein Beleg dafür gelten, wie Hartmann alsbald anfing zurückzurudern, den Spielplan als ausgewogene Mischung gestaltete, neuerlich Programmhefte auflegte und in der Skala statt spontaner Ansetzungen wieder ein festes, angekündigtes Programm veranstaltete.

Kampf um Sehgewohnheiten und Welt-Anschauung

Wohlmöglich resultierte diese halbe Kehrtwende auch aus den beiden Zuschauerkonferenzen, die Hartmann im ersten Intendanzjahr veranstaltete, um mit den aufgeregten Besuchern ins Gespräch zu kommen. Selbst dort erntete er nicht nur Kritik. Diese aber formulierte sich größtenteils als Traditionsargument: "So wie bei Herrn Engel", war da als ultima ratio zu vernehmen. Dessen brave Handschrift konventionellen Sprechtheaters - Wolfgang Engel war von 1995 bis 2008 Intendant -, sollte aber nach damaligem Willen der Stadt gerade durch etwas Neues ersetzt werden.

Es ist ein Geist des Kleinbürgerdünkels, der in dieser Debatte mitweht: Wer in Jeans komme, habe im Theater nichts zu suchen, hörte man zum Beispiel zwei ältere Abonnentinnen monieren. Freude darüber, dass auch vermehrt Jüngere ins Stadttheater kommen, formuliert sich anders. Dabei geht es in erster Linie nicht ums Alter, sondern um Sehgewohnheiten und Welt-Anschauung.

Aus den Anfeindungen spricht eine Wagenburgmentalität. Für viele scheint das Haus ein Ort des Heimeligen zu sein, wo man sich gegen das Draußen abschottet - sei es vormals in der DDR der Staat oder in der Gegenwart der "Pöbel". An einem solchen Hort der Orientierung wollte man seine Klassiker sehen, wie man sie von alten Aufführungen, oft noch aus der Vor-Engel-Ära her als "werktreu" verstand.

Diese wolkige Vertrautheit zerstäubend, ist mit Sebastian Hartmann eine neue Unübersichtlichkeit in das Haus in der Bosestraße eingezogen. Aber möchte man sich das Theater wirklich als einen Ort vorstellen, an dem man sich wohl behütet fühlt? Zu keiner Zeit sollte Theater zum Kuscheln einladen, mit sich und der Welt versöhnen. Dafür gibt es Kirchen, Tempel, Kaufhäuser.

In Leipzig tobt kein Sturm ums Stadttheater, es prallen aber verschiedene Theater-Bilder aufeinander. Und dass die Diskussionen über Sinn und Form der darstellenden Kunst nicht abreißen, ist keineswegs negativ. Schließlich zielt Kunst auf Auseinandersetzung, ist streitbar. Das Beruhigende ist doch: In Leipzig ist das Theater wieder ins Gerede gekommen. Und das kann nicht jedes Stadttheater von sich behaupten.

 

Mehr zu der Debatte um Sebastian Hartmanns Leipziger Centraltheater lesen Sie in Stefan Kanis' Die Verantwortung des Spielers bei Sebastian Hartmann.

 

mehr debatten