Karikatur einer Krise

von Thomas Askan Vierich

Wien, 30. Oktober 2010. Michael Thalheimers Premiere an der Wiener Burg. Schon Tage zuvor berichtete die lokale Presse über Stück und Inszenierung. Entsprechend hoch türmten sich die Erwartungen. Es beginnt sehr effektvoll – mit einem basslastigen, lauten Orgelakkord. Der Blick der Zuschauer fällt in einen riesigen Trichter aus Nirosta, entworfen von Thalheimers Stammbühnenbildner Olaf Altmann. Als würde man von oben in einen Fleischwolf blicken. Am Ende des Trichters baumelt eine Rinderhälfte. Daran wird sich in den folgenden zweiunddreiviertel Stunden nicht mehr viel ändern.

Das Fleisch baumelt wie das Pendel einer riesigen Uhr, das Mittelstück des Trichters schaukelt ganz langsam. Das kapitalistische System, heißt es später im Stück, sei ein "Schaukelbrett": Die wenigen, die oben sitzen, können das nur, weil viele unten sitzen. Naja.

Verrenkt, verfremdet, verunsichert

Erst einmal verunsichert Thalheimer das Publikum systematisch durch Verfremdung: Seine Schauspieler müssen ihre Texte mit seltsamen Körperverrenkungen zum Besten geben. Dem Fleischkönig Pierpont Mauler (Tilo Nest) passt sein glänzender, grauer Seidenanzug mit den zu kurzen Ärmeln (Kostüme: Katrin Lea Tag) überhaupt nicht. Auch deshalb steht er wohl immer so verrenkt herum. Auch die anderen agieren wie verzerrt, lachen zu laut und zu lange, manche ihrer Spruchweisheiten wiederholen sie bis zur Erschöpfung. Ein vielköpfiger Chor donnert minutenlang Blankverse über die Bühne. Das wirkt reichlich dick aufgetragen.

Ob dieses betont "Gespielte", "Unnatürliche" zeigen soll, dass alle Figuren Rollen in einem Lehrstück spielen, das nach achtzig Jahren reichlich Staub angesetzt hat?

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© Reinhard Werner: Sarah Viktoria Frick

Die heilige Johanna Dark (Sarah Viktoria Frick) agiert lange Zeit wie eine Studentenführerin, die abends in der "ZIB 2" (den österreichischen "Tagesthemen") reichlich naiv ihre Kritik am System formulieren darf. Johanna spricht viel vom "lieben Gott". Sie ist Soldatin bei der Heilsarmee und möchte den notleidenden Arbeitern in den Schlachthöfen helfen. Deshalb geht sie zum Oberboss Mauler und stellt ihn zur Rede. Der hört sich ihre Tiraden belustigt an und verliebt sich ein wenig in sie. Brechts gemeine Dialektik: Indem Mauler behauptet, aus Mitleid zur gequälten Kreatur aus dem Schlachtergeschäft aussteigen zu wollen, legt er seine Mitbewerber herein. Später lässt er sich scheinbar von Johanna dazu überreden, zum Wohl der arbeitslosen Arbeiter wieder einzusteigen. In Wirklichkeit verfolgt er immer nur seine Eigeninteressen: Gewinnmaximierung durch Ausbooten der Konkurrenz.

Zwischendurch führt er Johanna vor, wie schlecht die Armen sind: Sie lassen sich ganz einfach kaufen, weil ihnen jeder Sinn fürs Höhere fehlt. Und sie sind selbst schuld an ihrem Elend. Brecht/Thalheimer führen hier reichlich holzschnittartig die böse Fratze des Kapitalismus vor - noch ganz ohne die Errungenschaften der sozialen Marktwitschaft, auch ohne Hartz IV. Das ist schade, würde es doch das Bild vielschichtiger, leider auch komplizierter machen. So gerät diese Kapitalismuskritik zum Klischee, die Krise zur Karikatur. Das Stück berührt nicht. Wozu Thalheimers Verfremdungen wesentlich beitragen. Es wird im Übrigen auch viel zu viel geschrien.

Die Boni und die Rindviecher

Anders nach der Pause. Jetzt regieren auch mal leise Töne, die Figuren agieren natürlicher, lassen ihre Masken fallen. Die Arbeiter sind in den Streik getreten. Aus der Studentenführerin Johanna ist eine wortgewaltige Proto-Gewerkschafterin geworden. Ihr Chef, ein bigotter Priester (Thomas Reisinger), der ständig ein großes Holzkreuz mit sich herumschleppt - herrlich wie Reisinger sich grinsend verbiegt -, wirft allerdings ein schlechtes Licht auf ihre Organisation.

Sogar Mauler bekommt moralische Anwandlungen, setzt sich zu Johanna an den Bühnenrand und rechtfertigt sein Dasein als Kapitalist - ganz ohne Verrenkungen. Allerdings mit Phrasen von den "ehernen Gesetzen der Wirtschaft, auf die niemand Einfluss habe". Plötzlich bekommt das Stück tatsächlich einen aktuellen Bezug. Haben wir so etwas nicht bis zum Erbrechen in den letzten Jahren gehört? Bei uns musste der Staat mit Steuergeldern das System und die Boni der Banker retten. Bei Brecht müssen auf Vorschlag von Mauler halt ein Drittel der Rindviecher getötet und ein Drittel der Arbeiter entlassen werden, um das System der Schlachthöfe zu retten.

Doch zum Schluss reihen sich die Monologe aneinander. Die Schauspieler leiern die Texte mehr oder weniger uninspiriert herunter. Schade, gerade jetzt hätten sie etwas mehr Inszenierung verdient. Fast vermisst man ihre Verrenkungen aus dem ersten Teil. Das Stück endet mit dem überlebensgroßen Konterfei der "Heiligen Johanna " am Grunde des blechernen Trichters. Und man weiß nicht warum.

Pointiert, pompös, böse

Hart verdienter Schlussapplaus für die Schauspieler, die alle bis an den Rand ihrer physischen Leistungsfähigkeit gegangen sind, besonders Tilo Nest als Mauler und Oliver Masucci als sein Konkurrent Cridle. Auch Roland Koch als Fleischfabrikant Graham lieferte mit künstlichem Schmähbauch ein sehr inspiriertes Spiel. Er musste häufig mit Masucci im Duett Texte deklamieren - eine zumindest technische Herausforderung. Die auch der Chor meisterte, der zwar leicht hüftsteif den Hintergrund der Bühne bevölkerte, aber akustisch einwandfrei zu verstehen war. Die junge Sarah Viktoria Frick wirkte am Ende etwas hölzern, vielleicht auch müde, insgesamt lieferte aber auch sie einen beeindruckenden Abend ab.

Nur die Inszenierung ließ einen etwas ratlos zurück. Vieles wirkte in Ansätzen pointiert, manchmal überdeutlich pompös - und dann doch wieder nicht wirklich zu Ende gedacht.
Thalheimer zeigt sehr böse, welche Gaudi die Mächtigen daran haben, an den Hebeln der Macht zu sitzen. Wie sich Mauler an seinem Börsenspiel ergötzt, dem Tausende von Arbeitern zum Opfer fallen. Eine wirkliche, neue Kritik zur aktuellen Kapitalismuskrise aber war dieser Abend nicht. Gelernt hat man leider nichts.

 

Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Regie: Michael Thalheimer, Bühnenbild: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Video: Alexander du Prel, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Tilo Nest, Oliver Masucci, Roland Koch, Hermann Scheidleder, Falk Rockstroh, Moritz Vierboom, Regina Fritsch, André Meyer, Thomas Reisinger, Adina Vetter, Gerhard König und einem vielköpfigen, einstimmigen Chor.

www.burgtheater.at

 

Mehr Heilige Brecht-Johannas, über die nachtkritik.de berichtet hat, gab es zuletzt im Dezember 2009 von Nicolas Stemann im Deutschen Theater Berlin, von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden im Oktober 2009, von Frank-Patrick Steckel im Februar 2008 in Bremen.

 

Kritikenrundschau

Auch wenn Thalheimers Wien-Debüt mit drei Stunden für seine Verhältnisse ungewöhnlich lange dauere, habe er auch Brechts "Johanna"-Text "gehörig gekürzt, die plakativsten Plattheiten gestrichen", dafür aber "andere, gewöhnlich kurze Dialoge zum Mantra" ausgebaut. So gibt Martin Lhotzky in der Neuen Zürcher Zeitung (1.11.2010) Auskunft. Tilo Nest hüpfe als Mauler "im glitzernden grauen Anzug ständig herum wie ein Preisboxer", an seinem Gesicht lasse sich "vieles ablesen. (...) Erleichtert wird die Lektüre des Mienenspiels auch durch das Spielen an der Rampe." Der Kritiker betrachtet den Abend "mit Staunen und wundert sich doch, wo die vielgerühmte Schärfe von Thalheimers Dramensezierkunst geblieben ist. Ein bisschen Klamauk und ein wenig zu viel von der Holzhammermethode bescheren einen Abend grau in grau". "So richtig überzeugt verlässt" er das Theater nicht, "selbst zum ernsthaften Grübeln war die Darbietung kaum anregend genug".

Die "kapitalistischen Schweinereien" des Mauler seien "dramatisch wie wirtschaftlich etwas arg von gestern", meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (1.11.2010). Brechts Stück mit seinem "Klassenkampfunterrichtsziel" sperre "seinen gähnenden ideologischen Rachen treuherzig weit" auf. Auf der Bühne sind ihm hingegen eher die "Schreckens- und Albtraumwelten" eines Edgar A. Poe begegnet. Hier werde die "Hohe Messe Brechts" in "Marx-Dur" zur "Schwarzen Messe: in Marx-Moll", die "gesellschaftliche Oberfläche (...) zum Untergrund" und der "Himmel Brechtscher Theorie (...) zur Hölle, in dem kein Katechismus mehr etwas gilt". Stattdessen werde "gezeigt, was Wirtschaft kostet: Wahnsinn". "Urwuchtregisseur" Thalheimer lasse "die Protagonisten aus dem Chor hervortreten, -kriechen, -krauchen, -stürzen: Individuen, die sich von einer Masse lösen, die sie ausstößt". Er treibe "die Plattheiten und Geordnetheiten der Brechtschen Argumentation (...) in den Taumel einer Hirnriss-Sause". Die ganze Inszenierung habe "etwas grandios Bübisches, Angstgehetztes: Als versuchten sich alle mit den Strängen, über die sie schlagen, gegenseitig zu fesseln" - eine "Schwarze Messe", die aus der "Gewerkschaftslehrstunde eine abgrundtiefe Farce, ein wildes, großes, haltloses Stück macht, das plötzlich Leben und Tollheit atmet" mache. "In diese Welt der Angst, des Wahnsinns und des Höllengelichters" trete Fricks Johanna als "die höhere Tochter auf dem Höllentrip", die "wie eine Sonntagsschulabsolventin", mit "Girlie-Tremolo das Gute im Menschen" beschwöre. Es sei "ein Wahnsinn, in dieser wahnsinnigen Welt es versucht zu haben mit ein bisschen Güte und Liebe".

In der Frankfurter Rundschau (2.11.2010) schreibt Stephan Hilpold: Es gebe Bühnenbilder, die seien "einfach und klar und wollen eine ganze Welt beschreiben". Altmanns Bühnenbild für die Johanna sei so eines, wie ein "klaustrophobischer Tunnel". Thilo Nest gebe "den Kapitalisten wie er in marxistischen Lehrwerken steht" und den "Philanthropen, der jeden Pietisten vor Neid erblassen lässt". Nest sei einer der Gründe, "warum dieser Brecht plötzlich wieder so gut funktioniert". Er sei "spielerisch und skrupellos und hat dabei ein schlechtes Gewissen. Denkt er, dann ähnelt das gleichermaßen einem Tänzchen und einem Boxkampf. Ein Abziehbild mit Tiefendimension". Noch vor einigen Jahren hätte man eine solche Figur als "Überbleibsel aus der klassenkämpferischen Mottenkiste" abgetan. Heute erscheine er in "einem anderen Licht". Die "ökonomischen Mechanismen", die Brecht beschreibt, erinnerten an "heutige Wirtschaftsnachrichten". Thalheimer dampfe das Gewirr der Figuren auf zwei Elemente zusammen: "Mauler und die Fabrikanten und den Chor, der in die Rollen all jener Personen schlüpft, die nicht agieren, sondern reagieren." Wie eine Mauer stehe er bis ans Ende im Hintergrund, eine Masse mit Stimmwucht, die eine Macht andeute, die sie nicht habe in diesem Stück. "Ein Chor wie aus einer griechischen Tragödie, anklagend, aufbrausend, ironisierend, kommentierend." Sarah Viktoria Frick spiele die Johanna als Kind, das "so herrlich unbeleckt von den ökonomischen Zusammenhängen ist, dass es weh tut". Johannas Schwäche allerdings spiele Frick als ihre "größte Stärke" aus. Es sei "mehr als bedenklich", dass man in Brechts Stück "so viele Anknüpfungspunkte an die heutigen Verhältnisse findet". Sie "kenntlich gemacht zu haben", sei Teil von Thalheimers Verdienst.

Ulrich Weinzierl schreibt in der Tageszeitung Die Welt (2.11.2010), verspreche der Namen Thalheimer sonst immer kurze 90 Minuten, habe der "harte, schwere Brocken" doch tatsächlich drei viel zu lange Stunden gedauert. Thalheimer habe dem Lehrstück seine Sperrigkeit gelassen, betone sie sogar, hier werde kein Drama, sondern "eine Partitur" inszeniert. Ohnehin komme das Werk konjunkturtechnisch immer entweder zu früh für die Krise oder viel zu spät. "Der militärisch gedrillte Chor brüllt und feuert Lachsalven ab, als wären wir beim seligen Einar Schleef." Sarah Viktoria Frick erinnere an ein "übereifriges Schulmädchen": "Baby Doll als Kindersoldatin der Heilsarmee". Das interessiere ihn, Weinzierl, ehrlich gesagt "herzlich wenig". Was sich nach der Pause ändere, wenn Thalheimer "Identifikation ermöglicht". Johanna Dark in ihrem "tödlichen Scheitern fesselt unsere Fantasie und unsere Sinne".

Barbara Petsch schreibt in der Wiener Tageszeitung Die Presse (2.11.2010): Thalheimer beherrsche die große Bühne souverän. Er fülle sie mit "Action" von der ersten bis zur letzten Minute. Doch lege er seine Inszenierung "zu episch" an. Brecht habe wohl "mehr Sinn für das Wirtschaftliche als viele anderen Autoren". Seine "pointierten Diagnosen" träfen "teilweise" zu. Aber "letztlich" sei seine Sicht "doch eindimensional und schematisch". Bei Thalheimer verstehe man: "Kapitalismus und Kirche sind schlecht, Kommunismus ist die Lösung." Das sei "so überholt, dass es nicht einmal mehr ärgerlich ist". Die "erneut hinreißende Sarah Viktoria Frick" erfülle Thalheimers "kühle Tableaux mit Wärme, Blut und Leben". Sie vollziehe "glaubwürdig" ihren Weg vom "frischen Mädchen" zur "sterbenskranken Gescheiterten". Tilo Nest blättere den Mauler mit einem "unglaublichen gestischen Reichtum". So "originell und treffend ward selten eine Figur aus der angeblich nüchternen Wirtschaft illustriert". Dieser "plumpe, hässliche Kerl, der zeitweise verschlagen phlegmatisch, bauernschlau wirkt, kann eine starke, seelische, ja sogar emotionale Energie entfalten. Es ist eine Freude". Altmanns Bühne sei nicht "sonderlich originell", aber "stimmig". "Insgesamt: ordentliche Aufführung, museales Stück."

In der Wiener Tageszeitung Der Standard (2.11.2010) schreibt Margarethe Affenzeller: Die Perspektive des Stückes möge "in Zeiten, in denen öffentlich mehr über Tierschutz- und Schlachthausbestimmungen nachgedacht wird denn über ein Proletariat", anachronistisch erscheinen, doch tauge Brechts Lehrstück "im Kern immer noch dazu, Mechanismen der Ausbeutung freizulegen". Maulers faustischer Geschäftssinn treibe ihn zu Gewinnmaximierung und Lohndrücken. "Ein Verlangen, das ihm auf der Bühne lebhaft in die Knochen fährt": Thalheimer-Figuren hätten sich noch nie über "handlungskonforme Gesten" erklärt, sondern in "irritierenden, reduzierten physischen Mustern". Über Thilo Nests "kleine Siegestänze" und "eigentümliche Lockerungsübungen" veröde "nebenher die Szene". Dem "ohnehin aus abstrakten Redefiguren bestehenden Stück" füge Thalheimer eine "weitere Abstrahierung auf der Bühne hinzu", die den "wirtschaftstheoretischen und sozialpolitischen Sätzen" weitgehend den Boden unter den Füßen wegzöge. Das Stück büße an "Mitteilsamkeit" ein und bleibe reduziert auf die "reichlich manieriert ausstaffierte Opfergeschichte eines naiven Mädchens". Altmanns Bühne sei "genau betrachtet purer Kunstkitsch, der als Dekor dient".

Sven Ricklefs
schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (2.11.2010): Angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise habe das Burgtheater Michael Thalheimer gebeten, dem Publikum die "Kaputtheit unseres Systems" vor Augen zu führen. Hinten in Olaf Altmanns Raum schwinge ein "mächtiges Pendel" - "die Zeit: bestimmt vom rohen Fleisch". Brechts Stück zeige "exemplarisch das Elend derer, die immer die Leidtragenden sind der gierigen Machenschaften der Mächtigen". Der "wunderbare Tilo Nest" spiele Mauler als einen "ständig windig sich windenden". Mit der "ebenso faszinierenden wie eigenwilligen" Sarah Viktoria Frick habe Thalheimer in Wien eine "Art Wuchtbrumme" ins Feld geschickt, die "breitbeinig und konsequent ihren Weg in die elendige Kehrseite des Kapitalismus hinabstiefelt". Zunächst eher "die Karikatur einer höheren Tochter", doch je tiefer sie hinabsteigt, um so nackter stehe sie da, schließlich als Sterbende sehe sie aus wie das "erbärmliche Vieh, dessen Masken der Chor zeitweise trägt". Auch der "größte Brechtskeptiker" müsse zugeben, dass es Michael Thalheimer mit seiner "ästhetisch wie rhythmisch wuchtigen Version, die zudem mit aggressivem Gestus das Publikum direkt anspielt", gelungen sei, eine "beeindruckende Form für dieses Stück zu finden".

Für Brechts 'Johanna' habe sich "der elegische Fatalist Thalheimer" entschleunigt und mit drei Stunden ungewöhnlich viel Zeit genommen, schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (3.11.2010): "Doch er hat seine Stilmittel nicht weiterentwickelt, sie sind nur etwas in die Breite gegangen." Thalheimer zelebriere das Stück sakrosankt und mit aufgeblasenen Backen als hohe Messe: "Wenn rund vierzig Statisten drei Stunden lang reglos dastehen müssen, ist das dann nicht auch eine Art von Ausbeutung? Die wie im Theater von Volker Lösch skandierende Masse Mensch hat hier ungefähr denselben Zweck wie die ratternden Börsenkurse, die auf die Schachtwände projiziert werden. Sieht einfach gut aus." Überdies sei das preußische Schreihalstheater in Wien angekommen – "Soll man das Fortschritt nennen?"

Michael Skasa schreibt in der Wochenzeitung Die Zeit (4.11.2010): hinten ein helles Torloch mit der Rinderhälfte als "Todesperpendikel der Schlachthöfe", vorne die stahlgraue, abschüssige Welt, dazwischen "der Mensch, vierzigköpfig in drei Reihen, unbeweglich, doch erregt, schreiend, heulend, donnernd, unerhört". Der "nimmerwankende Chor, unglaublich präzis und rhythmisch prägnant einstudiert von Marcus Crome, leiht allen Parteien seine Stimme: Arbeitslosen wie Spekulanten, es ist ja alles eins, oben, unten". Durch diese 40-köpfige Masse hindurch "nach vorn zur Rampe muss, wer was zu sagen hat". Alle "schreien am liebsten frontal auf uns los", Wörter wie "Peitschenhiebe, oft mit pfeifender Stimme - es ist ja auch alles Irrsinn und zum Schreien komisch, was so abgeht in der freien Wirtschaft unter freien Menschen". Michael Thalheimer entfessele das "Kasperlspiel menschlicher Bluthunde. Seine Kapitalisten sind windige Eintänzer, stumpfsinnige Säcke und giersabbernde Brüllaffen", Tilo Nest "dribbelt und boxt und krümmt sich wie Richard III.", Falk Rockstroh "schnellt als Mephisto übers Parkett, sein Lachen bellt": alles "hysterisch künstlich und kunstvoll choreografiert, blitzschnell und grell". Sarah Victoria Frick als Johanna "ein naiv Ding mit trotzigem Mut zur Torheit". Das "Chaos ist ein knapp dreistündiger Mordsspaß" und "das Burgtheaterpublikum jubelte".

 

Kommentare  
Thalheimers Johanna an der Burg: Naiver Blick
guten tag ! ich habe die aufführung nicht gesehen und ich finde nachtkritik gut. ich bin insider wie die meisten hier und freue mich manchmal über den naiven blick ihrer schreiber. muss mich aber schon wundern, auch letztens bei der kritik über kruses "jedermann",warum oft leute hingeschickt werden, die offenbar allein schon ästhetisch überfordert sind. das die einschlägigen regisseure so inszenieren ist doch hinlänglich bekannt, ja eher schon berüchtigt. aber letztlich-warum nicht? so bekommt wenigstens der ein oder andere nicht-insider (ein paar gibt es bestimmt, die sich hierher verirren) eine beschreibung. also : machen sie weiter! bleiben sie offen!
Thalheimers Johanna an der Burg: Soll er doch schreiben, was er sieht
Joah Freund, gut geguckt. Der Kritiker ist doch der Anwalt des Zuschauers und nicht der Lobbyist einzelner Regisseure und ihrer Stile. Soll er doch sagen und schreiben was er sieht. Wenn schon der Kritiker überfordert ist, wie soll es dann außerdem erst den Zuschauern ergehen? Übrigens ist der naive Blick oft der, der als einziger mitkriegt, daß der Kaiser gar keine neuen Kleider trägt.
Thalheimers Johanna an der Burg: DDR-Kitsch
Habe das Stück gestern gesehen und kann nur sagen die Kritik trifft eigentlich genau zu. Großartige Schauspieler in einem sehr banalem Stück, das einen überhaupt nicht mehr berührt, veralteter DDR- Kitsch der nur aus abgelutschten Klischees besteht.
Thalheimers Johanna an der Burg: kleiner Anachronismus
@3. Also Nicolas Stemann hat's in Berlin so hingekriegt, dass es überhaupt nicht nach "veraltetem DDR-Kitsch" aussah. Vielleicht doch eine Frage des Regiezugriffs?

Und übrigens versteckt sich bei Ihnen ein kleiner Anachronismus. "Johanna" ist natürlich älter als der Arbeiter- und Bauernstaat. Oder beziehen Sie sich auf die Rezeptionsgeschichte?
Thalheimers Johanna an der Burg: Frage des Regiezugriffs
@ Time Traveller: Richtig. Es ist ganz klar eine Frage des Regiezugriffs. Ich verweise hier nur auf Christine Wahls Rezension in der "Theater Heute" (Feburar 2010) zu Stemanns "Heiliger Johanna". Zitat:
"Stemann umgeht also bolschewistischen Revolutionskitsch, ohne die Suche nach gesellschaftlichen Alternativentwürfen zu ironisieren."
Hab ich ganz genauso wahrgenommen. Eine klasse Inszenierung - von Stemann.
Thalheimers Johanna an der Burg: Eigenschaftswort
@4
DDR war eigentlich als Eigenschaftswort gemeint.
Thalheimers Johanna an der Burg: in ihrer Schlauheit unerträglich
es ist wirklich unglaublich, wie sich sämtliche menschen die hier schreiben, andauernd nur selbst erzählen, (aus ihrem kleinen kämmerlein), - und wiederholen in ihrer schlauheit.unerträglich.
Thalheimers Johanna an der Burg: erträglich unschlau?
@ erna: Und was tust du, erna? Bist du erträglich unschlau, indem du hier nichts anderes tust, ausser die Kommentare der anderen zu kommentieren?
Thalheimers Johanna an der Burg: kein Lehrstück
lieber thomas askan! johanna der schlachthöfe ist kein lehrstück. ich weiß, Ihnen kommt beim pädagogischen das lehrstück hoch, aber glauben Sie mir, das lehrstück ist eine völlig andere geschichte.
Thalheimers Johanna an der Burg: Schleef-Nachhall
Ich habe Thalheimers Inszenierung völlig anders empfunden, als offenbar viele hier. Ja - vieles an dem Stück ist veraltet. Aber gerade diese historische Distanz lässt Thalheimer auch zu, indem er den Text eben nicht versucht zu aktualisieren, sondern für sich sprechen lässt und somit Distanz und Nähe vieler Brecht-Gedanken gleichzeitig aufzeigt. Zu zeigen was uns von Brecht trennt und immer noch mit ihm verbindet finde ich redlicher, als eine Aktualität auch dort zu behaupten, wo es keine gibt. Umso erschrockener war ich an Stellen, an denen mir dieser Text dann doch ganz nah erschien.

Natürlich war Stemanns Zugriff ein ganz anderer - aber gegeneinander ausspielen würde ich beide Inszenierungen nicht. Gerade Thalheimers Schauspielerführung und seine Behandlung des Chors etwa hat mich wirklich umgeworfen. Wie er den Chor eben nicht - was einfach und billig wäre - psychologisiert, als Arbeitslosenheer inszeniert, sondern als Schleef-Nachhall relativ abstrakt den Brecht Text skandieren lässt, hat zumindest mal einen Gedanken zugelassen.
(Pollesch hat in seiner letzten Burg-Stück erst beklagt, man könne im Theater keinen Gedanken nachvollziehen, weil alles sofort psychologiesiert würde und Gedanken und Aussagen so nur als Ausdruck einer Figur gesehen würden, nicht als Gedanken selbst. In diese Falle tappt Thalheimer eben nicht, finde ich!)

So kann ich zu "grab" auch nur sagen: Nein, "berührt" hat mich das Stück auch selten - aber zum Denken angeregt, wie selten etwas auf der Bühne ...
Thalheimers Johanna an der Burg: Stress statt Gaudi
Es interessant mit welch unterschiedlichen Empfindungen Publikum nach Hause geht, das ein und dieselbe Vorstellung gesehen hat. Der Nachtkritik-Satz „ welche Gaudi die Mächtigen daran haben, an den Hebeln der Macht zu sitzen“ stimmt für mich überhaupt nicht. Ich habe „hinaufgeschwommene Ex-Schlachter“ gesehen, die sich starke Mühe geben müssen ihr Geld nicht zu verlieren. Angst und Stress reagieren ihr Leben. Von Gaudi und Spaß war für mich da keine Rede. Das fand ich nämlich in der Inszenierung die stärkste Aussage.

Vom Gedankengang wahrscheinlich richtig und gewollt hat mich der kreischende Chor an das von vor Hunger und Schlachtangst brüllende Nutzvieh erinnert. Persönlich hat mich die Tonlage allerdings so enerviert (inklusive des Gezeters der Frau Luckerniddle), dass ich mich sehr zwingen musste, dem Text überhaupt folgen zu wollen.

Die traurigste Enttäuschung des Abends war, dass die sonst so ausdrucksstarke S.V.Frick eher eine blasse Randfigur blieb. Sich in all dem Gebrüll mit stillen, intelligenten Tönen nicht durchsetzen zu können ist zwar logisch, aber manchmal sollte Theater dem Realismus nicht gar zu entgegenkommen.
Thalheimers Johanna an der Burg: Frick berührend
Stress statt Gaudi!

Ich schließe mich Deinen Aussagen weitgehend an, habe aber
S.V. Frick sehr berührend, überzeugend und ganz ausgezeichnet gefunden.

Wirklich gestört hat mich nur das keifend kreischende "Arbeiterweib" zudem Regina Fritsch verdammt wurde.

In der Berliner Stemann Inszenierung, darf Margit Bendokat zeigen, was in dieser Rolle stecken kann.
Thalheimers Johanna an der Burg: Individuum und Kollektiv
Nein. Gegeneinander ausspielen sollte man Inszenierungen nicht. Was mir bei Thalheimer gelungen erscheint, ist das Herausstellen des Wechselspiels zwischen Individuum und Kollektiv. Zum Beispiel diese Szene, in welcher Johanna (Sarah Viktoria Frick) nicht gegen das hämische Lachen des (männlich dominierten) Chors ankommt. Als Individuum, und zumal als weibliches, kommt man gegen die vulgärbolschewistische und stumpf nachgebrüllte Ideologie der Gewalt nicht an. Die weibliche Stimme kann sich im vorlauten Machtspiel der Männer leider nur allzu selten Gehör verschaffen. Und das hat vor allem etwas mit gesellschaftlichen Strukturen zu tun: Auf den obersten Gewerkschaftsposten sitzen Männer, ebenso in den obersten Wirtschaftsetagen. Tja.
Heilige Johanna auf Wiener Schlachthöfen: Paraphrase
Aha, El-Friede ist also von Berlin nach Wien geflogen, um sich schnell mal Thalheimers Inszenierung anzusehen. Oder sie verbringt dort gerade zufällig ihren Urlaub. Da kann man ja mal vorbeischauen.
Die Bemerkung von Nr.13 steht genauso in der Neuen Zürcher Zeitung (Martin Lhotzky), sie ist bloß ein wenig paraphrasiert. Eine zusätzliche Information: Stephan Hilpold hat auch einen Artikel darüber geschrieben, in der Frankfurter Rundschau.
Heilige Johanna auf Wiener Schlachthöfen: Schlachthofarbeiter sind heute die Kapitalisten
Es ist einfach grotesk: Die Schlachthofarbeiter von heute sind so gekleidet, wie die Kapitalisten von damals und glauben: Wenn wir alle nur noch Nutzen optimierende Kapitalisten sind, dann kann Brechts Johanna nichts anderes sein als DDR-Kitsch. So geht die einfache Rechnung von Schlachthofarbeitern in Nadelstreifen. Das Stück ist großes Theater, Thalheimers Inszenierung versteht es die Zuschauer in den Bann zu ziehen, es ist komisch, ohne seine Ernsthaftigkeit zu verlieren. Die Schauspieler leisten Großartiges. Fritsch wird als "Frau Luckerniddle" zum Stern des Abends. Und es gibt Gott sei Dank keinen Hartz IV-Chor, sondern nur Schlachthofarbeiter. Dass sie keine Nadelstreifen tragen, tut der Aktualität des Stückes und der Inszenierung keinen Abbruch, auch wenn sich einige offensichtlich schwer damit tun, dies zu erkennen.
Heilige Wiener Schlachthof-Johanna: gibts überhaupt noch Österreicher hier?
Es wäre auch echt irgendwie ulkig, in Wien DDR-Kitsch mit Hartz IV-Chor aufzuführen. Das verstehen die Leute da ja gar nicht und in Österreich gibt es doch sowieso keine Krise, oder wie heißt das da eigentlich, Österreich-Ungarn-Kitsch, oder wie?
Aber vielleicht ist Österreich ja schon wieder angegliedert worden und ich habe es nicht gemerkt. Ein deutscher Regisseur und eine deutsche Kritik zu einem Stück in Wien, ich lach mich tot. Posten hier eigentlich auch noch echte Österreicher?
Heilige Wiener Schlachthöfe: Kritiker im Blaumann zum Nachsitzen
Übrigens weiß der Herr Weinzierl von der Welt auch nicht was ein Lehrstück ist. Die Kritiker müssen wohl alle mal zu Frank Castorf in die Berliner Volksbühne zum Nachsitzen, aber im Blaumann bitteschön.
Brechts Heilige Johanna, Wien: ja, hier posten echte WienerInnen
@ 16.
Ja ich, lieber "Stefan Hinkelstein". Nicht nur als echte Österreicherin, sondern auch als echte Wienerin, was Sie ja - wenn sie tatsächlich aus Österreich stammen - für die Wiener auch noch einen ganz großen Unterschied macht. "Was Gott durch einen Berg trennt"...oder der letzte Sager von der "Schärdinger Muh", "Neandertaler", "Stierwascher" und natürlich auch umgekehrt, Lokalpatriotismus kann man auch in kleineren Räumen als zwischen Österreich und Deutschland erleben.

In Österreich heißt Hartz IV halt Mindestsicherung. € 744,-- 12x im Jahr, davon müssen aber die Mietkosten betahlt werden. Die 1 € Jobs heißen "Geringfügige Beschäftigung" etc. und wie grenzüberschreitend verantwortungslose Manager Bankrott machen können hat gerade der Deal der Hypo Alpe Adria aufgezeigt. Kärnten wäre zahlungsunfähig, wenn nicht das gesamte Österreich eingesprungen wäre und Bayern sitzt auf jeder Menge Verluste.
Heilige Wiener Schlachthof-Johanna: Lautschrift
es hat ja auch schon bei groß-schriftstellern
so gewesen sein können
die nichts anders taten
als sich selbst zu erklären - ah - erzählen
aus kleinsten schreibtuben - will sagen STUbe heraus
die sich dann ausweitete (oder aufblähte)
es kömmt doch darauf an
welche stimme da ertönet
(ehrklinget und fiel-leicht ah-uch fair-nommen wird)
ehrzähle mir von dear sell-pst
und ich sarg-dear(tier)
was tu seyn könn-test
o MACHT-kritik!
brechtObrecht!
Heilige Wiener Schlachthöfe:in Hochburg des Hedonismus aufgeführt - mutig!
Schlimm, schlimm, wenn man das hier so liest . . . Die CruX, so scheint mir, ist: Ein solches Gewerkschafts-Stueck gehoert klarerweise nicht zwingend aufgefuehrt in der Hochburg des europäischen Hedonismus – also Wien. Andererseits: Der Mut des Teams Thalheimer/Altmann es gerade in der Stadt des endless pleasure aufzuführen, ist nur zu begrüssen. Denn: Wer die Aktualitaet dieses Brechtschen Stueckes verneint und es abtut als Kitsch, der verschließt auch die Augen vor dem nach wie vor obwaltenden 'Gemetzel' an den Rohstoffboersen dieser Welt; werfe doch 'mal einer der ablehnenden Kommentatoren einen scheuen Blick von seinem vor ihm stehenden Stueck Sachertorte auf die Kurstafeln in Chicago oder London, wo gerade der Zuckerpreis schwindelnde Hoehen erreicht und dann versuche er/sie 'mal einen Zusammenhang herzustellen, zu den Verhaeltnissen in dem grosssen Zuckerimportland Brasilien und der dort herschenden Armut in den Favelas.

Aber was rede ich. Knapper und treffender sagt es doch der Meister selbst: Lernet zu sehen, anstatt zu stieren, noch und noch . . .
Heilige Johanna, Wien: Vorschlag Bild 4
Hey, wir sollen ein theaterstück, episches Theaterstück zur heilgien Johanna der Schlachthöfe, Bild 4 machen, habt ihr vieleciht Vorschläge wie man das machen könnte?
Johanna, Wien: hey, so nicht!
@Bertolt Brecht

Hey, ich stell hier doch keine Vorschläge rein und dann klaut diese jemand...so geht das aber nicht...
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