Karikatur einer Krise

von Thomas Askan Vierich

Wien, 30. Oktober 2010. Michael Thalheimers Premiere an der Wiener Burg. Schon Tage zuvor berichtete die lokale Presse über Stück und Inszenierung. Entsprechend hoch türmten sich die Erwartungen. Es beginnt sehr effektvoll – mit einem basslastigen, lauten Orgelakkord. Der Blick der Zuschauer fällt in einen riesigen Trichter aus Nirosta, entworfen von Thalheimers Stammbühnenbildner Olaf Altmann. Als würde man von oben in einen Fleischwolf blicken. Am Ende des Trichters baumelt eine Rinderhälfte. Daran wird sich in den folgenden zweiunddreiviertel Stunden nicht mehr viel ändern.

Das Fleisch baumelt wie das Pendel einer riesigen Uhr, das Mittelstück des Trichters schaukelt ganz langsam. Das kapitalistische System, heißt es später im Stück, sei ein "Schaukelbrett": Die wenigen, die oben sitzen, können das nur, weil viele unten sitzen. Naja.

Verrenkt, verfremdet, verunsichert

Erst einmal verunsichert Thalheimer das Publikum systematisch durch Verfremdung: Seine Schauspieler müssen ihre Texte mit seltsamen Körperverrenkungen zum Besten geben. Dem Fleischkönig Pierpont Mauler (Tilo Nest) passt sein glänzender, grauer Seidenanzug mit den zu kurzen Ärmeln (Kostüme: Katrin Lea Tag) überhaupt nicht. Auch deshalb steht er wohl immer so verrenkt herum. Auch die anderen agieren wie verzerrt, lachen zu laut und zu lange, manche ihrer Spruchweisheiten wiederholen sie bis zur Erschöpfung. Ein vielköpfiger Chor donnert minutenlang Blankverse über die Bühne. Das wirkt reichlich dick aufgetragen.

Ob dieses betont "Gespielte", "Unnatürliche" zeigen soll, dass alle Figuren Rollen in einem Lehrstück spielen, das nach achtzig Jahren reichlich Staub angesetzt hat?

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© Reinhard Werner: Sarah Viktoria Frick

Die heilige Johanna Dark (Sarah Viktoria Frick) agiert lange Zeit wie eine Studentenführerin, die abends in der "ZIB 2" (den österreichischen "Tagesthemen") reichlich naiv ihre Kritik am System formulieren darf. Johanna spricht viel vom "lieben Gott". Sie ist Soldatin bei der Heilsarmee und möchte den notleidenden Arbeitern in den Schlachthöfen helfen. Deshalb geht sie zum Oberboss Mauler und stellt ihn zur Rede. Der hört sich ihre Tiraden belustigt an und verliebt sich ein wenig in sie. Brechts gemeine Dialektik: Indem Mauler behauptet, aus Mitleid zur gequälten Kreatur aus dem Schlachtergeschäft aussteigen zu wollen, legt er seine Mitbewerber herein. Später lässt er sich scheinbar von Johanna dazu überreden, zum Wohl der arbeitslosen Arbeiter wieder einzusteigen. In Wirklichkeit verfolgt er immer nur seine Eigeninteressen: Gewinnmaximierung durch Ausbooten der Konkurrenz.

Zwischendurch führt er Johanna vor, wie schlecht die Armen sind: Sie lassen sich ganz einfach kaufen, weil ihnen jeder Sinn fürs Höhere fehlt. Und sie sind selbst schuld an ihrem Elend. Brecht/Thalheimer führen hier reichlich holzschnittartig die böse Fratze des Kapitalismus vor - noch ganz ohne die Errungenschaften der sozialen Marktwitschaft, auch ohne Hartz IV. Das ist schade, würde es doch das Bild vielschichtiger, leider auch komplizierter machen. So gerät diese Kapitalismuskritik zum Klischee, die Krise zur Karikatur. Das Stück berührt nicht. Wozu Thalheimers Verfremdungen wesentlich beitragen. Es wird im Übrigen auch viel zu viel geschrien.

Die Boni und die Rindviecher

Anders nach der Pause. Jetzt regieren auch mal leise Töne, die Figuren agieren natürlicher, lassen ihre Masken fallen. Die Arbeiter sind in den Streik getreten. Aus der Studentenführerin Johanna ist eine wortgewaltige Proto-Gewerkschafterin geworden. Ihr Chef, ein bigotter Priester (Thomas Reisinger), der ständig ein großes Holzkreuz mit sich herumschleppt - herrlich wie Reisinger sich grinsend verbiegt -, wirft allerdings ein schlechtes Licht auf ihre Organisation.

Sogar Mauler bekommt moralische Anwandlungen, setzt sich zu Johanna an den Bühnenrand und rechtfertigt sein Dasein als Kapitalist - ganz ohne Verrenkungen. Allerdings mit Phrasen von den "ehernen Gesetzen der Wirtschaft, auf die niemand Einfluss habe". Plötzlich bekommt das Stück tatsächlich einen aktuellen Bezug. Haben wir so etwas nicht bis zum Erbrechen in den letzten Jahren gehört? Bei uns musste der Staat mit Steuergeldern das System und die Boni der Banker retten. Bei Brecht müssen auf Vorschlag von Mauler halt ein Drittel der Rindviecher getötet und ein Drittel der Arbeiter entlassen werden, um das System der Schlachthöfe zu retten.

Doch zum Schluss reihen sich die Monologe aneinander. Die Schauspieler leiern die Texte mehr oder weniger uninspiriert herunter. Schade, gerade jetzt hätten sie etwas mehr Inszenierung verdient. Fast vermisst man ihre Verrenkungen aus dem ersten Teil. Das Stück endet mit dem überlebensgroßen Konterfei der "Heiligen Johanna " am Grunde des blechernen Trichters. Und man weiß nicht warum.

Pointiert, pompös, böse

Hart verdienter Schlussapplaus für die Schauspieler, die alle bis an den Rand ihrer physischen Leistungsfähigkeit gegangen sind, besonders Tilo Nest als Mauler und Oliver Masucci als sein Konkurrent Cridle. Auch Roland Koch als Fleischfabrikant Graham lieferte mit künstlichem Schmähbauch ein sehr inspiriertes Spiel. Er musste häufig mit Masucci im Duett Texte deklamieren - eine zumindest technische Herausforderung. Die auch der Chor meisterte, der zwar leicht hüftsteif den Hintergrund der Bühne bevölkerte, aber akustisch einwandfrei zu verstehen war. Die junge Sarah Viktoria Frick wirkte am Ende etwas hölzern, vielleicht auch müde, insgesamt lieferte aber auch sie einen beeindruckenden Abend ab.

Nur die Inszenierung ließ einen etwas ratlos zurück. Vieles wirkte in Ansätzen pointiert, manchmal überdeutlich pompös - und dann doch wieder nicht wirklich zu Ende gedacht.
Thalheimer zeigt sehr böse, welche Gaudi die Mächtigen daran haben, an den Hebeln der Macht zu sitzen. Wie sich Mauler an seinem Börsenspiel ergötzt, dem Tausende von Arbeitern zum Opfer fallen. Eine wirkliche, neue Kritik zur aktuellen Kapitalismuskrise aber war dieser Abend nicht. Gelernt hat man leider nichts.

 

Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Regie: Michael Thalheimer, Bühnenbild: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Video: Alexander du Prel, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Tilo Nest, Oliver Masucci, Roland Koch, Hermann Scheidleder, Falk Rockstroh, Moritz Vierboom, Regina Fritsch, André Meyer, Thomas Reisinger, Adina Vetter, Gerhard König und einem vielköpfigen, einstimmigen Chor.

www.burgtheater.at

 

Mehr Heilige Brecht-Johannas, über die nachtkritik.de berichtet hat, gab es zuletzt im Dezember 2009 von Nicolas Stemann im Deutschen Theater Berlin, von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden im Oktober 2009, von Frank-Patrick Steckel im Februar 2008 in Bremen.

 

Kritikenrundschau

Auch wenn Thalheimers Wien-Debüt mit drei Stunden für seine Verhältnisse ungewöhnlich lange dauere, habe er auch Brechts "Johanna"-Text "gehörig gekürzt, die plakativsten Plattheiten gestrichen", dafür aber "andere, gewöhnlich kurze Dialoge zum Mantra" ausgebaut. So gibt Martin Lhotzky in der Neuen Zürcher Zeitung (1.11.2010) Auskunft. Tilo Nest hüpfe als Mauler "im glitzernden grauen Anzug ständig herum wie ein Preisboxer", an seinem Gesicht lasse sich "vieles ablesen. (...) Erleichtert wird die Lektüre des Mienenspiels auch durch das Spielen an der Rampe." Der Kritiker betrachtet den Abend "mit Staunen und wundert sich doch, wo die vielgerühmte Schärfe von Thalheimers Dramensezierkunst geblieben ist. Ein bisschen Klamauk und ein wenig zu viel von der Holzhammermethode bescheren einen Abend grau in grau". "So richtig überzeugt verlässt" er das Theater nicht, "selbst zum ernsthaften Grübeln war die Darbietung kaum anregend genug".

Die "kapitalistischen Schweinereien" des Mauler seien "dramatisch wie wirtschaftlich etwas arg von gestern", meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (1.11.2010). Brechts Stück mit seinem "Klassenkampfunterrichtsziel" sperre "seinen gähnenden ideologischen Rachen treuherzig weit" auf. Auf der Bühne sind ihm hingegen eher die "Schreckens- und Albtraumwelten" eines Edgar A. Poe begegnet. Hier werde die "Hohe Messe Brechts" in "Marx-Dur" zur "Schwarzen Messe: in Marx-Moll", die "gesellschaftliche Oberfläche (...) zum Untergrund" und der "Himmel Brechtscher Theorie (...) zur Hölle, in dem kein Katechismus mehr etwas gilt". Stattdessen werde "gezeigt, was Wirtschaft kostet: Wahnsinn". "Urwuchtregisseur" Thalheimer lasse "die Protagonisten aus dem Chor hervortreten, -kriechen, -krauchen, -stürzen: Individuen, die sich von einer Masse lösen, die sie ausstößt". Er treibe "die Plattheiten und Geordnetheiten der Brechtschen Argumentation (...) in den Taumel einer Hirnriss-Sause". Die ganze Inszenierung habe "etwas grandios Bübisches, Angstgehetztes: Als versuchten sich alle mit den Strängen, über die sie schlagen, gegenseitig zu fesseln" - eine "Schwarze Messe", die aus der "Gewerkschaftslehrstunde eine abgrundtiefe Farce, ein wildes, großes, haltloses Stück macht, das plötzlich Leben und Tollheit atmet" mache. "In diese Welt der Angst, des Wahnsinns und des Höllengelichters" trete Fricks Johanna als "die höhere Tochter auf dem Höllentrip", die "wie eine Sonntagsschulabsolventin", mit "Girlie-Tremolo das Gute im Menschen" beschwöre. Es sei "ein Wahnsinn, in dieser wahnsinnigen Welt es versucht zu haben mit ein bisschen Güte und Liebe".

In der Frankfurter Rundschau (2.11.2010) schreibt Stephan Hilpold: Es gebe Bühnenbilder, die seien "einfach und klar und wollen eine ganze Welt beschreiben". Altmanns Bühnenbild für die Johanna sei so eines, wie ein "klaustrophobischer Tunnel". Thilo Nest gebe "den Kapitalisten wie er in marxistischen Lehrwerken steht" und den "Philanthropen, der jeden Pietisten vor Neid erblassen lässt". Nest sei einer der Gründe, "warum dieser Brecht plötzlich wieder so gut funktioniert". Er sei "spielerisch und skrupellos und hat dabei ein schlechtes Gewissen. Denkt er, dann ähnelt das gleichermaßen einem Tänzchen und einem Boxkampf. Ein Abziehbild mit Tiefendimension". Noch vor einigen Jahren hätte man eine solche Figur als "Überbleibsel aus der klassenkämpferischen Mottenkiste" abgetan. Heute erscheine er in "einem anderen Licht". Die "ökonomischen Mechanismen", die Brecht beschreibt, erinnerten an "heutige Wirtschaftsnachrichten". Thalheimer dampfe das Gewirr der Figuren auf zwei Elemente zusammen: "Mauler und die Fabrikanten und den Chor, der in die Rollen all jener Personen schlüpft, die nicht agieren, sondern reagieren." Wie eine Mauer stehe er bis ans Ende im Hintergrund, eine Masse mit Stimmwucht, die eine Macht andeute, die sie nicht habe in diesem Stück. "Ein Chor wie aus einer griechischen Tragödie, anklagend, aufbrausend, ironisierend, kommentierend." Sarah Viktoria Frick spiele die Johanna als Kind, das "so herrlich unbeleckt von den ökonomischen Zusammenhängen ist, dass es weh tut". Johannas Schwäche allerdings spiele Frick als ihre "größte Stärke" aus. Es sei "mehr als bedenklich", dass man in Brechts Stück "so viele Anknüpfungspunkte an die heutigen Verhältnisse findet". Sie "kenntlich gemacht zu haben", sei Teil von Thalheimers Verdienst.

Ulrich Weinzierl schreibt in der Tageszeitung Die Welt (2.11.2010), verspreche der Namen Thalheimer sonst immer kurze 90 Minuten, habe der "harte, schwere Brocken" doch tatsächlich drei viel zu lange Stunden gedauert. Thalheimer habe dem Lehrstück seine Sperrigkeit gelassen, betone sie sogar, hier werde kein Drama, sondern "eine Partitur" inszeniert. Ohnehin komme das Werk konjunkturtechnisch immer entweder zu früh für die Krise oder viel zu spät. "Der militärisch gedrillte Chor brüllt und feuert Lachsalven ab, als wären wir beim seligen Einar Schleef." Sarah Viktoria Frick erinnere an ein "übereifriges Schulmädchen": "Baby Doll als Kindersoldatin der Heilsarmee". Das interessiere ihn, Weinzierl, ehrlich gesagt "herzlich wenig". Was sich nach der Pause ändere, wenn Thalheimer "Identifikation ermöglicht". Johanna Dark in ihrem "tödlichen Scheitern fesselt unsere Fantasie und unsere Sinne".

Barbara Petsch schreibt in der Wiener Tageszeitung Die Presse (2.11.2010): Thalheimer beherrsche die große Bühne souverän. Er fülle sie mit "Action" von der ersten bis zur letzten Minute. Doch lege er seine Inszenierung "zu episch" an. Brecht habe wohl "mehr Sinn für das Wirtschaftliche als viele anderen Autoren". Seine "pointierten Diagnosen" träfen "teilweise" zu. Aber "letztlich" sei seine Sicht "doch eindimensional und schematisch". Bei Thalheimer verstehe man: "Kapitalismus und Kirche sind schlecht, Kommunismus ist die Lösung." Das sei "so überholt, dass es nicht einmal mehr ärgerlich ist". Die "erneut hinreißende Sarah Viktoria Frick" erfülle Thalheimers "kühle Tableaux mit Wärme, Blut und Leben". Sie vollziehe "glaubwürdig" ihren Weg vom "frischen Mädchen" zur "sterbenskranken Gescheiterten". Tilo Nest blättere den Mauler mit einem "unglaublichen gestischen Reichtum". So "originell und treffend ward selten eine Figur aus der angeblich nüchternen Wirtschaft illustriert". Dieser "plumpe, hässliche Kerl, der zeitweise verschlagen phlegmatisch, bauernschlau wirkt, kann eine starke, seelische, ja sogar emotionale Energie entfalten. Es ist eine Freude". Altmanns Bühne sei nicht "sonderlich originell", aber "stimmig". "Insgesamt: ordentliche Aufführung, museales Stück."

In der Wiener Tageszeitung Der Standard (2.11.2010) schreibt Margarethe Affenzeller: Die Perspektive des Stückes möge "in Zeiten, in denen öffentlich mehr über Tierschutz- und Schlachthausbestimmungen nachgedacht wird denn über ein Proletariat", anachronistisch erscheinen, doch tauge Brechts Lehrstück "im Kern immer noch dazu, Mechanismen der Ausbeutung freizulegen". Maulers faustischer Geschäftssinn treibe ihn zu Gewinnmaximierung und Lohndrücken. "Ein Verlangen, das ihm auf der Bühne lebhaft in die Knochen fährt": Thalheimer-Figuren hätten sich noch nie über "handlungskonforme Gesten" erklärt, sondern in "irritierenden, reduzierten physischen Mustern". Über Thilo Nests "kleine Siegestänze" und "eigentümliche Lockerungsübungen" veröde "nebenher die Szene". Dem "ohnehin aus abstrakten Redefiguren bestehenden Stück" füge Thalheimer eine "weitere Abstrahierung auf der Bühne hinzu", die den "wirtschaftstheoretischen und sozialpolitischen Sätzen" weitgehend den Boden unter den Füßen wegzöge. Das Stück büße an "Mitteilsamkeit" ein und bleibe reduziert auf die "reichlich manieriert ausstaffierte Opfergeschichte eines naiven Mädchens". Altmanns Bühne sei "genau betrachtet purer Kunstkitsch, der als Dekor dient".

Sven Ricklefs
schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (2.11.2010): Angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise habe das Burgtheater Michael Thalheimer gebeten, dem Publikum die "Kaputtheit unseres Systems" vor Augen zu führen. Hinten in Olaf Altmanns Raum schwinge ein "mächtiges Pendel" - "die Zeit: bestimmt vom rohen Fleisch". Brechts Stück zeige "exemplarisch das Elend derer, die immer die Leidtragenden sind der gierigen Machenschaften der Mächtigen". Der "wunderbare Tilo Nest" spiele Mauler als einen "ständig windig sich windenden". Mit der "ebenso faszinierenden wie eigenwilligen" Sarah Viktoria Frick habe Thalheimer in Wien eine "Art Wuchtbrumme" ins Feld geschickt, die "breitbeinig und konsequent ihren Weg in die elendige Kehrseite des Kapitalismus hinabstiefelt". Zunächst eher "die Karikatur einer höheren Tochter", doch je tiefer sie hinabsteigt, um so nackter stehe sie da, schließlich als Sterbende sehe sie aus wie das "erbärmliche Vieh, dessen Masken der Chor zeitweise trägt". Auch der "größte Brechtskeptiker" müsse zugeben, dass es Michael Thalheimer mit seiner "ästhetisch wie rhythmisch wuchtigen Version, die zudem mit aggressivem Gestus das Publikum direkt anspielt", gelungen sei, eine "beeindruckende Form für dieses Stück zu finden".

Für Brechts 'Johanna' habe sich "der elegische Fatalist Thalheimer" entschleunigt und mit drei Stunden ungewöhnlich viel Zeit genommen, schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (3.11.2010): "Doch er hat seine Stilmittel nicht weiterentwickelt, sie sind nur etwas in die Breite gegangen." Thalheimer zelebriere das Stück sakrosankt und mit aufgeblasenen Backen als hohe Messe: "Wenn rund vierzig Statisten drei Stunden lang reglos dastehen müssen, ist das dann nicht auch eine Art von Ausbeutung? Die wie im Theater von Volker Lösch skandierende Masse Mensch hat hier ungefähr denselben Zweck wie die ratternden Börsenkurse, die auf die Schachtwände projiziert werden. Sieht einfach gut aus." Überdies sei das preußische Schreihalstheater in Wien angekommen – "Soll man das Fortschritt nennen?"

Michael Skasa schreibt in der Wochenzeitung Die Zeit (4.11.2010): hinten ein helles Torloch mit der Rinderhälfte als "Todesperpendikel der Schlachthöfe", vorne die stahlgraue, abschüssige Welt, dazwischen "der Mensch, vierzigköpfig in drei Reihen, unbeweglich, doch erregt, schreiend, heulend, donnernd, unerhört". Der "nimmerwankende Chor, unglaublich präzis und rhythmisch prägnant einstudiert von Marcus Crome, leiht allen Parteien seine Stimme: Arbeitslosen wie Spekulanten, es ist ja alles eins, oben, unten". Durch diese 40-köpfige Masse hindurch "nach vorn zur Rampe muss, wer was zu sagen hat". Alle "schreien am liebsten frontal auf uns los", Wörter wie "Peitschenhiebe, oft mit pfeifender Stimme - es ist ja auch alles Irrsinn und zum Schreien komisch, was so abgeht in der freien Wirtschaft unter freien Menschen". Michael Thalheimer entfessele das "Kasperlspiel menschlicher Bluthunde. Seine Kapitalisten sind windige Eintänzer, stumpfsinnige Säcke und giersabbernde Brüllaffen", Tilo Nest "dribbelt und boxt und krümmt sich wie Richard III.", Falk Rockstroh "schnellt als Mephisto übers Parkett, sein Lachen bellt": alles "hysterisch künstlich und kunstvoll choreografiert, blitzschnell und grell". Sarah Victoria Frick als Johanna "ein naiv Ding mit trotzigem Mut zur Torheit". Das "Chaos ist ein knapp dreistündiger Mordsspaß" und "das Burgtheaterpublikum jubelte".

 

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