Presseschau vom 4. November 2010 - Noch einmal zum Skandal bei Elfriede Jelineks Rechnitz (Ein Würgeengel) in Düsseldorf

Jenseits des Sündenstolzes

Jenseits des Sündenstolzes

4. November 2010. In der Süddeutschen Zeitung (4.11.2010) untersucht Martin Krumbholz die Gründe für den Skandal, den die Düsseldorfer Inszenierung von Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) ausgelöst hat.

Er beschreibt die skandalisierte Szene: Am Ende höre man "im Dunkeln, halblaut gesprochen, den authentischen Dialog des sogenannten Kannibalen von Rotenburg, der sich zu seinem tödlichen Rendezvous verabredet. Es gibt dann nichts mehr zu sehen, es gibt nur noch diesen gruseligen O-Ton-Text, der seinen O-Ton unverfälscht beibehält, aus einer Black Box heraus zu hören. Während es einem Teil des Publikums kalt über den Rücken läuft, schreien andere: 'Aufhören!'."

Sündenstolz und mörderische Lust

Die "suggestive", eben auch die Skandal auslösende "Kraft des Textes" habe nicht bloß mit dem historischen Faktum des Gefolgschaftsfestes mit anschließender kollektiver Mordtat zu tun, sondern auch damit, "wie Jelinek Quellen unterschiedlichster Provenienz miteinander verbindet". Denn: "Was hat der Holocaust mit dem Kannibalen von Rotenburg zu tun?"

Dass der Holocaust eine "perfide logistische Leistung war", sei bekannt und werde an den Schulen allenthalben gelehrt, "eine mustergültige Antwort darauf ist der deutsche Sündenstolz, die deutsche Gedenkkultur". Dass aber der Holocaust "im Einzelfall mit bacchantischer mörderischer Lust zu tun haben könnte (Jelinek zitiert 'Die Bakchen' des Euripides) - diese Vorstellung geht zu weit, weil sie zu weit gehen will". Wenn es um "die perverse Lust von Einzelnen" gehe, "etwa um die einer im Rheinland verwurzelten Thyssen-Erbin, die nach den Rechnitz-Vorfällen in die Schweiz emigrierte und dort unbehelligt leben konnte", könnten die Gedenkrituale, referiert Krumbholz Jelineks Überlegung, die Vergangenheit nicht mehr so ohne Weiteres bewältigen.

Die Rolle der Rezensenten

Jelineks dramaturgisches Instrument sei der 'Botenbericht'. Auch Rezensenten seien solche Boten, die ein Ereignis artikulieren, mitteilen, verfremden. "Was teilen sie von einem Ereignis mit, was lassen sie nach außen dringen, wie artikulieren sie den Skandal?" So habe die Rezensentin der Rheinischen Post mit ihrer Erwähnung von Paul Spiegels Witwe, die als Erste den Saal verlassen habe, den "Eindruck erweckt", der Abend sei "nicht zu ertragen", "insbesondere nicht für Angehörige der Opfer". Doch was genau, fragt Krumbholz, sei nicht zu ertragen? "Solche partikularen Botenberichte beschreiben den Skandal nicht, sie instrumentieren ihn nur: als Gegenstand der Erregung oder der Belustigung."

Obwohl Jelineks Einsatz des Gesprächs zwischen dem Kannibalen von Rotenburg und seinem Opfer im Grunde kein geeignetes Assoziations-Material sei, weil es die "Unterscheidung zwischen Täter und Opfer" aufhebe, sei es doch immerhin eine gute Botschaft, dass es überhaupt noch "szenische Experimente gibt, die gründlich verstören können".

 

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