Menschen sind Chweine

von Rainer Petto

Saarbrücken, 6. Novemberr 2010. Ein Sofa. Ein Trauma von einem Möbelstück. Ein altes Ledersofa, geschmacklos im Stil, von unglaublich hässlicher gelb-brauner Farbe, abgewetzt. Wer es da stehen sieht, weiß: Was rund um dieses Sofa geschehen wird, kann nichts Gutes sein (Bühne und Kostüme: Gregor Wickert). Alles spielt sich an diesem Abend auf, vor, hinter diesem Sofa ab. Ansonsten liegt auf dem engen Bühnenpodest nur Kleinkram herum. Zum Beispiel Perücken. Fünf Schauspieler in Alltagskluft unserer Zeit wechseln Perücken und Kleidungsstücke auf offener Bühne. Jeder spielt eine Vielzahl von Rollen. Während die einen vorm Sofa agieren, verstecken sich die andern dahinter. Aber das Sofa kann sich drehen, dann sehen wir die Kehrseite. Es gibt keine Geheimnisse, der Blick auf das Leben der hier dargestellten Sorte Mensch ist unverstellt. Es sind Chonchons.

Eine hysterische Familienkomödie
Im vergangenen Jahr, als das Stück beim Saarbrücker Primeurs-Festival in einer Werkstattinszenierung vorgestellt wurde, vom gleichen Regisseur und mit fast identischem Ensemble, da hießen die Chonchons noch Chweine. Damals hat die Autorin diese Übersetzung abgelehnt, sie wollte keine Assoziation zum französischen "cochons", das war ihr zu unpoetisch und klang ihr zu sehr nach Klamotte. Jetzt heißen die Chonchons Chonchons, deutsch ausgesprochen, ohne Nasal (Übersetzung: Bettina Arlt). Aber der Beatles-Song "Piggies", immer wieder als Zwischenmusik eingespielt, stellt dann doch wieder die Schweine-Assoziation her.

Schweine? Trotz des hochtrabenden, nach Staatsaktionen klingenden Titels "Hochmut, Verfolgung und Enthauptung" – es geht nicht um Politik. Wir sehen, der Untertitel sagt es, eine hysterische Familienkomödie. Die Chonchons, das sind Vater, Mutter, Kind, Schwiegermutter, Theaterdirektor, Inspektor und so weiter. Jeder kann, zumindest teil- oder zeitweise, ein Chonchon sein.

Er, allzu lässiger Typ mit Schnurres und Goldkettchen, nennt sie Hure. Sie schreibt Theaterstücke. Für die Schwiegermutter ist sie eine fette Schlampe. Das Kind plärrt, macht die Windeln voll und kriegt dafür eine geschmiert. Der Theaterdirektor nutzt schamlos ihre Lage aus. Der Inspektor will ihr was anhängen. Es ist keine Milieustudie. Es ist ein Albtraum von Leben in unserer Zeit.

Dieses überfordernde Leben
Auch die Autorin tritt auf, bei der Uraufführung in Montpellier diesen Februar wurde sie von der Autorin selbst gespielt. Sie heißt Marion Aubert, die Frau im Stück heißt Madame Auberte. Auch in Felicia Zellers im Mai ebenfalls hier in der Saarbrücker Alten Feuerwache uraufgeführtem Stück Der große Blöff gibt es eine Autorin, die ins Bühnengeschehen eingreift. Bei Zeller geht es ja auch ums Theater, und bei aller Unübersichtlichkeit und aller Nähe zur Klamotte stellt die Autorin doch die intelligente Machart ihres Stückes deutlich aus.

Aubert hingegen zielt, trotz Theaterdirektor, stückeschreibender Mutter und eingreifender Autorin, nicht aufs Theater, sondern aufs Leben, aufs Männer und vor allem Frauen überfordernde Leben. Dabei verwischt die Französin eher ihre Spuren, alles ist scheinbar nur drauflos geschrieben, unabsichtlich und von großer Leichtigkeit – und erst auf den zweiten Blick wohlkalkuliert. Das soll ihr erst mal jemand nachmachen.

Marion Aubert liefert Textflächen, auf Personen verteilt. Indem die Schauspieler von einer Rolle in die andere gleiten, aus der Autorin das Kleinkind, aus der Journalistin die Schwiegermutter wird, entstehen überraschende Zusammenhänge. Aktionen sind nicht vorgegeben, nur Reden von Aktionen.

In der Nachfolge des Grand Guignol
Regisseur Christopher Haninger, Jahrgang 1977 wie die Autorin, schafft es tatsächlich, aus der Vorlage keine Klamotte zu machen, er spekuliert nicht auf den ganz wohlfeilen Effekt. Es gelingt ihm, durch all die Schrillheit hindurch die nur leicht überdrehte Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen. Dabei kann er sich auf ein erprobtes Ensemble verlassen. Vor allem Boris Pietsch (als Ehemann etc.) und Nina Schopka (als Ehefrau etc.) sind geradezu darauf spezialisiert, auf schmalem Grat zu wandeln, bei ernsten Rollen einen Hauch von Absurdität und bei komischen eine Portion Ernst erahnen zu lassen. Johannes Quester, als Autorin in Frauenkleidern und mit rot geschminkten Lippen, meidet alles Tuntige und trifft einen geradezu natürlichen Ton. Klaus Meininger verlässt eine Szene lang seinen üblichen schleppenden Duktus und kann als schlechte Schauspielerin brillieren. Gabriela Krestan, seit 1981 am Saarländischen Staatstheater, ist in allen Rollen eine sichere Bank.

Zum ersten Mal ist nun ein Stück, das bei "Primeurs" vorgestellt wurde, dem Saarbrücker Festival frankophoner Gegenwartsdramatik, in den Spielplan übernommen worden. Der aus Montpellier stammenden, seit zehn Jahren Theaterstücke schreibenden und sie zum Teil mit ihrer eigenen Compagnie Tire pas la nappe aufführenden Marion Aubert ist damit das Tor nach Deutschland geöffnet worden. Den deutschen Bühnen bietet sie gut spielbares, scheinbar ganz leichtes Theater in der Nachfolge von Alfred Jarry und des Grand Guignol. Vom 19. November an kann man bei der vierten Primeurs-Ausgabe hoffentlich weitere Entdeckungen machen.

 

Hochmut, Verfolgung und Enthauptung. Hysterische Familienkomödie
von Marion Aubert
Deutsch von Bettina Arlt
Inszenierung: Christopher Haninger, Bühne und Kostüme: Gregor Wickert, Dramaturgie: Ursula Thinnes.
Mit: Nina Schopka, Johannes Quester, Boris Pietsch, Klaus Meininger, Gabriela Krestan.

www.theater-saarbruecken.de

 

Marion Aubert, Jahrgang 1977, ist Dramatikerin, Schauspielerin und Regisseurin. Ihre Compagnie Tire pas la nappe gründete sie 1997 in Montpellier. Ihre hysterische Familienkomödie wurde 2009 in Saarbrücken zuerst beim Festival frankophoner Gegenwartsdramatik Primeurs in einer Werkstattinszenierung vorgestellt.

 

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