Free climbing im Mannschen Hochgebirge

von Ralph Gambihler

Leipzig, 6. November 2010. Natürlich kann man alles auf die Bühne bringen, aber diesen Roman? Ist er nicht doch ziemlich unspielbar? Mit seiner epischen Breite und seinem philosophischen Ballast? Mit seinen langen diagnostischen Blicken auf die Fieberschübe der Moderne und diesem schelmischen Lächeln, das dem Autor erst abhandenkommt, als er die Handlung im Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs enden lässt?

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© David Baltzer/Die Bildbühne

Ja, "Der Zauberberg" ist die reine Epik und weiter nichts. Einen dramatischen Abglanz davon zeigen die achtbaren, aber zu Recht nicht kanonisierten Verfilmungen von Ludwig Cremer und Hans W. Geisendörfer. Derlei Vorarbeiten kann einen waghalsigen Allesdramatisierer wie Sebastian Hartmann aber natürlich nicht schrecken, und so läuft nun am Centraltheater Leipzig im Rahmen des aktuellen Spielzeitthemas "Deutschland" eine fünfstündige Thomas-Mann-Anstrengung, die einiges Kopfschwirren und Schädelbrummen verursacht, nahe an der Benommenheit entlang. Aber so unmöglich und sperrig der Abend ist, so überraschend ist er auch. Scheitern geht anders.

Geistige Kletterpartie
Ausgangspunkt für Hartmanns Besteigung des Mannschen Zauberbergs ist eine weitgehend texttreue, radikal verknappende Strichfassung mit minimalen Textimporten. Dringeblieben sind vor allem markante Dialogstellen und -fetzen, die fast bruchlos ineinander überblendet, punktuell auch umgruppiert wurden und ohne Werkkenntnis hermetisch bleiben. Derart von historisch-atmosphärischem Gepränge entkleidet und dem Säurebad der Verwesentlichung ausgesetzt, findet sich "des Lebens treuherziges Sorgenkind" Hans Castorp bald der Höhenluft letzter und allerletzter Fragen ausgesetzt. Der deutsche Bildungsroman als geistige Kletterpartie, intellektuelle Schweißausbrüche und Hyperventilationen inklusive.

Bis dahin ist es allerdings ein längerer Weg. Die Regie täuscht zunächst eine Klamotte an, und man fragt sich, warum sie sich das antut. Die Exposition wirkt aufgesetzt und stellenweise bloß albern. Die erste Begegnung mit Settembrini (kaum südländisch charmant: Peter René Lüdicke) etwa ist eine deutsch-italienische Farce ohne Widerhaken und Abgrund. Wenn einige Szenen später Janine Kreß als weiblich besetzter Berghof-Therapeut Dr. Krokowski mit schwerem Pathos in der Stimme über die Liebe als krankheitsbildende Macht doziert, gehen sich Personal und Sanatoriums-Insassen vorhersehbar an die Wäsche. Und klar: Hans Castorp wird gelegentlich mit Castorf angequatscht. Ein Kalauer als Gruß an den Meister in Berlin.

Schroff umstellt von Getscherwänden
Dass Hartmann den Roman keineswegs im Läppischen versenken will, ahnt man beim Blick in die Kulisse, die der Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Clementine Pohl entworfen hat. Das Bild ist paradox und sehr symbolisch: Die Berghof-Bewohner leben hoch in den Bergen, ganz ohne Balkon für die allfällige Liegekur, ganz ohne Bergwiesen für die Gänge des "Vereins halbe Lunge", ganz ohne Salontürknallen von Madame Chauchat. Frei und losgelöst von den Dingen sind sie trotzdem nicht. Im Gegenteil sehen wir die Figuren schroff umstellt von eisig-gletscherhaften, schräg gestellten Wänden, die den Raum bedrohlich einengen. Wer hier rein oder raus will, nimmt ein Seil oder riskiert sein Abrutschen. Gefährliches Terrain offenbar, diese hohen Gedankenwelten des Geistes. Womöglich: ein Gefängnis.

Worauf Hartmann hinaus will bei seinem Free climbing im Mannschen Hochgebirge, bleibt unscharf. Aber soviel kann man sagen: Es ist eine entrückt wirkende, bizarr und grotesk überschießende tour de force auf den Spuren des Meistererzählers und nicht die Anti-"Zauberberg"-Performance, die man Hartmann vielleicht auch zugetraut hätte. Der Alarmismus des Originals ist vernehmlich. Und auch die unerfüllte Liebesgeschichte des Hans Castorp (voller Verzweiflung und gar nicht phlegmatisch: Guido Lambrecht) mit Madame Chauchat (eher streng als liederlich: Artemis Chalkidou) wird mit scharfen Strichen erzählt.

Dunkel, hart, nicht leicht zu nehmen
Besonders herausgehoben: das philosophische Waffenklirren der Antipoden Settembrini und Naphta. Hartmann zelebriert es zwischen zwei Pausen mit einem absurden Vorspiel. Wir sehen Peter René Lüdicke und Ingolf Müller-Beck beim stumm und grimmig ausgefochtenen Kochduell. Eine Gulaschkanone bollert, Fleisch und Gemüse werden geschnippelt, der Saal füllt sich mit deftigen Gerüchen. Erst als der Topf voll ist, gehen die beiden Hitzköpfe mit Worten und Waffen aufeinander los. So viel Zeit muss sein.

Es sind, scheint's, die Dualismen wie Natur und Geist, Leben und Tod, Liebe und Leid, die Hartmann alptraumhaft illuminiert, begleitet von Rosalind Bafoes Auftritten als langbeinig aus dem Kontext stöckelnde "tous les deux!"-Dualistin und Steve Binettis balladeskem Gitarrenzauber. "Die Krankheit ist ein Abenteuer, das zum Tod oder zum Leben führen kann", heißt es bei Thomas Mann. Da folgt ihm sein Leipziger Interpret, kommentiert mit wenigen, grellen Bildern und Szenen wie einem Mummenschanz mit sächsischen Rokoko-Knallchargen, die das finale Versinken in der Katastrophe dämlich vorwegnehmen.

Ein dicker Brocken von einem Theaterabend ist's geworden, dunkel, hart und nicht leicht zu nehmen. Und ja: Es ist Thomas Mann.

 

Der Zauberberg
nach dem Roman von Thomas Mann
Regie: Sebastian Hartmann, Bühne: Sebastian Hartmann, Clementine Pohl, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Steve Binetti, Dramaturgie: Uwe Bautz.
Mit: Rosalind Baffoe, Manolo Bertling, Maximilian Brauer, Artemis Chalkidou, Matthias Hummitzsch, Janine Kreß, Guido Lambrecht, Ingolf Müller-Beck, Peter René Lüdicke, Birgit Unterweger.

www.centraltheater-leipzig.de

 

Einen anderen Zauberberg inszenierte Stefan Bachmann 2008 am Berliner Maxim Gorki Theater. Alles über Sebastian Hartmann auf nachtkritik im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Es sei "ein Mummenschanz, den Hartmann auf dem statischen Gletscherfeld aufführen" lasse, meint Elmar Krekeler in der Welt (8.11.2010). "Ein Karneval vom Ende der Aufklärung. Die haben allesamt nicht etwa was an der Lunge (...). Denen liegt das Hirn in Fieber. Die leiden alle an zerebraler Schwindsucht. Und an einer Zeit, die unweigerlich auf den Untergang zuschliddert." Hartmann bebildere den "Zauberberg" nicht, er vermeide "erfolgreich jede Reader's-Digest-Nähe". Er baue vielmehr "eine Thomas-Mann-Revue, die dem Kern der Geschichte doch ziemlich nahe kommt." Der Verlauf der Zeit werde "vollendet aufgehoben, es ist überraschend kurzweilig, kurioserweise auch sehr lustig und bemerkenswert aktionsreich." Leider nur habe "Hartmann zu jeder Szene eine Idee. Wäre kein Problem gewesen, nur hatte er meistens dann gleich noch eine zweite für dieselbe Szene. Mit der schlägt er die erste Idee tot. Die überlebende Idee wiederum lässt er dann gern so lange laufen, bis auch der letzte zerebral Schwindsüchtige im Publikum Hartmanns Absicht begriffen hat und trotz aller prinzipiellen Fasziniertheit ein bisschen verstimmt ist."

Man könne Hartmanns "Zauberberg"-Inszenierung "durchaus als werktreu" betrachten, schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (8.11.2010): Hartmann lasse "sich fünf lange Stunden Zeit, fordert vom Zuschauer viel Konzentration und hält sich eng an die Vorlage." Und investiere "viel Regieschweiß, viel Schauspielmühe, um aus dem Romangebirge glaubwürdig heutige Figuren zu schlagen. Glaubwürdig sollen sie werden, indem sie sich durch die Niederungen des Klamauks kämpfen." Wenn aber "seine Figuren endlich in jenem Modus der Ernsthaftigkeit sind, dass sie mehr zu erzählen als zu zeigen vermögen, erschließt sich auch, was Hartmann uns hier vorführt: Es ist seine eigene Suche nach Form und Haltung, nach einer Welt-Anschauung, die er sich selbst glauben kann. Er findet und zeigt aber vornehmlich einen schwankenden Kosmos abgrundtiefer Haltungslosigkeit. Die Inszenierung wirkt, als wisse hier niemand, was von dieser unserer Welt und ihren Bewohnern, von der Kunst und der Politik zu halten und zu hoffen ist." Man könne das als Bekenntnis lesen: "Und es ist, wider Willen, auch das resignative Bekenntnis des einstigen Regie-Rebellen Sebastian Hartmann. Vor allem nämlich ist der Leipziger 'Zauberberg' konservativ im Sinne Thomas Manns, insofern hier das Theater nichts verändern will, sondern lediglich eine grundsätzliche Verwirrung des Geistes ausstellt."

In der Leipziger Volkszeitung (8.11.2010) gibt Nina May zu Protokoll, dass man von Hartmanns Version des "Zauberbergs" "das Schlimmste" befürchtet habe. "Doch Hartmann gelingt es, diese Erwartung zu brechen. Der fünfstündige Abend gerät bis auf den Schluss erstaunlich kurzweilig." Zwar habe Hartmann zu Beginn "mal wieder tief in seine stets bereitliegende Tasche des derben Juxes gegriffen", doch "zum Glück zeigt der Regisseur auch andere Facetten". Die Rezensentin hält sich aber auch mit Verbesserungsvorschlägen nicht zurück: Ein "Wortduell hätte man dennoch verknappen können", und völlig daneben sei "der kurze Auftritt einer Gruppe von Laiendarstellern mit Mozart-Perücken, die mit ihrer Sächselei für Lachen sorgen. Ein Intendant sollte über andere Mittel der Verfremdung verfügen, ohne derartig bloßstellen zu müssen." Zum Schluss müsse auch noch jeder "mal seinen Kopf rausstrecken und einen Monolog halten. Diese Geschwätzigkeit langweilt dann nach fünf Stunden doch." Indes: "Trotz einiger Schwächen ist der Zauberberg vielleicht Hartmanns bisher stärkste Leipziger Inszenierung."

Zu Beginn spreche "ein Wir genannter Erzähler mit schwarzer Fahne in der Hand Manns Roman-Vorsatz", berichtet Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (7.11.2010). "Und der sprachlich wie körperlich wunderbar gelenkige Manolo Bertling gibt mit seiner Gestaltung dieser Figur den Ton einer Inszenierung vor, die sich genau an Manns Roman hält und dabei dessen Sprache zu ihrem sinnlichen und sinnreichen Klangrecht gelangen lässt, – auch wenn gelegentlich durchaus linde Ironie eingesetzt wird. In fünf manchmal langwierigen, oft aber fantasievoll und fantastisch, ernsthaft und grotesk gestalteten Szenen, die es dem des Romans nicht kundigen Zuschauer allerdings nicht immer leicht machen." Hans Castorp werde darin von Guido Lambrecht "als lieb-lässig beweglicher, staunender Mann gegeben, der Manns Charakterisierung nahe kommt, Castorp sei 'doch wohl mittelmäßig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn'".

Eine "lustvolle Kletterpartie durchs Wort- und Gedankengebirge" hat Joachim Lange gesehen, wie er in der taz (9.11.2010) schreibt. Beim Kochduell zwischen Naphta und Settembrini werde dabei selbst der anspruchsvolle philosophische Diskurs zum puren szenischen Vergnügen. Langes Fazit: "Ein gelungener Abend – nicht nur für Thomas-Mann-Fans! Und wieder ein Stück Legitimation für dieses Theater in schwierigen Zeiten."

Der Leipziger "Zauberberg" sei "alles andere als ein alpinistischer Spaziergang", schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (8.11.2010), "sondern ein – manchmal überfrachteter, aber in sich konsistenter – Ritt durch die große Krankheit im Kleinen. Und bleibt dabei erstaunlich nah an Thomas Mann." Auch sie hat das Kochduell als "Highlight" empfunden und lobt starke Bilder wie den Kriegssuppe löffelnden Hans Castorp. Lemke fasst zusammen: "Es ist vielleicht nicht die beste Inszenierung Sebastian Hartmanns, aber sie ist wohl die entschiedenste, die er in Leipzig gezeigt hat."

Beeindruckt zeigt sich auch Till Briegleb in seinem großen Leipzig-Artikel in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2010). Statt "die näselnd-ironische Nebensatz-Sinfonie über Geist und Verfall, die Thomas Mann auf 1000 Seiten klingen lässt, ins peinliche Verhör der Kalauer und Nacktringkämpfe zu nehmen, gewährt Hartmann der fünfstündigen Inszenierung einen roten Faden Konfliktgeschichte". Hans Castorp entwickle sich "nicht in Gags, sondern in Dialogen, und Auseinandersetzung prägt auch die anderen Figuren. Dabei entstehen zwar durchweg Charaktere, die sich von den Mann'schen Wesenszügen der Verschämtheit und des verbalen Auftrumpfens deutlich unterscheiden. Als Nacherzählung im Sinne moderner Stadtneurotiker funktioniert diese Adaption aber erstaunlich homogen, abwechslungsreich und unbemüht."

Auch die "übermütigen Momente" sind "von einer Traurigkeit (grundiert), die man durchaus ehrlich nennen kann", merkt Andreas Hillger an (Mitteldeutsche Zeitung, 12.11.2010): "Was er hier präsentiert, ist die eigene Ratlosigkeit, die Ansteckung an einer hoch infektiösen Zeit, gegen die es kein Heilmittel zu geben scheint." So werde das Theater selbst zum Zauberberg, "(...) ein Wartesaal des Lebens, in dem Stillstand eskaliert". Man müsse David Finchers Film "Fight Club" nicht kennen, "um die mutwillige Schlägerei zwischen Castorp und Ziemßen als Sehnsucht nach echtem Schmerz zu verstehen". Und man müsse "auch Steve Binettis zersägte Gitarrenversion von Wilhelm Müllers "Der Lindenbaum" nicht identifizieren, um den romantischen Duktus dieser großen Sehnsuchts-Simulation zu spüren". Am Ende begrabe Hartmann sein Ensemble in Schaumstoff-Platten, und "aus dieser "Gescheiterten Hoffnung" à la Caspar David Friedrich wühlen sich die Überlebenden hervor - und beschwören starren Blicks jene Stahlgewitter, für die Frank Castorf vor ein paar Jahren noch Prügel erntete. Aber Mann ist eben Mann - auch wenn er diesmal nach Jünger klingt!"

 

 

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