Wir sind Faust

von Jan Oberländer

Senftenberg, 28. September 2007. Am Ende ist’s ein Musical. Die himmlischen Heerscharen und die Teufel im plüschig roten Kostüm stehen auf der Bühne einer alten "Eisenhalle" im Industriegebiet nahe dem ehemaligen Braunkohletagebau und schwenken die Arme. Die Live-Band greift kräftig in die Saiten und singt: "Wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Und Sewan Latchinian, Intendant und Regisseur dieses "Fäuste"-Abends, spricht die berühmte Schluss-Sentenz vom Ewig-Weiblichen ins Mikrofon. Das geht fast unter, weil alle mit Armeschwenken und "Aa-haa-aa"-Singen beschäftigt sind. Freude, Taumel.

Theater für alle 

Das ist der Party-Höhepunkt dieser Theaternacht an der Neuen Bühne Senftenberg mit Goethes "Faust": der erste Teil auf der Bühne, der zweite an vier Stationen in der Stadt. Anlass ist das mittlerweile vierte mit dem Theatermotto der alten Braunkohlestadt überschriebene "GlückAufFest" des Theater des Jahres 2005. Damals wurde das Haus auch für seine lokale Bedeutung geehrt, für seine identitätsstiftende Rolle als kultureller Kristallisationspunkt.

Dass das noch immer gilt, zeigt schon das aktuelle Spielzeitheft. Darin sind alle, wirklich alle Theatermitarbeiter abgebildet. Denn jeder einzelne zählt – dieses Theater ist für alle da. Übertragen auf den Geist des aufwändigen Spektakels, das Latchinian gemeinsam mit dem Ensemble und dem Chefausstatter Tobias Wartenberg und den Technikern und den Garderobieren und den Ein-Euro-Jobbern und dem Theater-Jugendclub und dem Seniorenclub und der Musicalgruppe und dem "Dolce-Vita-Bewegungsstudio Pia Neuß" und den Freundeskreismitgliedern veranstaltet, ganz abgesehen einmal von der ellenlangen Liste des Sponsoren- und Förderernetzwerks – übertragen also auf den Geist dieser enormen Gemeinschaftsanstrengung heißt die Botschaft: Wir sind Faust.

Habe nun, grarrghchch … 

Und Faust, das sind viele. Insgesamt vier verschiedene Fäuste treten auf, und ebenso viele Mephistos. Der erste Faust findet auf der Theaterbühne statt, die kurzerhand zum Zuschauerraum umfunktioniert wurde. Das Publikum blickt von zwei Seiten auf das boxringgroße, quadratische Spielpodest – und auf den gegenüberliegenden Zuschauerraum. Faust ist eben einer von uns: "Habe nun, grarrrghchch, Philosophie …" grummelt Mirko Zschocke mit fausttraditionell strähnigem Zauselhaar und sympathisch teddybärigem Aufblitzgrinsen aus der ersten Reihe. Später steigen einzelne Zuschauer als Zecher in die Auerbach-Szene nieder, stehen auf und singen Choräle oder werden beim Weg auf die andere Podiumsseite – Entschuldigung, Entschuldigung, danke schön – von Jungfaust Lutz Aikele angegangen: "Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen …?"

Zweieinhalb Stunden dauert es, bis Gretchen (Anna Hopperdietz) auf dem Drehhocker im Lichtkegel steht und den Arm in Richtung Rettung streckt. Zwischendurch ist’s bisweilen unterhaltsam, überzeugt Till Demuth als schmierig-schlängeliger Jungmephisto, und es darf geschmunzelt werden, wenn etwa der junge Faust und das naive Gretchen-Mädchen unter der Bettdecke herumwühlen und nach ihrem "Versprich mir, Heinrich!" zuerst sein "Was ich kann!" und dann lange bloß noch lautes Atmen zu hören ist. Für Religionsfragen ist später noch Zeit.

Shuttlebusse und Tätä 

Der zweite Tragödienteil beginnt bodenständig mit Grillbuffet und Schulkinderchor im Festzelt. Mirko Warnatz gibt als Pionierkäppi tragende Reiseleiterinnen-Transe Manto die Richtung vor. Das Publikum wird in Shuttlebusse gesetzt, und los geht es durch die Straßen und Gassen der 29.000-Einwohner-Gemeinde, vorbei an biertrinkenden Jugendlichen in "Gegen Nazis"-T-Shirts.

Erster Halt: Sparkasse. Hier gewinnt die Inszenierung an Witz, weil sie sinnig mit dem Spielort spielt. Die Bank als "Zentrum der Macht": Im Foyer stehen Bierbänke vor einem Vorstandsvorsitzendenbühnenpult. Der Kaiser (Heinz Klevenow) trägt wie seine Mächtigen Managergrau, der auf Fausts Auftritt als Geldkönig Plutus reduzierte Mummenschanz ist eine zünftige Karnevalsveranstaltung mit Kamellen und Tätä (der Sparkassendirektor ist Düsseldorfer) – wer mag, macht sich ein Bier auf. Irgendwann ist das Papiergeld erfunden, und eigens gedruckte Noten regnen von der Decke, dem Euro nachempfunden, aber mit dem Theatergebäude drauf.

Weiß bekittelte Geister 

Dann hebt Manto wieder den Reiseleiterinnenregenschirm – "hat jeder seinen Nebenmann?" – und weiter geht’s durch die Lausitzer Nacht. Der zweite Akt in der Fachhochschule ist der am stimmigsten und originellsten mit dem Ort in Verbindung gesetzte: Durchs runde Treppenhaus der Lehranstalt eilen weiß bekittelte Wissenschafts-Geister, und im Hörsaal (eigentlich für Elektrotechnik/Informatik/Maschinenbau) steht Christian Mark als Professor Wagner hinterm Pult und lässt mit Mephistos Hilfe den Homunculus entstehen (Inga Wolff als rolläugiger Theaterglatzkopf in einem wunderbaren Labor-Plastik-Kasten) und doziert später als pullundriger Philologe im Schnelldurchlauf über Goethes griechisches Mythenkarussell. Eine wunderbar stimmige Meta-Ebene – leider die einzige des ganzen Abends.

Wohin streben wir? Hmm … weiß nicht! 

Nächste Stationen: das Senftenberger Renaissance-Schlösschen und die Eisenhalle. Zwischendurch hängt manchmal die Inszenierung durch, manchmal der Zuschauer. Gute neun Stunden ist man unterwegs. Ein Hoch auf das Catering: griechischer Wein und Oliven zum Helena-Akt, Tee und Glühwein zum Finale.

Was bleibt? Statt "Wir sind Faust" könnte auch als Motto gelten: "Wir Senftenberger stemmen diese Großveranstaltung und haben eine Menge Spaß dabei." Aber warum "Faust", beide Teile, in großer Texttreue und ohne durchschlagende Interpretation? Die Frage, was Goethes Streber-und-Dränger-Drama eigentlich mit uns tun hat, außer dass wir entweder an seiner Aufführung beteiligt sind oder ihr als Zuschauer beiwohnen, bleibt offen. Faust - wer ist das eigentlich?

Andererseits steht auf den roten Banderolen, die die Programmhefte des Abends zusammenhalten, ein Ausruf des Faust-Sohns Euphorion: "Dorthin! Ich muss! Ich muss! Gönnt mir den Flug." Den Senftenbergern sei er gegönnt.

 

Faust I und II
von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung: Tobias Wartenberg, Musik: Wallahalla.
Mit: Lutz Aikele (2. Faust u.a.), Ulrich Blöcher, Sybille Böversen (3. Mephisto u.a.), Till Demuth (2. Mephisto u.a.), Bernd Färber, Anna Hopperdietz (Gretchen u.a.) Heinz Klevenow (1. Mephisto u.a.), Roland Kurzweg (3. Faust u.a.), Christian Mark (Wagner u.a.), Katharina Rivilis, Wolfgang Schmitz, Catharina Struwe (Marte u.a.), Mirko Warnatz, Inga Wolff, Mirko Zschocke (1. Faust u.a.), Jugendclub, Seniorentheatergruppe, Musicalgruppe, Kollegen der Technik.

www.theater-senftenberg.de

Kritikenrundschau 

In der Lausitzer Rundschau (1.10.2007) weist Hartmut Krug darauf hin, dass erst vor sechs Jahren beide Teile des "Faust" zum Publikumserfolg in Senftenberg wurden. Das, prophezeit er, werde diesmal nicht anders sein. Obwohl nicht nur "für die Senftenberger, sondern auch mit den Senftenbergern Theater gespielt" werde, geriete die Aufführung nie "in die Nähe der peinlichen Bravheit". Dass Regisseur Latchinian keine Interpretation des Stoffes bietet, umschreibt Krug so: "Der Regisseur … erzählt mit klaren Theaterzeichen und sehr direktem Spiel einfach die Geschichte. Hier wirkt kein Kunst-Pathos, keine Oberlehrer werden mit ausgestellten Zitaten in ihrem Bildungs- und Kenntnisstolz beglückt ...".

Wie uns auch, hat Krug besonders der zweite Akt von "Faust 2" gefallen, den findet er "toll", "genial" sogar die klassische Walpurgisnacht, die als Vortrag am Overhead-Projektor dargeboten wird. Zuletzt schränkt der Berichterstatter dann aber ein: "Nicht jede Szene dieser viele Stile und Formen einsetzenden Inszenierung überzeugt gleichermaßen. Zuweilen wirkt der aus dem Überlebenskampf eines kleinen Stadttheaters geborene Zwang zum Event doch zu übermächtig und versimpelt einige Passagen." Insgesamt begeistere dieses "Faust-Spektakel" inszenatorisch und vor allem schauspielerisch dennoch "weitgehend". 

 

Kommentare  
zum Faust-Marathon in Senftenberg
Die musikalische Untermalung durch das (den ganzen Abend live begleitende) Trio „Wallahalla“ ist so exquisit, dass sie einen eigenen würdigenden Absatz verdient hat. Schmachtende Schlager! Hochtönende Musical-Hymnen! Pointiert performte Geige-Bass-Wettrennen und hinreißende Experimente mit Reagenzglas-Flöten und Gummihandschuh-Gitarren! Ein Erlebnis. Man wünscht diesen vielseitigen Musikern noch viele Gelegenheiten, ihre Kunst zu präsentieren.
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