Den Tanzenden fällt der Himmel auf den Kopf

von Tobias Prüwer

Leipzig, 8. November 2010. "Avantgarde setzt auf ein Publikum, das sich zu seiner Individualität bekennt. Sie liebt den Zuschauer, der sich anhand des Gesehenen und Gehörten selbst befragt, sein Empfinden, sein Leben, seinen Erinnerungs- und Bilderschatz durchstöbert." Mit diesen Worten begrüßte die erste euro-scene 1991 ihre Besucher. Als Nachwende-Neugründung aus der früheren Leipziger Schauspielwerkstatt hervorgegangen, hieß das heutige Festival zeitgenössischen europäischen Theaters im Untertitel ursprünglich Festival europäischer Avantgarde.

Die nun zwanzigste Ausgabe des Festivals brachte unter dem Motto "Spurensuche" zwölf Gastspiele aus zehn Ländern nach Leipzig. Ein konzeptioneller Nenner der Stückeauswahl ist nicht zu erkennen, ist aber auch nicht der Anspruch. Die euro-scene gestaltete sich schon früher als theatrales Potpourri aus Inszenierungen, die der Festival-Direktorin Ann-Elisabeth Wolff unterkamen und ihr zusagten. So ist das Festival weniger die Leistungsschau, die es sich mitunter auf die Fahnen schreibt, sondern bietet dem hiesigen Publikum die Chance, manch Kleinod zu sehen oder eine gefeierte Produktion einmal in der Region besuchen zu können.

Im Jubiläumsjahr stand Vielversprechendes auf dem Programm, das mit Alain Platels Out of context - for Pina eröffnet wurde: Eine Deutschlandpremiere von Romeo Castellucci, das italienische Unikum Pippo Delbono und Ivo Dimchev, der sich als kompromissloser Solo-Perfomer einen Namen gemacht hat. Zudem hat die euro-scene erstmalig eine Eigenproduktion gestemmt. Und wann sieht man schon einmal einen Ionesco in kosovarischer Interpretation? Von diesen fünf Inszenierungen soll ausführlicher die Rede sein.

Verrätselt oder brav symbolisch?

Konzeptionell interessant, aber kurz und distanziert fällt "Storia contemporanea dell'Africa. Vol. III" aus - nach nicht einmal 15 Minuten findet der dritte Teil von Romeo Castelluccis "Zeitgenössische Geschichte von Afrika" sein Ende.

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Storia dell’Africa © Paolo Rapalino, Turin

Wortlos lässt sich der italienische Performer Castellucci von seinen Kindern in eine Art schwarzen Sarkopharg sperren, der die Form einer menschlichen Figur besitzt. Dieser wird hernach aufgerichtet und an eine weiße Wand gelehnt, wo die über dem Kopf erhobenen Arme in der Mitte eines gleißenden Lichtkegels ruhen.

Die Skulptur gleicht solcherart einem Verzweifelten, der betend oder bittend kniet und vom Licht, der Sonne oder von welch höherer Macht auch immer Errettung erhofft. Aus ihrem Mund quillt weißer Schaum, der sich auf dem Boden allmählich zum Berg türmt. Als dieser die Hälfte der Distanz bis zum Kopf erreicht, wird das Publikum zum Verlassen der verrätselten wie brav symbolischen Inszenierung aufgefordert.

Hatte man dieser ohnehin nur peripher, also seitlich vom Rand eines Ganges aus beiwohnen können, so trägt der abrupte Schluss zur Verständlichkeit erst recht nicht bei. Kombiniert man den Kontinentnamen aus dem Titel mit der farblichen Ebene und der Skulpturengeste, drängt sich "Afrika leidet" als erste Interpretation auf. Oder ist diese Mimesis eines weißen Mannes – in der Zuschauer- und Performerposition – nicht selbst noch Ausdruck eines kolonialistischen Denkmusters?

Manieriertes Komödchen, Virtuose tour de force

Bieder, brav, pausbäckig kam "Çifti Martin" ("Das Paar Martin", Deutschlandpremiere) in der Regie von Bekim Lumi für das Nationaltheater Kosovo daher. Eugène Ionescos komischer Stoff wird in eine süßliche Inszenierung gegossen, der Text in mehreren Schleifen verschiedentlich durchgespielt. Von einem Akkordeon begleitet, gerät diese Mixtur aus Sprechtheater und Singsang zum bunten Reigen aus Stummfilmspiel und Revue, Slapstick und klimpernden Wimpern – meist verpuffen die Gags im Altbekannten und Abgeschmackten. Kurzzeitig gelingen intensive Momente, in denen das humoreske Treiben akustisch von Bombenhagel und Marschschritten gewalttätig unterbrochen wurde: Dem Motiv des Sich-wieder-Findens wird auf einer anderen Ebene Sinn verliehen. Rasch jedoch fällt die Tiefen-Spannung wieder ins oberflächliche, melodramatisch Manierierte ab.

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Som Faves von und mit Ivo Dimchev
© Marian Ivanov, Brüssel

Gar nicht harmlos gekünstelt dagegen "Som faves" ("Einige Favoriten"). Der aus Sofia stammende Performer Ivo Dimchev reiht rund zehn kleine Einzelszenen zum großartigen Spiel um das Verhältnis von Künstler und Publikum aneinander. Zwischen absurden Posen und Gesten des Schmerzes bespielt der Solist mit wechselnden Perücken, Keyboard und Porzellankatze virtuos die Zuschauenden und erschafft eine eindringliche Stunde. Als er diese tour de force mit einer kleinen Selbstverletzung – er bringt sich Cuts an der Nasenwurzel und der rechten Schläfe bei – beendet, verdeutlicht Dimchev, wie ernst er es mit der Kunst meint, die er zuvor als Zeitverschwendung bezeichnet hatte.

Animal within

Um Instinkte, Animalisches und den in die Natur geworfenen Menschen kreist die Uraufführung "Prophezeiung 20/11". Diese Eigenproduktion der euro-scene (Regie: der Leipziger Philipp J. Neumann) nahm die angeblichen Orakeleien eines indischen Mönches zum Ausgangspunkt, um nach der (Un-)Menschlichkeit zu fragen. Wenn per Gottesurteil der Mensch alle Vernunft verliere und dem Tier gleichgestellt werde, wie ist so eine Welt vorstellbar? So philosophisch schräg schon dieser Fragehorizont ist – kann man noch vom Menschen sprechen, wenn dem animal rationale eben die Rationalität abgeht, und ist er ein zoon politikon, wenn er zum Gemeinschaftsleben nicht mehr im Stande ist? –, so offenbart auch die dramaturgische Umsetzung Schwächen.

Zwischen zwei sich gegenübergestellten Zuschauerrängen entspinnt sich ein bewegliches, zuckendes Knäuel aus vier Tanzenden. In verrenkten Leibesübungen vermessen sie den Bühnenraum, stecken ihre Claims ab. Die heruntergelassene Decke spannt sich, kurz wird es schwarz und nachdem so der Reset-Button gedrückt wird, beginnt die Versuchsordnung von vorn. Wie ein Engel der Geschichte kniet ein Knabe am Rande und kehrt dieser den Rücken zu. Schließlich reißt er sich los, der Himmel fällt den Tanzenden auf den Kopf, schäfchenwolkig gestaltet sich schlussendlich die Versöhnung mit der Natur. Die Inszenierung wirft den Zuschauer auf sich selbst zurück, wirkt aber trotz ihrer Kürze langatmig. Sperrig und doch intuitiv, abstrakt und zum Teil anmutig, gibt dieser meditative Abend zu denken – allerdings wenig über irgendein Verhältnis zur Natur.

Brachial-poetische Sozialkritik

Der Mensch und die Gesellschaft ist das wiederkehrende Thema bei Pippo Delbono. Für "La menzogna" ("Die Lüge", Deutschlandpremiere) greift der italienische Regisseur und Schauspieler Pippo Delbono auf sein Erfolgsrezept zurück: Seine Darsteller sind neben ausgebildeten Schauspielern Vaganten, einstige Obdachlose und Psychiatrie-Patienten – also Menschen, welche die so genannte Mitte der Gesellschaft nicht unter sich wähnt. Ein Feuerunglück mit sieben Toten in der Turiner ThyssenKrupp-Fabrik 2007 dient als Aufhänger für diesen gesellschaftskritischen Rundumschlag. Darüber hinaus trieb ihn ein rassistischer Mord in Italien in seiner wütenden Inszenierung an, erklärt Delbono zu Beginn.

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Die Lüge © Jean Louis Fernandez, Modena

Wie ein Conferencier führt er durch diese Mischung aus Revue und Freakshow, Tanztheater und Monologen, Burleske und Operette. Überfrachtet und dann wieder karg gibt sich diese lose Szenenfolge: An eine kollektive Peepshow schließt sich zerstörerische Raserei, ein junger Mann mit Down-Syndrom führt nackt einen selbstverliebten Tanz auf, dämonisches Geheul zerreißt die Stille im Raum, bevor sich ausgemergelte Gestalten in Schmerzen winden. Delbono bringt die Gegensätze auf die Bühne, ohne ihre Aufhebung anzustreben. Dabei hat er immer auch das Publikum im Blick, spricht es direkt an oder markiert es mittels Taschenlampe.

Der ganze Komplex aus Voyeurismus und Ausbeutung, den man auch System nennen könnte, findet sich vor den Zuschauern abgeschritten. Und diese sind, so stellen die die Ränge fixierenden Schauspieler klar, mitschuldig – nicht nur, weil sie dem Spektakel beiwohnen. Delbono umgeht geschickt die verkürzte Kapitalismuskritik gegen "die da oben". Die nicht immer schönen Leiber auf der Bühne agieren auf ihre Weise stets sinnlich und mit eigenem Körpergefühl. Kein Entkommen: Das berührende Crossover kann eindringlicher nicht sein und erfüllt im besten Sinn jene Bestimmung, welche die euro-scene einst für die Avantgarde ausgab: "Sie liebt den Zuschauer, der sich anhand des Gesehenen und Gehörten selbst befragt".


Storia contemporanea dell'Africa. Vol. III
(Zeitgenössische Geschichte von Afrika. Teil III)
Konzeption und Lichtdesign: Romeo Castellucci, Bühne: Istvan Zimmermann, Giovanna Amoroso.
Mit: Agata Castellucci, Cosma Castellucci, Eva Castellucci, Teodora Castellucci, Demetrio Castellucci, Romeo Castellucci, Sebastiano Castellucci.

Çifti Martin
(Das Paar Martin)
von Eugène Ionesco
Konzeption und Inszenierung: Bekim Lumi, Choreografie: Sinan Kajtazi, Bühnenbild: Mentor Berisha, Kostüme: Samka Ferri, Lichtdesign: Asllan Hyseni.
Mit: Gresa Pallaska, Astrit Kabashi, Akkordeonspieler: Agon Xharra.

Som faves
(Einige Favoriten)
Konzept, Text, Musik, Ausstattung und Darsteller: Ivo Dimchev.

Prophezeiung 20/11
Konzept und Inszenierung: Philipp J. Neumann, Choreografie: Steffi Sembdner, Bewegte Objekte: Hagen Tilp.
Mit: Antoinette Helbing, Lara Russo, Andrea Schiefer, Alessio Castellacci, Tim Mettke.

La menzogna
(Die Lüge)
Konzeption, Text und Inszenierung: Pippo Delbono, Bühne: Pippo Delbono, Claude Santerre
Kostüme: Antonella Cannarozzi, Musikcollage: Angelo Colonna, Lichtdesign: Robert John Resteghini.
Mit: Dolly Albertin, Raffaella Banchelli, Antonella De Sarno, Lucia Della Ferrera, Ilaria Distante, Julia Morawietz, Grazia Spinella, Gianluca Ballarè, Bobò, Pippo Delbono, Claudio Gasparotto, Gustavo Giacosa, Simone Goggiano, Mario Intruglio, Nelson Lariccia,Gianni Parenti, Mr. Puma, Pepe Robledo.

www.euro-scene.de

 

Mehr zu den Performern und Gruppen, die beim Festival euro-scene gastierten: Ivo Dimchev war im Juni 2010 auch beim Festival ImPulsTanz zu sehen. Und Romeo Castellucci eröffnete mit seiner Dante-Bearbeitung Inferno im Sommer 2008 das Festival d'Avignon im Ehrenhof des Papstpalastes. Der zweite Teil Purgatorio lief dito im Sommer 2008 in Avignon.

 

 

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