Grundlagenforschung

von Michael Laages

Kiel, 9. November 2010. Sonderbar – ohne dass es auch nur im mindesten darum ginge, erzählt die Eröffnung dieses ungewöhnlichen Festivals gerade durch seine Internationalität vom unermesslichen Reichtum speziell der deutschen Theaterlandschaft. Denn da tummeln sich nun im Kieler Schauspielhaus Gäste aus Israel und Kuba, Polen und Schottland, Finnland, Russland und Armenien, Frankreich, Chile und der Schweiz; und sie alle arbeiten so ganz anders als hierzulande überwiegend üblich – sie sind mit kleinem Gepäck, das heißt: allein unterwegs. Ihr Theater ist das der Solisten.

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"The Event" mit David Calvitto © English Theatre Berlin

Künstler aus all diesen Ländern treten bis zum kommenden Sonntag jeweils allein mit sich und dem eigenen Spiel auf Kieler Bühnen bei "Thespis" an, dem Internationalen Monodrama Festival, das zum inzwischen 7. Mal seit 1999 in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt stattfindet. Und sie alle tun das natürlich nicht nur deshalb, weil das Solo auf der Bühne prinzipiell eine so tolle Herausforderung wäre – sondern auch, weil es ihnen in den jeweiligen Heimatländern oft nur so überhaupt möglich ist, Theater zu spielen. In – zum Beispiel – Südamerika bestehen Theaterspielpläne in großen Städten zu bald 50 Prozent aus Aufführung mit der kleinstmöglichen Besetzung. Deutschland, das Land der festen Ensembles in Stadt- und Staatstheatern, muss Wunderland pur sein für viele der Gäste in Kiel.

Im Rest der Welt herrschen weithin fundamental verschiedene Verhältnisse im Gegenüber von Künstler, Kunst und Publikum. Und wo mal ein deutscher Theaterspielplan auf das Monodrama setzt, ist das die unterschiedlich motivierte Ausnahme. Oft ist das Solo ein besonderes Feature für ein Ensemblemitglied; wie in Kiel für Yvonne Rupprecht, die – was sonst – "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun spielt. Echte und obendrein auch noch starke Solo-Stücke (wie "Leben bis Männer", der Fußballtrainermonolog von Thomas Brussig) sind hierzulande prinzipiell rar und oft eine Notlösung im Spielplan.

Was macht denn der Darsteller hier?

"The Event", der Text von John Clancy in der Interpretation des New Yorker Schauspielers, Autors, Regisseurs und Festivalmachers David Calvitto, ist das blanke Gegenteil. Der Autor Clancy machte sich einen Namen mit "Fatboy", einer zeitgenössisch-amerikanischen Bearbeitung von Alfred Jarrys "König Ubu"; gemeinsam mit Calvitto gründete er 1997 das New Yorker "Fringe"-Festival, einen kleinen Bruder des Theatertreffens in Edinburgh, wo "The Event" zuletzt zu sehen war. Clancy und Calvitto geben in 60 Minuten eine abenteuerliche Nachhilfestunde in Theater-Erkenntnis: Was passiert eigentlich in dieser seit der Antike jeden Abend neuen Wunderkiste?

Was tut der Darsteller, wenn er die Bühne betritt für "The Event", für das Ereignis, das das Theater ist? In welchem Verhältnis steht er zum Text, zu den Worten, die er spricht, zu den Gedanken, die sein Text transportiert oder heraufbeschwört? Was tut er konkret? Was abstrakt? Ist er wirklich er, selbst wenn er nur lächelt? Was wird aus seiner eigenen Idee, zum Beispiel einer Handbewegung, wenn sie die Zustimmung des Regisseurs gefunden hat und nun jeden Abend wiederholt wird? Kopiert er jetzt nur noch sich selbst? Was macht das mit ihm? Wo bleibt das eigene Ich? Gibt's das überhaupt? Warum verändert sich alles im Raum, jeder Gedanke, jedes Gefühl, bloß weil der Haustechniker einen Knopf drückt und einen Schalter umlegt: Licht ein, Licht aus? Und was soll der Stuhl hier – was tut das Requisit?

Wie erholsam ist Theaterschlaf?

Fragen über Fragen, und noch lange kein Ende – wer sind wir, die "strangers", die Fremden in Clancys Text? Warum sind wir da? Was wollen wir vom und im Theater? Unterhalten werden, gut, ein bisschen Mitdenken, auch gut – aber wie erholsam ist Theaterschlaf? Und was hätten wir sonst noch tun können an diesem Abend? Spezialfrage zwischendrin: Warum glauben wir eigentlich, was uns x-beliebige Profi-Zuschauer, meist übellaunige, durch Überfütterung gelangweilte Damen und Herren, über das Theater erzählen am Tag danach, in der Zeitung, im Radio, im Internet?

Alles Theorie? Nein. Alles Praxis bei Clancy und Calvitto – in einem Gipfelsturm der intelligenten Selbstreflexion hinterfragen beide jede Sekunde, jeden Augen-Blick im Theaterprozess. Calvitto ist in diesem Nachdenken des Theaters über sich selber der gefährliche Clown, Gesten und Bewegungen kann er ein- und ausschalten wie der Techniker das Licht – nichts ist ihm zu glauben, aber alles ist wahr. "The Event" ist zugleich Einführungsveranstaltung und Oberseminar für jeden Studierenden der Theaterkünste; und Theater-Gebrauchsanweisung für Herrn und Frau Jedermann, die entgegen jeder Warnung ein Ticket an der Kasse lösen wollen.

Schön wär's übrigens, wenn sich – durch das Gastspiel animiert – ein gewiefter Übersetzer, ein Nach-Dichter fände für "The Event". "Thespis", das aus privater Initiative gewachsene Festival, inzwischen unterstützt von Bund, Stadt und Land, von Mäzenen wie vom Internationalen Theaterinstitut (ITI), hatte jedenfalls eine grandiose Eröffnung; das Theatertreffen ermöglicht die Begegnung mit anderen Theatersprachen, anderer Theaterästhetik jenseits des Ensemble-Alltags. Nach weiteren zwölf Produktionen aus allen Gegenden der Welt geht "Thespis" am Sonntag mit der Verleihung des Festival-Preises zu Ende.

 

The Event
von John Clancy
Regie: John Clancy.
Mit: David Calvitto.

www.thespisfestival.de

 

Kritikenrundschau

"Einen witzig geistreichen, heftig beklatschten" Auftakt des 7. Monodrama Festivals Thespis hat Ruth Bender (Kieler Nachrichten, 11.11.2010) erlebt. Eigentlich sei das ganz einfach, "was Autor und Regisseur John Clancy da anzettelt: ein Monolog, der Prinzipien und Mechanismen des Theaters und unserer Wahrnehmung so scheinbar naiv wie intelligent auseinander nimmt". Die Stimme könne dabei auch aus dem Off kommen, "so radikal trennt sie Calvitto vom Körper, so distanziert analysiert er den Mann auf der Bühne". Nie könne der Zuschauer gewiss sein, was hier läuft. "Sind wir hier Beobachter oder Teil der Illusion?", fragt Bender, "und gilt das womöglich nicht nur im Theater sondern auch im Leben mit seinen virtuellen und medialen Spielwiesen? Calvitto agiert auf allen Ebenen gleichzeitig, ist ausgefuchster Provokateur, Manipulator, Beschwörer - lakonisch, komisch, hintersinnig."

Zuvor habe Moderator Hans-Christian Hoth, so berichtet Bender außerdem, "launig durch die offizielle Eröffnung des Monodrama Festivals geführt (...) und Generalintendant Daniel Karasek das 'womöglich trendigste Theaterfest Deutschlands' angesagt." Und "während sich Stadtpräsidentin Cathy Kietzer wünschte, Kiel möge noch lange die Hauptstadt des Monodramas bleiben, versicherte Kulturminister Ekkehard Klug immerhin, dass Thespis auch weiterhin auf die finanzielle Unterstützung des Landes zählen dürfe."

 

Kommentare  
The Event in Kiel: auch in Berlin
1. super, dass hier ein so profunder text vom nordrand der theaterrepublik erscheint.
2. "the event" ist glücklicherweise auch vom 16.-19. november in berlin zu sehen: english theatre berlin http://www.etberlin.de/
3. enorm, dass in kiel ein so interessantes und originelles festival gestemmt werden kann. konzeptionell gute festivals, die nicht immer nur die immmergleichen leuchttürme vermarkten, sähe man gern auch anderswo.
4. dass deutschland immer noch ein theaterparadies ist (siehe einleitung der kritik), sollte uns verantwortungs- und selbstbewusst mit diesem gut umgehen lassen. der derzeitige kahlschlag (nach dem motto: wo viel ist, stört ja ein bisschen kürzung nicht weiter) wird ganz schnell zur vertreibung aus dem paradies führen. und ein "paradise regained" gibt es nur bei milton, in der geschichte gab es das noch nie.
The Event in Kiel: geradezu beispielhaft
Ja, das muß, was ich so höre, ein wirklich guter, geradezu beispielhafter Abend
sein in Sachen "praktischer Theaterphänomenologie" !
Aber so ist es bei mir und "Thespis", (man ahnt es schon an der gut aufgemachten
Festivalsseite) das sich offenbar von Mal zu Mal immer mehr mausert, es fällt für mich aus ganz unterschiedlichen Gründen irgendwie allerhöchstens ein Stück ab: mal ist
es mein Schichtplan, mal bin ich krank, mal läuft anderswo etwas, das ich vorziehe,
mal läuft das, was mich vom Programm her anspricht, in einer Sprache, die ich nicht
verstehe (und ohne Untertitelung), mitunter stößt mich auch eher ab, wenn ich bei
einer Veranstaltung den Eindruck habe, daß weniger vor gemischtem Publikum gespielt wird als vor einer Art verschworener Theaterfamilie internationaler Theater-
briefwechsler bzw. "Karrierenetzwerker" ... und ich wende mich spornstreichs von
so einem Theaterabend ab: Kartenprobleme habe ich da bislang noch nicht erlebt,
aber das mag sich mit der steigenden Popularität dieses Festivals jetzt auch ändern.
Hat mir sehr gut gefallen, wie der Nachtkritiker hier auf den Stellenwert des Mono-
dramas in anderen Ländern zu sprechen gekommen ist !
In der Vergangenheit des Festivals hat es zB. auch weißrussische Abende gegeben, die in nachfolgenden Gesprächen immer auch ein lebendiges
Bild von den Problemen, in dieser Diktatur Theater zu machen, zu geben wußten,
so daß eine Empfehlung bei "Thespis" allemal ist, auch die diversen Nachgespräche
zu Stücken und Diskussionsrunden zu nutzen (gerade, wenn man dem noch etwas
weiter nachspüren will, was Herr Laages hier dankenswerterweise aufwirft), selbst wenn man teilweise einen Abend nicht besucht oder nur halb verstanden haben
sollte (oder auch: gerade dann !).

Wenn ich darf, möchte ich noch auf eine andere Kieler Veranstaltung zum in Kiel
gebürtigen Schauspieler Ernst Busch hinweisen (die Stadt hat gerade im September
die Benennung eines Platzes nach ihm beschlossen):
Am Freitag, dem 12.11. werden in der Kieler Nikolaikirche zwei Dokumentarfilme
zu Ernst Busch gezeigt (ab 18 Uhr).
Es gibt da eine Art "Ernst Busch"-Schwerpunkt, den ua. das Kieler Theatermuseum
gelegt hat, so daß es bis zum 5.12. zusätzlich auch noch die Möglchkeit gibt, im Kieler Kloster eine Ernst Busch gewidmete Ausstellung zu besuchen.
The Event in Kiel: Monodrama im Aufwind?
"The Event" hat dann auch die Jury überzeugt und den zweiten Platz
bei dem Festival belegt. Sieger sind Gabriela Muskala (Polen) mit
"Trip to Bueno Aires" und Tuuka Vasama (Finnland) mit "Ode to love".
In der heutigen KN würdigt Frau Bender in einem Rückblick noch einmal das gesamte Festival, das bei diesem 7. Mal offenbar (aus-
verkaufte Veranstaltungen !) einen regelrechten Durchbruch für
sich verbuchen konnte (so wird es jedenfalls nicht nur von Frau
Bender geschildert) und geht dabei vor allem auf die Leistungen
der Festivalsgründerin Jolanta Sutovicz ein.
Es bleibe zu hoffen, nächstes Jahr wieder ein "Thespis-Festival"
auf die Beine stellen zu können !
Ich hoffe für mich, das dann endlich einmal nicht an mir vorbei-
rauschen zu sehen bzw. hören.
Allerdings der Bgriff "trendy" von Frau Kietzer... und all diese
merkwürdigen Selbstfeiern einer "Hauptstadt des Monodramas" gebieten auch ein wenig, ein etwas unverständiges, gequältes Lächeln aufzusetzen.
Zynisch könnte immerhin sehr leicht gesagt werden, daß das alles wirklich ausgesprochen "trendy" ist, wenn sich urplötzlich herausstellt, daß großartiges Theater quasi auch unterm Dach möglich ist: ja, dem ist so: Wie irgendwann bei "Linzers Eck" for-
muliert: Theater wird sein, so oder so ! Raum ist in der kleinsten
Hütte, und Herr Klug hat schon weitere Mittel in Aussicht gestellt ?! Nun, dagegen ist nichts einzuwenden, aber "man" sollte dennoch darauf achten, was im Umfeld nicht nur "trendy", sondern allerhandfestester Trend und mehr ist: sonst verkommt so ein "Monodramenfestival" schnell zu einer Art Puffer oder gar Alibi-Feigenblatt (für den "Kulturkampf Nord") - davor sollten wir
uns hüten, vor diesem: Schaut, wie günstig Theater geht !
Denn das wäre ein verheerender Trend, wenn ein Abend bester Theaterphänomenologie durch das Land tourt, ansonsten Theater aber
garnicht mehr vorkommt !
"Monodramen" finden zudem in Berlin an einem Tag mehr statt als in Kiel bei einem gesamten Festival, Herr Laages schreibt von Ländern, wo das Monodrama aus Mangelgründen einen ganz anderen Stellenwert besitzt; ich denke, für junge Theaterwissenschaftler dürfte eine Sichtung der verschiedenen Quellen- und "Anwendungs-
bereiche" des Monodramas ein höchst interessantes Feld sein, auch was die Entdeckung sehr beeindruckender Künstlergeschichten an-
geht.
Ich sprach von "Anwendungsbereichen" des Monodramas, nicht unmotiviert: gerade in therapeutischen Einrichtungen wird immer wieder auf das Monodrama zurückgegriffen zB. auf "Süchtig" von Mark
Lundholm (mit dem Karl Maslo wohl schon beinahe ein Jahrzehnt quer durchs Land zieht ...: alleine das schon eine Geschichte !!) oder
-ich sah ja gerade die Schweriner Premiere- auf "Fressen, Lieben,
Kotzen" von Frau Gellrich, das sogenannte "Klassenzimmerstück" hat
mit "Klamms Krieg" geradezu einen Quantensprung an Wirkkraft und
Bedeutung vollzogen: im Werftparktheater in Kiel läuft das jetzt auch schon ein Jahrzehnt in etwa (dahinter verbergen sich unglaublich spannende Erfahrungen, von denen die "Klämmer" berichten können: Schule ist da wahrlich nicht gleich Schule ... und Lehrer verstehen einen Abend nicht immer besser als ihre Schüler: für mich war die letzte Vorstellung von "Klamms Krieg" am
Uraufführungsort, dem "Theater oben" im Dresdner Staatsschauspiel, Daniel Minetti gab den Klamm dort zum 297. Mal, eines der intensivsten Theatererlebnisse, seitdem ich regelmäßiger, im Schnitt dann wohl einmal die Woche, ins Theater gehe !!).
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