Melodram der Jetztseitigen

von Esther Boldt

Frankfurt/Main, 12. November 2010. Das Schlachtfeld Familie kreist. Es kreist um eine Leere, den schmerzhaft gähnenden Abgrund des Schweigens. Es ist ein ebenso anerkanntes wie wirksames dramatisches Instrument, um innerfamiliäre Katastrophengebiete zu markieren, dieses Schweigen, in das alle Rede fällt wie in eine Kluft, das Schrecken produziert und Monstren gebiert. So auch in dem neuen Stück von Nis-Momme Stockmann, "Die Ängstlichen und die Brutalen", das nun von Martin Kloepfer im Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde.

Vermutlich zitiert der Titel Ettore Scolas Film "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen", den Karin Beier zu Beginn dieses Jahres für die Bühne adaptierte, obgleich der Patriarch bei Stockmann just verstorben ist. Während sein gefeiertes Debüt Der Mann, der die Welt aß und auch Kein Schiff wird kommen um die Figurenkonstellation Vater-Sohn kreisten, sind nun zwei Söhne auf sich selbst zurück geworfen.

Gefaltete Hände, gepresstes Wutgebrüll
Die ungleichen, einander spürbar entfremdeten Brüder Eirik und Berg finden ihren Vater tot im Sessel. Kontrollfreak Eirik, der Ältere, sorgt sich primär darum, was die Leute denken könnten, und reißt die Kontrolle an sich – natürlich nicht ohne Berg unter die Nase zu reiben, dass er immer für sie beide denken müsse. Thomas Huber spielt Eirik als hochfahrenden Schnauzbartträger, der mit nervös tappendem Fuß und gepresstem Wutgebrüll versucht, die Situation im Griff zu halten. Sebastien Jacobis schlaksiger Berg bohrt lieber die Fäuste in den Taschen seiner Anzughose, krummschultrig und kaugummikauend. Er hat es eher mit Worten als mit Taten und monologisiert etwa über die bestürzende Tatsache, dass der Tod gesellschaftlich gar nicht vorkomme und man folglich unvorbereitet sei, wenn er eintrete. Letztlich versagen vor der Leiche ihres Vaters ihrer beider Waffen, mit gefalteten Händen stehen der Macher und der Freizeitphilosoph, dünnstimmig und atemlos.

Bühnen- und Kostümbildnerin Esther Hottenrott hat das Kammerspiel in einem schäbigen Zimmer angesiedelt, mit wenigen Möbeln auf grauem Linoleum und einem brettervernagelten Fenster – eine Szenerie der Kälte und der Trostlosigkeit. Trost gibt es hier denn auch keinen, vielmehr eine Mixtur aus Fühllosigkeit und Brutalität, die aus früheren Stücken des Autors bekannt ist. Eirik und Berg überlegen, wie mit dem Vatertod zu verfahren sei, sie reinigen erst ihn, dann die Wohnung, stoßen auf Müllberge und Gedichte aus seiner Feder. Sie gehen sich an den Kragen und auf den Nerv, wagen aber nicht, die Polizei zu rufen oder den Bestatter. Mit jeder gemeinsam zu treffenden Entscheidung wird ausgehandelt, wer die Situation kontrolliert, werden etablierte Rollenmuster durchgespielt und schließlich gebrochen: Am Ende ist es Berg, der die Oberhand hat, und Eirik sein hilfloses Opfer.

Dabei bleibt die Vergangenheit im Dunkeln, die Konflikte aktualisieren sich lediglich situativ und scherenschnittartig: Wir erfahren beispielsweise, dass Berg häufig Alpträume von Spinnen hat (in der Traumdeutung stehen diese für den Vater), und Eirik davon, dass ihre Mutter wieder am Leben sei und ihm ins Gesicht sage, dass er nichts tauge. Abgesehen von solchen Einsprengseln wird innerfamiliäre Verdrängungspolitik gepflegt, die Streitgespräche und Liebeserklärungen kreisen ebenso hartnäckig wie ermüdend um ein leeres Zentrum: Man ahnt, es ist etwas geschehen, aber letztlich bleibt die Ursache des Konflikts zwischen den Brüdern unbekannt.

Entleertes Schweigen
Möglicherweise soll dies die Typisierung der "Ängstlichen und Brutalen" ermöglichen, ihre Übertragbarkeit auf andere Fälle gewährleisten. Derart geschichtslos bleibt das Geschehen leider ohne Ambivalenzen und doppelten Boden: Abgeschnitten vom Außen und gewissermaßen ohne Erinnerung entleert das Schweigen sich selbst, und das Stück wird zur hysterischen Befindlichkeitsumkreisung, zum Melodram der Jetztseitigen.

Anfangs versucht Regisseur Martin Kloepfer noch, das Melodram mit etwas Slapstick aufzulockern, doch die Scherze verlieren sich schnell und die Bühne verwandelt sich in ein Schlachtfeld. Stockmann verhärtet die Diagnose, die im Plattenbaudrama Das blaue, blaue Meer anklang: Das Leben ist sinnlos, müh- und grausam. Er könnte als verspäteter Existenzialist durchgehen, Gott ist tot, die Welt verkommen und Stockmann bleibt es, den Verfall zu notieren. In Alltagssprech und Typisierung findet aber nur Wiedergabe statt, keine Transformation, nur eindeutige Anklage, keine Doppelbödigkeit.

Jedoch muss Kunst, muss Theater mehr sein als der bloße Abbildungsversuch des alltäglichen Schreckens, von dem wir alle wissen und schweigen.


Die Ängstlichen und die Brutalen (UA)
von Nis-Momme Stockmann
Regie: Martin Kloepfer, Bühne und Kostüme: Esther Hottenrott, Licht: Johannes Richter, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Sebastien Jacobi, Thomas Huber, Manfred Thomas.

www.schauspielfrankfurt.de

 

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Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.11.2010) vergleicht Gerhard Stadelmaier Stockmanns jüngstes Werk mit "Ein Schiff wird kommen" aus dem Vorjahr. Habe in "Ein Schiff" der Tod "als Schmerz" im "Verborgenen" gehaust, nichts "Großes" von sich hergemacht, aber "unendlich Tiefes berührt", sei der Tod in "Die Ängstlichen und die Brutalen" da. "Man sieht ihn. Aber man spürt ihn nicht." Wobei der dramaturgische Grundfehler dieses Stücks darin bestehe, dass die beiden Brüder zu schwach seien, um einen Leichenbestatter herbeizurufen. Weshalb sie auch nicht stark genug seien für ein Drama. Die Figuren, schreibt Stadelmaier, "verweisen auf keine Welt, keine Wirklichkeit, nur auf sich selber". Sebastién Jacobi spiele Berg als "wuscheligen Nervenstreichler" und Thomas Huber den Eirik als "schnöselig grimassierenden Nervensäger" und beide zusammen erspielten ihren Gesichtern "handwerklich sauber" alle möglichen "Emotionsmasken". Auch habe man auf einer Bühne noch nie "so realistisch und ausführlich-peinlich gesehen", wie einem "totenärschlings" die "finalen Exkremente" abgewischt würden. Klöpfers Regie deute "so hilflos wie unaufhörlich an", dass sie sich mit einem "dramatischen Material, das aus einem Toten und zwei langweiligen leeren Gestalten besteht", auch nur "rasend" langweile, weshalb sie dauernd nach "Aufpulverungen (Video! Müllkaskaden!) giert". Ein mit "künstlerischem Feinsensorium begabtes Haus (sprich: der Intendant)" hätte seinen Hausautor vor "diesem Quark" bewahren müssen.

In der Frankfurter Rundschau (15.11.2010) fragt Peter Michalzik: Wie sollen Theater mit Uraufführungen umgehen? "Müssen sie den gesamten Text spielen, dürfen sie den Text verändern und das Stück uminterpretieren?" Gelänge die Aufführung sei fast alles erlaubt, ginge sie daneben, werde auch "die kleine Abweichung zum Ärgernis". Lese man nun "Die Ängstlichen und die Brutalen" sei "sehr deutlich zu spüren, dass da etwas arbeitet in einem jungen Autor". Man meine, "ein düsteres inneres Drama zu erahnen, einen unaufgelösten Knoten aus Wut und Verzweiflung, Hass und Hoffnung, Liebe und Lebenslust". Dieser "Dramenknoten" sei in jedem Stockmann-Stück zu erkennen, "nie aber so deutlich wie in diesem fünften". "Im hochaufgeladenen Gestammel" zünde der Autor "verschiedene katastrophal-komische Eskalationsstufen". Stockmann habe keine Angst davor, auf "Gefühle direkt zuzusteuern". Etwas "Verletzliches, Selbstbezogenes und Inbrünstiges" stecke in seinen "Emotionaldramen". Man müsste also bei der Aufführung "etwas spüren". Der Regisseur habe davon "keine Idee", bei ihm fänden sich "nicht mal Ansätze von Inbrunst". Die Regie erschöpfe sich in Hilfskonstruktionen und rühre in dem Stück herum, "statt es aufzuführen". Thomas Huber spiele sich "stellenweise" die "Seele aus dem Leib", aber man verstünde nicht, was mit ihm los sei. Sébastien Jacobi verliere sich "im Undefinierbaren, irgendwie Ausgedachten". Es fehle das "Gespür für das Ausweglose mit seiner Verzweiflung und seiner hintergründigen Komik".

In der Süddeutschen Zeitung (15.11.2010) versucht Christine Dössel zu erklären, warum
Stockmann mit seinem neuen Stück am Schauspiel Frankfurt scheitert. "Ekel und Scham" seien die "bestimmenden Gefühle und Motive" in diesem Stück, das sich von der "grotesk schwarzen Komödie" immer mehr zum "tiefenpsychologisch qual- und rätselvollen Seelendrama" entwickele. Noch stärker aber sei diese "Scheiß-Angst", die dieses Drama durchzieht, eine "existentielle, namenlose Angst" vor "dem Leben", der "Wahrheit" und vor dem jeweils "anderen", die Eirik und Berg offenbar schon seit ihrer Kindheit begleite. Was genau zwischen den beiden Brüdern einst vorgefallen ist, erfahre man nicht - das sei ein Geheimnis oder ein schwarzes Loch, in dem gegen Ende ein "großes Stück Spannung und Anteilnahme" versacke. Das Stück trete "thematisch auf der Stelle". Dringend bedürfte es eines Regisseurs, der "sensibel, aber auch stark genug" sei, um "die Abgründigkeit, das Stockfinstere von Stockmanns Innerlichkeit auszuleuchten". Bei Martin Kloepfer aber werde "jedes Gefühl, jede Situationskomik offensiv ausgestellt", werde sich "fett und breit auf alles draufgesetzt". Dabei hätten Sébastien Jacobi und Thomas Huber sicherlich "das Zeug, tiefer zu gehen, Angst nicht nur zu spielen, sondern auch zu erzeugen".

Talent? Oder doch nur Genie? fragt sich Roland Müller in der ZEIT (18.11.2010) angesichts des Frankfurter Abends, und es ist Stockmanns nachtkritik-stücke2010-Manifest gegen die Bewertungsmacht der Kritik, das diese Frage zuerst bei ihm aufwarf. Wie das aussehe, wenn das "heilige Ich" auf dem Weg zur damals von Stockmann geforderten Dramaturgie der Zukunft ins Nichts versenkt werde, könne man jetzt also in Frankfurt studieren. Die Regie sei unauffällig. Und doch bleibe Stockmanns auffälliges Talent erkennbar. Bald allerdings verirre sich der Dramatiker tief im existenziellen Niemandsland, beende seine komischen szenischen Spiele mit dem Tod und beginne stumpfe philosophische Gespräche darüber. Das also soll Stockmanns Dramaturgie der Zukunft sein? Auch wenn Stockmann es nicht wahrhaben wolle, schreibt Müller, diese Dramaturgie lasse sich bewerten, und zwar als "Murx".

 

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