Wühlen im Schicksals-Müll

von Caren Pfeil

Dresden, 20. November 2010. Die Thebaner tragen sorgsam ihre toten Kinder zu Grabe, unzählige schwarze Müllsäcke bedecken bereits die Bühne, wieder und wieder, schließlich schleifen sie nur noch entkräftet die Säcke hinter sich her, lassen sie und sich selbst einfach fallen, mitten hinein in diese düstere Landschaft aus Müllsäcken. Die Seuche hat gesiegt. Das Bild ist stark und assoziiert kalte Unlebendigkeit, Asche, Verfall und Stillstand.

Vor dem weißen Horizont taucht Ödipus auf: schwarze Hose, weiße Jacke, wie eingepasst in die Schwarz-Weiß-Grafik, die Theben sein soll. Er arbeitet sich stolpernd über die Leichen nach vorn, irgendwann hilft ihm ein weißes Taschentuch, das Ekelgefühl von den Händen zu wischen. Er ist der Herrscher, aber ihm fehlt die Stärke, die Theben jetzt nötig hat. Also brüllt er seine Hilflosigkeit in das Dekret, das Theben retten soll: der Mörder von Laios soll gefunden und verjagt werden.

In die Unschärfe gezerrt

So beginnt auf der Dresdner Bühne die Geschichte, die zu den bekanntesten Mythen der Menschengeschichte gehört. Ödipus, der den eigenen Vater tötet und seine Mutter heiratet, so wie die Götter es vorhersagen, wie es nach seinem eigenen Willen niemals geschehen soll und genau deshalb geschieht. Ödipus, der den schmerzhaften Weg der Selbsterkenntnis geht, bis er sein Selbst erkennt und sich blendet, weil er sieht. Dieser von Sophokles gedeutete Mythos hat die Jahrtausende überlebt, wie auch die Frage nach der Schuld, die wir auf uns laden, und nach dem Schicksal, dem wir nicht entfliehen können, die Jahrtausende überlebt hat.

Selten wählt eine Inszenierung die Übertragung von Hölderlin, der man anhört, dass sie ein Dichter, kein Theaterpraktiker verfasst hat. Wer sich für diese Version entscheidet, legt die Latte sehr hoch. Tilmann Köhler hat sie diesmal, um das vorwegzunehmen, mit seinem Ensemble nicht übersprungen. Er hat die alte Geschichte, die jeder kennt, bis zur Unkenntlichkeit in die Unschärfe gezerrt, ohne dass diese Unschärfe zu einer ästhetischen Qualität gerät, die der Geschichte Neues hinzufügen kann.

Schwarzer Müllsack über allem

Die Bühne von Karoly Risz ist eine klare Behauptung, ein leerer Raum mit Müllsäcken, die im Laufe der Vorstellung zu einem gewaltigen Berg getürmt werden. Über allem schwebt an einem dicken Seil ein einziger schwarzer Sack – Schicksal, Mysterium, was auch immer, vielleicht auch der Strick, an dem sich Iokaste aufhängen wird, wenn sich ihr Schicksal, das sie, es abwehrend, lange schon sieht, vollendet hat.

Zumindest dieses Rätsel löst die Inszenierung: Ödipus wird am Ende dort stehen, und es wird Wasser aus dem Sack über ihn strömen, reinigendes Wasser – Katharsis. Jetzt hat er die Erkenntnis seiner selbst hinter sich, hat sich das Orakel vollendet, dem er entfliehen wollte. Als ob eine Last von ihm genommen sei, schläft er friedlich lächelnd ein, in Embryohaltung, wie ein Kleinkind. Aber es gibt kein Entrinnen. Der neue Herrscher Kreon wird eine neue Flagge aufziehen, einen neuen, noch größeren Müllsack wird er an das Seil knüpfen und nach oben ziehen. Es ist die Schuld, die die Kinder zu übernehmen haben, auch diese Geschichte kennen wir. Antigone, die das Unrecht ihrer Brüder, der Ödipussöhne, auflösen zu müssen glaubt. Und Ödipus, unerlöst, steht an der Rampe und fragt – keine Antwort.

Viel gedacht, viel gewollt

Aber bis zu diesem zugegeben starken Schlussbild ist es ein mühsamer Weg mit einem über weite Strecken unverständlichen Text – zu oft wird er in die Müllsäcke oder aus ihnen heraus gesprochen und verhallt ungehört in den Weiten der Bühne. Vor allem aber korrespondiert der Text selten mit einer erkennbaren Haltung. Christian Friedel als Ödipus spricht gut, und auch Philipp Lux als Kreon hat sein Handwerk gelernt, sie wenigstens verstehe ich akustisch, aber ich kapitulierte vor dem Versuch zu verstehen, was sie miteinander verhandeln.

Noch unverständlicher blieb mir Lore Stefanek als Iokaste – eine schöne, interessante Erscheinung, in Bezug auf Ödipus nun allerdings überdeutlich nicht Geliebte, sondern Mutter, wenn nicht gar Großmutter – eine Haltung zu Ödipus jedoch, konnte ich – außer dass sie ihn als jungen Geliebten halten will – nicht erkennen. Als Tiresias in absichtsvoller Doppelbesetzung erfindet sie zwar eine skurrile Figur, so eine Art Clochard, der im Müll wohnt. Aber was er und Ödipus tatsächlich zu verhandeln haben, konnte nur aus der Erinnerung des Sophoklestextes hinzugefügt werden. Und dass der stark reduzierte Chor (zwei Damen, zwei Herren) sich auch mal in den Zuschauerraum setzte, machte ihn noch nicht zu einer handlungstragenden Herausforderung.

Unverkennbar ist hier viel gedacht und viel gewollt worden, blieb aber, trotz aller Bildgewaltigkeit, irgendwie im Kopf der Macher hängen, ohne sich in sinnliches Theater zu verwandeln.

 

König Oedipus
von Sophokles, in der Übertragung von Friedrich Hölderlin
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Christian Friedel, Philipp Lux, Lore Stefanek, Ina Piontek, Christian Clauß, Sophia Löffler, Benjamin Pauquet, Hannes Feßmann.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Ein Unheilsgewicht pendelte auch schon über der Ödipus-Inszenierung, die Dimiter Gotscheff im Dezember 2009 am Hamburger Thalia Theater inszenierte, nur war der Sack dort gelb statt schwarz.

 

Kritikenrundschau

Hölderlins "Ödipus"-Übertragung sei "kiloschwere romantische Literatur in höchster Kunstfertigkeit", schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (22.11.2010). Aber zumindest mit der Sprache mache die Dresdner Inszenierung "alles richtig: Sie gibt den Sätzen ausreichend Platz, um einen Moment zu stehen und verstanden zu werden, lässt immer wieder Luft für Alltagsgesten und heutige Sprechweise". Auch von Hauptdarsteller Christian Friedel ist Lemke angetan, nähere er sich der "vielschichtigen Figur" doch "ernsthaft und natürlich zugleich". Mit seiner weißen Sportjacke wirke er weniger wie ein "Königstyp" als wie ein "Jungpolitiker", einer, der "permanent zwischen Distanz und Verantwortungsgefühl" schwankt. Die Pest sei mit den schwarzen Müllsäcken "wirkungsvoll dargestellt". Allerdings bediene sich Köhler mehrerer "arg symbolischer Bilder", wie dem baumelnden Müllsack über der Bühne, "sie werden den Zuschauern wie auf einem Tablett unterbreitet". Vielleicht sei der "Holzhammer" aber einfach "nötig bei dieser Sprache, massiv bauen sich die Worte wie Mauern vor die Bilder, die das Verständnis schließlich erleichtern". Hölderlins Text erfordere eine "extrem präzise Sprechweise und perfekte Akustik", die bei der Tiefe des Bühnenraums allerdings nicht immer gegeben sei. Auch bei der Gestaltung der Figuren wäre Lemkes Meinung nach schauspielerisch "mehr drin gewesen", da bleibe Köhler bisweilen zu diffus.

Köhler nehme "das Schicksal des Einzelnen als Gleichnis für ein allgemeines Verhängnis, das nicht nur bis in unsere Tage reicht, sondern womöglich erst jetzt seine letzte Zuspitzung erfährt", schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (22.10.2010). Sein "ästhetisch dichtes Theater erklärt sich als Kunst, dadurch, dass es eben nicht aus der Verantwortung (des selbstständigen Denkens und Handelns) entlässt." Doch die "vermeintliche Beschwörung vergangener Katastrophen" seien "in ihrer minimalistischen Klarheit womöglich zu drastisch und damit emotional untauglich für vergleichsweise gut-gläubige Endzeitvisionen, um derentwillen heute immerhin schon auf den Straßen gekämpft wird."

Einen Abend, "der beinahe mehr dramaturgisch aufbereiteter Diskurs ist als packendes Theater", hat Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (26.11.2010) gesehen. Christian Friedels Oedipus sei "kaum mehr als ein hypochondrischer Milchbubi, dem man unsinniger Weise eine Metropole zum Regieren anvertraut hat". Auch der Chor der Alten sei nicht alt: "Jeweils zwei junge Frauen und Männer turnen und drängeln sich wiederholt durch die Parkettreihen (wir sind das Volk) und wollen nicht aufhören, den König zu nerven mit ihren Invektiven und mit ihrer Kritik an der verhängnisvollen Liaison." Auch, wenn sich Otten nicht klar äußert, scheint ihn der Abend doch faszniniert zu haben.

Deutlicher mit ihrem Lob wird Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.11.2010). Köhlers "konsequent entrückte Interpretation" belasse "den antiken Mythos in historischer Distanz und versucht ihn sich intellektuell-verbal anzueignen. Demgemäß hat der Regisseur die Übersetzung Friedrich Hölderlins und dessen schwierige Sprache fokussiert. Die Probleme, sie zu meistern, sind hörbar, doch auch, welche Kraft die Schauspieler aus dieser Herausforderung schöpfen." Eindrucksvoll lasse Köhler Ödipus "in seiner elementaren Polarität eindrucksvoll zu Wort kommen"; ein so harter wie glasklarer Brocken für alle Beteiligten inklusive dem Publikum sei sein konzentriertes, zweistündiges Sprech-Theater. 

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