Vier Verkorkste und eine Supernanny

von Marcus Hladek

Darmstadt, 21. November 2010. Ach, das böse Internet. Wie schlecht kommt es doch weg im neuesten Drama: als Ursache und Metapher für Wirklichkeitsverlust. Als Entfremder der Generationen. Als Sündenbock 'der' Medien. Und als Opium fürs Prekariat. Auch Bettina Erasmy segelt munter auf dieser Welle und bezieht noch das Fernsehen, die Virtualität unserer Weltkunde via Fernsehen und sogar die Plastiklebensmittel mit ein. Zum Glück gelangt sie gleichwohl über das übliche Web- und Egoshooter-Bashing hinaus.

Ein Traumspiel für unsere Zeit

Mit ihrer rätselvollen "Frau", die vom Einhorn in der Kammerspielbühne steigt, ins laue Leben von Familie Durchschnitt platzt und den "Duft dieser lieben Menschen" aufnimmt, erschafft Erasmy nämlich eine ganz besondere Figur. Ihre Kreuzung eines Fantasy-Avatars mit einer Chatroom-Traumfrau räumt in kurzer Frist ("Eine Woche später laufe ich schon ein und aus... in wenigen Wochen ist ein Liebespaar aus uns geworden...") mit allen Sprachlosigkeiten und Narben der verkorksten Vier auf und macht sich so zu ihrer Supernanny oder Mary Poppins.

Nötig haben die es allemal: der Vater ist ein arbeitsloser Rundfunksprecher und Hausmann, den die Fabrikation der Nachrichten anekelt und die Familie kaum respektiert. Die Mutter eine genervte Apothekerin, die Menschen als Störfaktor der Pharmazie definiert. Der Sohn ein Eiterherd aus Gewaltfantasien unterwegs zur politischen Doktrin; die Tochter eine beharrliche Schweigerin.

Zwar stellt sich uns die "Frau" vor ihrem Eingreifen als Escort-Lady mit "Setcard" vor und spricht vorweg von einem "Job", als wäre sie ganz von dieser Welt. Und doch ist sie eine Nachfahrin der Göttertochter aus Strindbergs "Traumspiel": eine Mitleidende, der im Trüben hier drunten nichts Menschliches fremd bleibt. Wenn sie Vater und Sohn vögeln muss, um heilend auf sie einzuwirken, tut sie es ebenso, wie sie die Tochter mit Hilfe einer kitschblauen Gipsmadonna aus ihrer Abkapselung heraushilft. In Christina Kühnreichs gelungener Verkörperung bewegt sie sich ballerinenhaft, mitunter auch staksend, und spricht ins Unschuldig-Naive verfremdet.

Jeder Mensch eine Aufgabe

Hermann Schein siedelt seine Inszenierung in einer anspruchslosen Szenerie an, die aber ihren Zweck erfüllt. Das Haus der Familie ist durchsichtig, weiße Kanten und Giebel deuten nur seine Umrisse an. Drei Türrahmen, eine Spüle links, grünes Sofa hinten rechts, Monitor und Matratze rechts vorn, in der Mitte ein Esstisch. Hinter allem steht das Einhorn mit der Frau in gerafften Röcken und weißer Strickjacke darauf (Kostüme: Veronika Bischoff). Mit dem nackten Füßlein sinnlich zur Kruppe hingestreckt, liegt sie auf dem Fabeltier, als rosa Licht sie erstmals sichtbar macht. Die übrigen Kostüme sind Alltag mit charakterisierender Note: unauffällig-militantes Olivgrün beim Sohn, etwas strengere Kleidung für die Mutter, jugendliches Outfit (Jeans, Knöchelschoner, Haare im Tuch) der Tochter.

Vom Unfrieden bei Tisch und allgemeiner Laptopperei bewegt sich das (Heilungs-)Geschehen stationsweise voran: jeder Mensch eine Aufgabe für sich – sie möge nützliche Menschen, gibt die "Frau" einmal kund. Anne Hoffmann spielt die Tochter weder als Traumatisierte noch als angewiderten Menschen, sondern als sei ihr Schweigen eine stille Reserve der Welt gegenüber. Auch wenn sie einmal sehr schön die Bewegung der "Frau" imitiert, macht diese Verhaltenheit es allerdings nicht leichter zu begreifen, wie sie ihren Schmerz an der Madonnenfigur fixiert, veräußerlicht und darüber zum Sprechen, ja zum Philosphieren findet. Karin Klein als Mutter spielt energisch deren Widerstreben gegen die "Frau" aus, aber auch ihr spätes Nachgeben, als diese sie, wund vom Sex mit dem aggressiven Sohn, um ihren Expertenrat angeht.

Virtuose Abscheu, kaleidoskopische Vielfalt

Matthias Kleinert als Vater zeigt das Ringen um Würde im Alltag ebenso virtuos wie die anfallsartige Abscheu vor dem "Machen" von Nachrichten, bevor er Apfel-essend das Schlusswort spricht. Eine tolle Rolleninterpretation liefert schließlich Simon Köslich in seinem ersten Festengagement, der als Sohn eine kaleidoskopische Vielfalt an Registern mit Anflügen von Brillanz zur Schau stellt: erst als häusliche Daueropposition, dann als auftrumpfender Prophet der Gewalt, der bald das Tänzeln der "Frau" aufgreift und sie dominant angeht, um ihr später, da sie ihm aus der Terrorismusbredouille geholfen hat, umso weicher und zugänglicher zu begegnen.

Ihre ambivalente Apotheose erfährt Scheins Familie samt Therapeutin in der doppelten Schlussszene aus abstruser Fernsehshow und grimmigem Neudurchleben des Anschlags von 9/11 auf dem Monitor. Ein sehr brauchbares Stück in mehr als routinierter Regie.

 

Supernova (UA)
von Bettina Erasmy
Regie und Bühne: Hermann Schein, Kostüme: Veronika Bischoff, Dramaturgie: Martin Apelt.
Mit: Matthias Kleinert, Karin Klein, Simon Köstlich, Anne Hoffmann, Christina Kühnreich.

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Zum Traumspiel, allerdings zum Kriegstraumspiel, neigte auch Bettina Erasmys Stück Mein Bruder Tom, dessen Tübinger Uraufführung im Dezember 2008 nachtkritik.de ebenfalls besprochen hat.

Kritikenrundschau

Eine "Göttin aus dem Cyberspace" hat Hubert Spiegel (FAZ, 23.11.2010) gesehen, eine "Echtzeit-Venus, nicht schaum-, sondern chatgeboren". Aber Bettina Erasmy habe sie außerdem noch "als ätherisches Wesen angelegt, märchenhaft unschuldig und sündhaft verdorben, eine Erlöserin". Ein "Luft- und Lustgeist" sei diese "Frau" jedenfalls, "ein wenig Lulu, ein wenig Puck und Ariel. Eine solche Figur müsste aus dem Nichts kommen und im Nichts verschwinden. Und dazwischen müsste sie aufleuchten, zerstörerisch und blendend wie ein explodierender Stern". Bei Hermann Schein sei diese Figur aber vom ersten Moment an sichtbar auf der Bühne. "Entzaubert" sei sie bereits, "bevor sie noch den Mund aufgetan hat, und wenn sie dann im schlabbrigen Raffröckchen mit Ballerinenschritten über die Bühne storcht, sieht man weder Puck noch Lulu, sondern eine Sozialpädagogin mit vorzeitig abgebrochener Zusatzausbildung in Eurhythmie". Denn "wo die Regie ein Geheimnis bewahren müsste, banalisiert sie es, und wo sie es behaupten müsste, bleibt sie es vollends schuldig".

"Es darf gelacht und gerätselt werden, aber keine Figur ist handlich", meint hingegen Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 23.11.2010). Das sei die Stärke von "Supernova", "nicht das Durchspielen verschiedener Trostmöglichkeiten oder die etwas routiniert wirkende Kritik an alten und neuen Medien". Und dass Hermann Schein "am Ende mit der entsprechenden Bebilderung das Angebot macht, die familiäre Supernova als Spiegel des 11. September zu nehmen, ist schon zu viel Erklärung".

 

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